# taz.de -- Filmfest in Venedig: Das Leben der anderen
> Neues aus der Lagunenstadt: Zufallsbekanntschaften auf dem Boot, ein
> Drama in Adelskreisen und Kannibalismus unter Ausgestoßenen.
IMG Bild: Szene aus „Une Vie“
Irgendwie stellt sich in Venedig rasch eine Art Gemeinschaftsgefühl ein.
Das Gelände ist übersichtlich, man läuft sich in den Schlangen vor den
Kinos, im Pressezentrum oder in einem der Festivalcafés über den Weg,
trifft immer wieder auf dieselben Gesichter, beginnt Zufallsbekanntschaften
mit japanischen Drehbuchberatern oder australischen Filmkritikern.
Der Australier, ein älterer Herr, erzählt etwa am Morgen im Vaporetto
unterwegs zum Lido, dass er in jungen Jahren den Sommer über immer zwei
Monate lang von Festival zu Festival gereist sei, quer durch Europa im
gemieteten Auto. Was auch für Ausflüge zwischendurch praktisch gewesen sei.
Inzwischen ist Venedig das einzige Festival, zu dem er noch anreist, weil
es ihm am besten gefällt.
Was nicht zwangsläufig für die Filme im Wettbewerb gilt. Dabei wäre
Stéphane Brizés Kino-Adaption von Guy de Maupassants Roman „Une vie“ (Ein
Leben) eigentlich ein Kandidat für einen Höhepunkt des Festivals gewesen.
Nach seinem präzise-ergreifenden Gesellschaftsporträt „La loi du marché“
(Der Wert des Menschen) vom Vorjahr waren die Erwartungen an den Franzosen
sehr hoch.
## Lügen und Leichen
„Une vie“ beginnt denn auch vielversprechend. Das von Enttäuschung und
sozialem Abstieg geprägte Leben der französischen Baronin Jeanne Le
Perthuis des Vauds erzählt Brizé in reduzierten Bildern, deren fast
quadratisches 4/3-Format mehr weglässt, als es zeigt. Er deutet die
Handlung mit knappsten Gesten an, gekonnt lakonisch zusammengestellt.
Die Protagonistin lebt ein Leben, wie es für Adlige ihrer Zeit typisch
gewesen sein dürfte: Jeanne wird mit einem entfernten Verwandten liiert,
bemüht sich, ihm leidenschaftlich zugetan zu sein, auch wenn es alles
andere als eine Liebesheirat ist.
Irgendwann ist die Kammerzofe schwanger und will den Namen des Vaters nicht
preisgeben. Die Wahrheit kommt dann eher unfreiwillig ans Licht: Es war
Jeannes Ehemann. Sie vergibt ihm – auf Drängen des Priesters.
## Irgendwas mit Kapitalismuskritik
Als ihr Mann sie schließlich mit einer befreundeten Adelsfrau betrügt,
scheint die Verzweiflung ihren Gipfel erreicht zu haben. Jeanne will mit
den Lügen, die ihr Leben umgeben, aufräumen, zugleich aber niemanden
unnötig verletzen. Die Aufdeckung des Skandals erfolgt denn auch gegen
ihren Willen – die daraus resultierende Tragödie ebenso.
Diese dramatische Wendung zeigt Brizé in statischen Aufnahmen der drei
Opfer, darunter Jeannes Gatte. Die grafisch explizite Präsentation – alle
drei Leichen weisen deutliche Schusswunden auf – wirkt in ihrer Drastik
allerdings wie ein verirrter Splatter-Moment in Brizés ansonsten eleganter
Bildwahl und bekommt dadurch etwas von unfreiwilliger Komik.
Leider geraten die Fragmente in ihrer zunehmend tristen Monotonie bald
etwas zäh, mit dem Leben Jeannes zerfällt zusehends auch der Film, und
statt Anteil an ihrem Schicksal zu nehmen, ermüdet ihr verhärmtes Gesicht
am Ende eher.
Von einem gescheiterten Werk zu sprechen, wäre allerdings übertrieben.
Verglichen mit Ana Lily Amirpours kannibalistisch dekorierter Kritik an der
US-amerikanischen Gesellschaft „The Bad Batch“ ist „Une vie“ immer noch ein
Höhepunkt.
Bei Amirpour soll die große These geschwungen werden: ein
Abschottungsszenario, in dem die Ausgestoßenen der Gesellschaft einander
verzehren, während die Privilegierten in diesem staatenlosen Territorium
außerhalb von Texas mit Drogen bei Laune gehalten und von einem dubiosen
Sektenführer (Keanu Reeves) kontrolliert werden. Die These dazu? Irgendwas
mit Kapitalismuskritik vermutlich. Die Regisseurin des stilsicheren
Vampirfilms „A Girl Walks Home Alone at Night“ kann man in „The Bad Batch“
jedenfalls kaum wiedererkennen. Diesmal reicht es bloß zur Pose.
8 Sep 2016
## AUTOREN
DIR Tim Caspar Boehme
## TAGS
DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
DIR Film
DIR Spielfilm
DIR Literatur
DIR Bucerius Kunst Forum
DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
DIR Schwerpunkt Filmfestspiele Venedig
DIR Filmfestival Venedig
DIR Filmfestival Venedig
DIR Filmfestival Venedig
DIR Filmfestival Venedig
## ARTIKEL ZUM THEMA
DIR Film „Mona Lisa and the Blood Moon“: Ein Herz für Außenseiterinnen
Ana Lily Amirpour lässt eine junge Frau mit telekinetischen Kräften
umherstreifen. Ein empathischer Blick auf das Sonderbare.
DIR Stéphane Brizés Spielfilm „Streik“: Der Markt hat ein Gesicht
Regisseur Stéphane Brizé zeigt im Film „Streik“ einen entfesselten
Arbeitskampf. Sein Hauptdarsteller Vincent Lindon ist das Kraftzentrum.
DIR Stéphane Brizés Spielfilm „Ein Leben“: Das Helle macht das Dunkle dunkler
Stéphane Brizé hat Guy de Maupassants Roman „Ein Leben“ in radikaler Form
verfilmt. Dadurch bekommt er einen ganz eigenen Rhythmus.
DIR Ausstellung im Bucerius Kunst Forum: Venedig war immer das andere
Seit Jahrhunderten arbeiten Künstler daran mit, Venedig zu einem
vermarktbaren Gesamtkunstwerk zu machen. Das hat etwas von Selbstvergottung
DIR Abschluss der Filmfestspiele von Venedig: Ein leise brüllender Löwe
Richtige Entscheidung in einem mittelmäßigen Wettbewerb: Mit „The Woman Who
Left“ hat in Venedig der stärkste Film gewonnen.
DIR Filmfest in Venedig: Dinos am Strand
US-Regisseur Terrence Malick zelebriert in Venedig das Wunder des Lebens.
Ganz ausliefern möchte man sich dem Ereignis aber nicht.
DIR Filmfest in Venedig: Die Widrigkeiten des Lebens
Elegant und absurd: der argentinische Wettbewerbsfilm „El ciudadano
ilustre“. Überraschend: „Spira mirabilis“ aus Italien.
DIR Filmfest in Venedig: Singen und springen
Sehnsucht nach der Vergangenheit zum Auftakt der Filmfestspiele von
Venedig: In „La La Land“ singen Emma Stone und Ryan Gosling
DIR Filmfest in Venedig: Multipenetration und Kinderkriegen
Sex mit Aliens: Im Schwindel der Vorstellungswelten lässt man sich im
Vaporetto über die Gewässer von Venedig gleiten.
DIR 73. Filmfestspiele Venedig: Leben und Sterben des Universums
Todesbekämpfer, Western-Remakes und sogar Hollywood-Nostalgie im Lido-Kino:
Nun beginnen die 73. Filmfestspiele von Venedig.