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       # taz.de -- Filmfestival Diagonale: Schichtwechsel in Graz
       
       > Das wichtigste österreichische Filmfestival Diagonale schaut auf 60 Jahre
       > Arbeitsmigration aus Sicht der Herkunftsländer.
       
   IMG Bild: Filmstill aus „Hallo München“
       
       Auf der diesjährigen Berlinale blieb [1][Ruth Beckermanns „Favoriten“] zwar
       leider ohne Auszeichnung. Dafür durfte der über mehrere Jahre gedrehte
       Dokumentarfilm über eine bunt gemischte Grundschulklasse im titelgebenden
       Wiener Bezirk nun eines der wichtigsten österreichischen Filmfestivals
       eröffnen:
       
       [2][Die seit 1993 erst in Salzburg und dann in Graz stattfindende
       Diagonale,] die mit breitem Fokus vom Experimentellen bis zur
       ORF-Fernsehproduktion in fünf Wettbewerben die einheimische Filmproduktion
       des letzten Jahres vorstellt. Daneben geht der Blick in zahlreichen
       Spezialprogrammen auch weiter in die Vergangenheit, während in Panels der
       Status quo der Filmlandschaft kritisch reflektiert wird.
       
       Dabei schloss die 24. Ausgabe des Festivals Anfang April mit dem
       filmhistorischen Special „Die erste Schicht – 60 Jahre Arbeitsmigration aus
       Sicht der Herkunftsländer“ einen doppelten Bogen zur Arbeit von Beckermann
       wie zur Retrospektive des Wiener Dokumentaristen Goran Rebić letztes Jahr.
       
       Dessen Kurzfilm über die Arbeitssuche seines immigrierten Vaters in den
       späten 60er Jahren („Gekommen bin ich der Arbeit wegen“, 1987) wurde auch
       dieses Jahr präsentiert. Und die krasse Mangelwirtschaft in der Klasse von
       Frau Iskudut in Wien wurde in geradezu bestürzender Parallelität schon 1975
       in dem agitatorischen Film „Analphabeten in zwei Sprachen“ von Mehrangis
       Montazami-Dabui für Berlin-Kreuzberg verhandelt.
       
       ## Filme aus und über Deutschland
       
       Auch sonst hat Deutschland in den Filmen zur „ersten Schicht“ einen
       prominenten Platz. Beklemmend, wenn wie in Krsto Papić’ „Specijalni
       vlakovi/ Sonderzüge“ die zwischen jugoslawischer und deutscher Regierung
       ausgehandelten Kontingentarbeiter von deutschen Ärzten untersucht werden
       wie auf dem Sklavenmarkt – und sonst vieles an die Jahre vor 1945 erinnert.
       
       Bemerkenswert auch, wenn unter den von Papić im Zug von Zagreb nach München
       befragten Migranten eine junge Frau ist, die sich als Einzige über die
       Reisemöglichkeit nur beglückt zeigt und von achtzehn Jahren erlittenen
       Qualen spricht – konkreter wird sie nicht. Daneben ein kritischer
       ORF-Betrag zum Thema „Gastarbeiter in Österreich“, dessen deutlich
       marxistischer Grundton heute im öffentlich-rechtlichen Programm schnell
       Anstoß erregen würde.
       
       Es ist eine schöne Idee, statt dem bei Filmfestivals üblichen Katalog mit
       Filmdaten in einem „Edition“ genannten Bändchen mit Essays dem
       Schwerpunktthema auch schriftlich Permanenz zu geben.
       
       Verantwortet wurde dies von den neuen FestivalleiterInnen Dominik
       Kamalzadeh und Claudia Slanar, die das Festival nach acht Jahren von
       Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber übernommen haben und sich in
       ihrer Präsentation als Afficionados der Diagonale seit Studienzeiten outen.
       Kamalzadeh war lange Jahre leitender Filmredakteur des Wiener Standard,
       Slanar Kuratorin für Videokunst am Belvedere21 in Wien.
       
       ## Werkschau über Lisl Ponger
       
       Bis jetzt sind weitere Veränderungen eher minimal-invasiver Natur: So wurde
       der Festivaltermin zwei Wochentage nach hinten geschoben und mit dem Museum
       für Volkskunde ein neuer Ort für Gespräche geschaffen. Und die ehemaligen
       „Personale“ wurden zur „Position“, deren einer Teil den deutschen Regisseur
       Christoph Hochhäusler vorstellte. Eine zweite Werkschau war Lisl Ponger
       gewidmet, die seit 1979 mit ihren Super-8-Filmen (und zuletzt auch ein paar
       Digitalstücken) den Blick der ZuschauerInnen zugleich verzückt und
       verunsichert.
       
       Schon früh setzt sie sich dabei in ihren Fotografien und Filmen auch mit
       der Repräsentation des Anderen auseinander, wenn sie etwa in „Déjà vu“
       exotistische Reisebilder im Ton verfremdet oder in „Phantom Fremdes Wien“
       (2004) die österreichische Hauptstadt zum Ausgangspunkt einer
       multikulturellen Weltreise macht, deren ordentliche Katalogisierung in der
       Montage dekonstruiert wird.
       
       Ein Ordnungssystem sind auch die deutschen DIN-Normen: Etwa die mehrere
       Seiten lange mit den Anweisungen zur Errichtung von Sportplätzen, die im
       Abspann von Simona Obholzers Kurzfilm „DIN 18035“ (Preis für Innovatives
       Kino) dokumentiert wird. In den Minuten davor registriert die Kamera aus
       großer Nähe und mit starker sinnlicher Präsenz im Ton, wie ohne sichtbares
       menschliches Zutun solch ein Fußballplatz aus einem Stück ungestaltetem
       Boden geformt wird.
       
       ## Personelle Verflechtungen
       
       Die Wege in der österreichischen Filmszene sind kurz. So darf der ehemalige
       Co-Festivalleiter Peter Schernhuber seit April letzten Jahres als Chef der
       Abteilung Film des österreichischen Kulturministeriums über die Förderung
       mitbestimmen.
       
       Und seine Vorgängerin Barbara Pichler leitet mit Gabriele Kranzelbinders
       deren KGP Filmproduktion GmbH und brachte in dieser Funktion den
       Dokumentarfilm „Bubenland“ von Katrin Schlösser nach Graz: Eine sehr
       direkte, persönliche und einfühlsame Begegnung mit jüngeren oder älteren
       Kerlen in der ländlichen Region Ostösterreichs, die einige ungewöhnlich
       offene Blicke in die Verletzlichkeiten des „weißen“ Mannes gestattet.
       
       Der Preis für den besten Dokumentarfilm ging aber [3][an die Wiener
       Regisseurin Helin Çelik], die in „Anqa“ in tastendem zurückhaltenden Gestus
       von den seelischen und körperlichen Verwundungen dreier Frauen in Jordanien
       erzählt. Unter den achtzehn Spielfilmen des Wettbewerbs reüssierte mit
       Martha Mechows „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“ eine deutsche
       Koproduktion mit einer Berliner Regisseurin und einem feministischen
       Roadmovie über zwei Schwestern auf Sardinien, dem die Herkunft aus dem
       Umfeld der Berliner Volksbühne an der kaum gebremsten Inszenierungslust
       anzusehen ist.
       
       11 Apr 2024
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Silvia Hallensleben
       
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