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       # taz.de -- Filmreihe im Zeughauskino: Berlin verändert sich
       
       > Sehen, wie mit dem frischen Groß-Berlin ein Modernisierungsschub durch
       > die Stadt ging: Die Reihe „Chaos und Aufbruch. Berlin 1920|2020“.
       
   IMG Bild: Bauarbeiten an Berlin: Szene aus dem Film „Bau des Rathauses Wedding“ (1928/1930)
       
       Berlin taz | Zielstrebig lässt sich das Kind mit dem Hintern direkt auf die
       Straßenbahnschienen plumpsen. Auch das wiehernde Zureden des
       Straßenbahnpferdes kann den Knirps in „Paß auf! Ein Berliner Verkehrsfilm“
       von 1928 nicht überzeugen, die Schienen freizugeben. Schließlich muss doch
       der Straßenbahnkutscher mit dem beeindruckenden Schnauzbart dran. Wischt
       dem Kind einmal pandemisch naiv mit seinem Schnauztuch an der Nase herum,
       macht ein wenig „Du, du“ und setzt das Kind um auf die Bordsteinkante.
       Schon der Film sagt: „Es war einmal“. Dann kam der motorisierte Verkehr.
       
       „Paß auf!“ klärte Berliner_innen 1928 auf über Dinge, die es im Verkehr der
       Großstadt zu vermeiden gilt. Gut 90 Jahre später darf man konstatieren,
       dass die Fähigkeiten der Berliner_innen zur Teilhabe am Verkehr der
       Großstadt nicht größer geworden sind. Der Film ist Teil der Filmreihe
       [1][„Chaos und Aufbruch. Berlin 1920|2020“, mit der das Zeughauskino die
       gleichnamige Ausstellung des Stadtmuseums Berlin] ergänzt. In fünf
       Programmen, zusammengestellt von Christine Kisorsy, umreißt die Filmreihe
       Leben und Alltag im Berlin der 1920er Jahre.
       
       Erst das Ende des Ersten Weltkriegs und das überfällige Ende des
       Kaiserreichs ließ den lang gehegten Plan von Groß-Berlin 1920 Wirklichkeit
       werden. Am 1. Oktober 1920 trat das „Groß-Berlin-Gesetz“ in Kraft. 59
       Landgemeinden und 27 Gutsbezirke wurden eingemeindet, das Stadtgebiet
       vergrößerte sich von 66 Quadratkilometer auf 878 Quadratkilometer. Das
       Wachstum der Stadt verlangte nach einer Neuerfindung Berlins auf allen
       Ebenen des Stadtlebens.
       
       „Der Teufelsreporter“ zeigt einen jungen Mann, der Karriere als Journalist
       machen will. Die Entführung von nicht weniger als dreizehn
       Millionärstöchtern auf eine Insel in der Havel scheint der Coup, der ihm
       den Durchbruch ermöglichen könnte.
       
       Das Drehbuch zu dem Film, der im Sommer 1929 uraufgeführt wurde, schrieb
       Billy Wilder, der in den Jahren zuvor selbst als Journalist gearbeitet
       hatte. Es war Wilders erstes Drehbuch und der Einstieg in eine lange
       Filmkarriere. Regie führte Ernst Laemmle, Neffe des Universal-Gründers Carl
       Laemmle, der Ende der 1920er Jahre kurzzeitig aus den USA zurückkehrte und
       eine Reihe von Filmen in Deutschland drehte, bevor er wieder in die Staaten
       ging.
       
       Eine Besonderheit der Reihe ist, dass die Langfilme, die den Kern von vier
       der fünf Programme bilden, durch eine Reihe von thematisch passenden kurzen
       Dokumentarfilmen ergänzt werden. Vor allem in diesen wird der ganze Umfang
       des Modernisierungsschubs erkennbar, der in den 1920er Jahren durch Berlin
       schubte. „Der Teufelsreporter“ zum Beispiel wird ob seiner ausführlichen
       Darstellung der modernen Kommunikationsmittel ergänzt um einen Film zum
       Haupttelegraphenamt in Berlin-Mitte, das noch in der Kaiserzeit gebaut
       wurde, aber erst in der jungen Republik die Arbeit aufnahm.
       
       Das zweite Programm widmet sich dem Sport. In Arthur Teubers „Die siebente
       Nacht“ trainiert der junge Zeitungsbote Franz für das Sechs-Tage-Rennen.
       Der Film verbindet Spielszenen und dokumentarische Aufnahmen.
       
       Gleich zwei Programme widmen sich der U-Bahn, einmal bauend, einmal fahrend
       (und singend). Carl Froelichs „Zuflucht“ von 1928 ist der vermutlich
       bekannteste Film der Reihe: Martin Falkhagen war wegen der Beteiligung an
       der Novemberrevolution aus Deutschland geflohen, nun kehrt er hungrig
       zurück. Zwei Frauen in einer Laubenkolonie haben Mitleid mit ihm. Hanne,
       die Jüngere der beiden, bietet ihm an, auf dem Sofa zu schlafen. Sie ist
       Marktverkäuferin, gespielt von Henny Porten, einem der Stars des Weimarer
       Kinos. Hanne verliebt sich in Martin, Martin findet Arbeit beim U-Bahn-Bau
       durch das Tempelhofer Feld. Froelichs „Zuflucht“ zeigt viel Berliner
       Alltag: die Märkte, den Anbau von eigenem Gemüse, das Leben in den
       Mietskasernen, in deren Wohnungen angesichts der Wohnungsnot jeder Winkel
       vermietet wird.
       
       Ganz anders Victor Jansons „Das Blaue vom Himmel“: Janson zeigt die
       singende, klingende Liebe zwischen der U-Bahn-Fahrkartenverkäuferin Anni
       und dem Postflieger Hans, der in Tempelhof stationiert ist. Wie kaum ein
       anderes Genre zelebrierten die Tonfilmkomödien der frühen 1930er Jahre
       weltweit Modernität, die deutsche Spielform der Tonfilmoperette bildete
       keine Ausnahme.
       
       Das Drehbuch voller schlagfertiger Dialoge stammt von Billy Wilder und Max
       Kolpé, die Musik von Paul Abraham. Die Reihe wird abgerundet durch ein
       Kurzfilmprogramm, das mit sechs Kurzfilmen den Abschluss der Reihe bildet.
       
       „Chaos und Aufbruch“ ist eine gute Gelegenheit, dem Berlin der 1920er Jahre
       in einer unromantisierten Form zu begegnen, die eine oder andere
       Veränderung zu beobachten, Kontinuitäten zu entdecken.
       
       15 Aug 2021
       
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