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       # taz.de -- Feuerwaffen in Europa: Schießen bis in Ewigkeit
       
       > Die Kriege des 20. Jahrhunderts haben Europa in ein Waffenarsenal
       > verwandelt. Das Gerede über Kontrollen ist unnütz und heuchlerisch.
       
   IMG Bild: Immer schön weiter feuern. Genug Waffen und Munition sind da.
       
       Ob in Europa oder in Amerika - nach jedem tragischen Fall von mutwilliger,
       sinnloser Gewalt wie beim Amoklauf in Newtown kommt das gleiche unnütze
       Gerede über Waffenkontrolle auf.
       
       Diese Debatten versiegten bisher immer, kurze Zeit nachdem die Opfer
       beerdigt waren. Sie zeugen mehr von Unbehagen und Schuldgefühlen als von
       echtem politischem Willen. Manchmal sind sie sogar heuchlerisch, weil die
       Akteure sehr wohl wissen, dass es für eine effiziente Waffenkontrolle zu
       spät ist. Aber warum ist es zu spät?
       
       Zunächst einmal sind Waffen in den USA und einem Großteil von Europa -
       England und einige kleinere Länder ausgenommen - bereits weit verbreitet.
       In Nordamerika ist das teilweise auf eine waffenorientierte Kultur und die
       politische Tradition zurückzuführen. In Europa liegt das an den Kriegen des
       20. Jahrhunderts. Hier wurden mehrfach große Armeen bezwungen und auf
       chaotische Weise entwaffnet.
       
       Waffen wie Pistolen, Schrotflinten und Gewehre haben eine sehr lange
       Lebensdauer. Die nach 1900 gefertigt wurden, können als modern bezeichnet
       werden - nur wenige Kaliber sind in der Zwischenzeit veraltet. Werden sie
       regelmäßig gepflegt und selten benutzt, halten sie ewig.
       
       ## Der Führer hatte Angst
       
       Die europäischen Waffengesetze sind seit 1900 in den meisten Fällen eher
       locker. Es gibt eine berühmte Ausnahme: "Der größte Fehler, den wir begehen
       können, wäre es, den unterworfenen Rassen zu erlauben, Waffen zu besitzen.
       Die Geschichte zeigt, dass alle Eroberer, die ihren unterworfenen Rassen
       erlaubten, Waffen zu tragen, den Weg zu ihrem eigenen Untergang
       bereiteten", sagte Adolf Hitler zum Reichswaffengesetz vom 18. März 1938.
       Die kommunistischen Regimes folgten seinem Beispiel.
       
       Doch nach ihrem Untergang überschwemmten die Ostblockstaaten die Länder
       Europas mit Waffen. Private Schmuggler wurden praktisch vom Schwarzmarkt
       gedrängt; der berüchtigte Waffenhändler Sam Cummings klagte kurz vor seinem
       Tod 1998 bitterlich darüber.
       
       Auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien hatten wir seit 1900 zwei
       Weltkriege, zwei Balkankriege und drei Kriege zwischen 1991 und 1995. Drei
       große Armeen wurden entwaffnet: die österreichisch-ungarische Armee, die
       italienische und die deutsche Armee. Die misstrauische und waffenaffine
       Bevölkerung versteckte eine hohe Anzahl von Feuerwaffen.
       
       Ich habe oft Waffen aus dem Ersten Weltkrieg gesehen: Sie waren in bestem
       Zustand, auch wenn die passende Munition fehlte - diese war bei Bedarf aber
       erhältlich; vom Zweiten Weltkrieg und den Balkankriegen in den
       1990er-Jahren ganz zu schweigen.
       
       Polizisten, die sich mit Waffenkontrollversuchen befasst haben, schätzen,
       dass auf jede von Zivilisten registrierte Waffe mindestens fünf illegale
       Waffen kommen. Im ehemaligen Jugoslawien befanden sich etwa anderthalb
       Millionen registrierte Waffen in Händen von Zivilisten.
       
       Hinzu addiere man den Waffenüberschuss aus den Balkankriegen zwischen 1991
       und 1995, als zehntausende Waffen und Millionen Patronen großzügig an die
       Bevölkerung verteilt worden sind, sei es von der ehemaligen jugoslawischen
       Armee oder von den neu gegründeten Staaten - ohne dass ihre tatsächliche
       Zahl noch nachzuvollziehen wäre. Und auch wenn so mancher das nicht gerne
       hören mag: Es dauert nur ein paar Autostunden von Deutschland bis nach
       Slowenien oder Kroatien.
       
       ## Kriminelle zahlen besser
       
       Es gibt Möglichkeiten, eine gewisse Kontrolle über Feuerwaffen in Händen
       von Zivilisten zu gewinnen. Einmal wäre da die Legalisierung von
       Feuerwaffen, die die Bevölkerung dazu ermutigen soll, ihre Waffen während
       einer straffreien Periode zu registrieren. Doch diese Methode erzielte
       nicht die erwarteten Ergebnisse: die Leute neigen zu Zurückhaltung und
       Misstrauen, vor allem dort, wo Staat und Regierung traditionell als
       Unterdrücker wahrgenommen werden. Eine andere Methode sind die
       Aufkaufprogramme, die vom Staat und manchmal auch von internationalen
       Organisationen finanziert wurden.
       
       Leider können diese Programme preislich nicht mit dem Schwarzmarkt
       mithalten. Sie provozieren dort sogar einen Preisanstieg, weil sie
       überboten werden. Straffreiheit und Aufkaufprogramme funktionierten in den
       Balkanstaaten vor allem bei Sprengstoff, Artillerie, Mörsern, Landminen und
       schwerem Geschütz - all das für Zivilisten im Gebrauch eher unpraktisch.
       Pistolen, Gewehre und Schrotflinten werden in der Regel behalten - "für
       alle Fälle".
       
       Es ist offensichtlich, dass es hier auch um Politik geht und nicht nur um
       Tradition und Kultur. Das gilt auch für die USA. Eine Gesellschaft, in der
       nur die Armee und die Polizei bewaffnet sind, ist für relevante Teile der
       Bevölkerungen nicht attraktiv.
       
       Was aber können wir tun, um solche abscheulichen Geschehnisse wie die von
       Newtown oder Utoya zu verhindern?
       
       Die Zivilisten dieser Welt zu entwaffnen ist praktisch nicht machbar und
       politisch vielerorts Selbstmord. Die vorgeschlagenen Reglementierungen für
       kontrollierten Waffenerwerb (Lizenzen, obligatorische Registrierung,
       Einschränkung des Munitionserwerbes etc.) sind löblich, aber sie kommen zu
       spät. Es sind bereits genug Waffen und Munition für Jahrhunderte in Umlauf.
       Sogar wenn alle Waffenhersteller des Planeten die Produktion einstellen
       würden, blieben genug Waffen übrig.
       
       Vor einigen Jahren erschien eine fundierte Studie über Munition, die vom
       British American Security Information Council finanziert und von Rachel J.
       Stohl verfasst wurde. Die Autorin stellte fest, dass Kleinwaffenmunition
       eine deutlich längere Haltbarkeit aufweist als lange vermutet: bei
       angemessener Lagerung und Instandhaltung hält sie Jahrzehnte. Ich selbst
       habe Patronen aus dem Ersten Weltkrieg gesehen, die sich ohne Probleme
       abfeuern ließen. Stohl macht auf eine Tatsache aufmerksam, die sie den
       "chocking point" in der Herstellung von Munition nennt: Es handelt sich um
       den Zünder.
       
       ## Zünder aus Bulgarien schmuggeln
       
       Eine Kleinwaffenpatrone besteht aus einer Hülse, einem Projektil, Pulver
       und dem Anzündhütchen. Die meisten Länder können ein Projektil herstellen,
       einige von ihnen können eine Blech- oder Stahlhülse fertigen, wenige sind
       in der Lage, brauchbares Pulver zu produzieren, und nur eine Handvoll
       verstehen sich auf das Herstellen zuverlässiger Zünder. Wenn genug Druck
       auf diese Länder ausgeübt wird, könnte das die weltweite
       Munitionsproduktion drosseln: Als die bosnische Armee die einzige Fabrik
       des ehemaligen Jugoslawien unter ihre Kontrolle brachte, die Anzündhütchen
       produzierte, war die serbische Munitionsindustrie dazu verdammt, Zünder in
       Koffern aus Bulgarien zu schmuggeln.
       
       Bei der Herstellung von Munition ist Kontrolle also bis zu einem gewissen
       Punkt möglich. Diese Kontrolle endet, wo die Profitgier der
       Munitionsfabrikanten wie Dynamit Nobel, DuPont de Nemours oder Hirtenberger
       beginnt. Sie alle sind entweder multinationale Chemieriesen oder deren
       Tochterfirmen. Sogar die strengste Gesetzgebung würde da nicht helfen.
       
       Man möge mich beschimpfen, aber ich fürchte, dass Feuerwaffen da sind und
       es weiterhin sein werden. Mit dieser traurigen Tatsache müssen wir uns
       abfinden. Ich kenne Waffen gut, und je besser ich sie kenne, desto mehr
       hasse ich sie. Vielleicht würde es helfen, Mitgefühl, Toleranz und guten
       Willen zu fördern. Ich hoffe es zumindest.
       
       14 Feb 2013
       
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