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       # taz.de -- Flucht als Geschäft: Einladung zur Erpressung
       
       > Kaum etwas fürchtet der Westen so sehr wie Geflüchtete. Für einige
       > Staaten und Firmen ist diese Angst zum Milliardengeschäft geworden.
       
   IMG Bild: Die türkische Küstenwache verhindert im September 2015 vor der Küste von Bodrum die Abfahrt eines Boots mit Migrant:innen
       
       So deutlich hatte es vorher noch keiner gesagt: „Wir können jederzeit die
       Grenzen zu Griechenland und Bulgarien öffnen und die Flüchtlinge in Busse
       setzen“, erklärte der türkische Präsident Erdoğan im November 2015 einer
       Gruppe hochrangiger EU-Beamter. „Wie wollen Sie also mit den Flüchtlingen
       umgehen, wenn Sie keine Einigung erzielen können? Sie töten?“
       
       Wenige Monate später trat [1][die „Erklärung EU-Türkei“] in Kraft: Erdoğan
       versprach, über zwei Millionen Geflüchtete in der Türkei zu halten. Dafür
       flossen EU-Milliarden in das Land und er bekam das Versprechen auf eine
       Wiederbelebung des EU-Beitrittsprozesses und die Aussicht auf
       EU-Visafreiheit für türkische Bürger.
       
       Dass Staaten Geflüchtete nutzen, um Druck auf andere auszuüben, ist nicht
       neu. Die USA und die Sowjetunion nutzten Vertreibungen im Globalen Süden,
       um die Einflusszonen der jeweils anderen zu schwächen. In Washington sah
       man Flüchtlinge als „Waffe“ im Kalten Krieg. Die arabischen Staaten setzten
       die palästinensischen Geflüchteten als Druckmittel im Kampf gegen Israel
       ein. Hutu-Milizen nutzten Flüchtlingslager im Kongo zur Rekrutierung und
       eskalierten so den Ruanda-Krieg. Auf dem Balkan war Zwangsvertreibung eine
       wesentliche Strategie in den Kriegen der 1990er Jahre.
       
       Rechtsextreme schüren im Westen seit Jahren Panik vor Geflüchteten.
       Politiker wie Friedrich Merz geben ihnen recht, wenn sie Sätze sagen wie:
       „Das größte Problem ist die illegale Migration.“ Das impliziert die
       unbedingte Notwendigkeit, das Problem aus der Welt zu schaffen. Statt wie
       2015 „Wir schaffen das“ heißt es nun: „Hier kommt keiner mehr rein.“
       Scheitert dieses Vorhaben, hat man versagt. Es ist eine Einladung zur
       Erpressung.
       
       ## Das Verhältnis kehrt sich um
       
       An der Universität Birmingham erforscht der Politikwissenschaftler
       Gerasimos Tsourapas den Zusammenhang von Vertreibung und Außenpolitik. Sie
       reiche lange zurück, sagt er. Doch der EU-Türkei-Deal von 2016 habe die
       Möglichkeiten verändert, Migrant:innen als Hebel in internationalen
       Verhandlungen und Konflikten zu nutzen. „Dass die Europäer sich auf das
       Modell eingelassen haben, hat für viele andere die Tür geöffnet.“
       
       Lange wurde darüber diskutiert, wie die EU versucht, Druck auf Herkunfts-
       und Transitstaaten zu machen, damit diese beim Grenzschutz und bei
       Abschiebungen kooperieren. Langsam kehrt sich das Verhältnis um: Wer mit
       größeren Flüchtlingsankünften drohen kann, sitzt nun am längeren Hebel.
       Geflüchtete, lange vor allem als Last betrachtet, werden in einer neuen
       Migrationsdiplomatie auch zum „Asset“, zum Kapital. Auf den Routen
       Richtung Europa oder Richtung USA werden sie zum handelbaren Gut.
       
       Tsourapas spricht von „refugee rentier states“, von Staaten also, die
       Geflüchtete als Einnahmequelle sehen. Dies kann durch offene Erpressung
       geschehen: „Gebt uns etwas oder wir treiben die Menschen zu euch.“ Oder
       kooperativ: „Helft uns, damit die Menschen bei uns bleiben können.“ Zur
       Erpressung neigten Staaten dann, wenn sie der Meinung seien, geopolitische
       Bedeutung zu haben und eine bedeutende Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen.
       Andernfalls setzten sie eher auf Kooperation. Die Grenzen sind dabei
       fließend.
       
       Kenia versuchte im Mai 2016 mit der Drohung, das damals weltgrößte
       Flüchtlingslager Dadaab zu schließen, mehr Hilfe von der internationalen
       Gemeinschaft zu erzwingen – mit vorübergehendem Erfolg. Belarus versuchte
       ab 2021 mit der [2][Schleusung einiger Zehntausend Menschen aus dem Nahen
       Osten] Richtung Polen drohende EU-Sanktionen abzuwehren, scheiterte
       allerdings. Trotzdem setzt das Land die Praxis fort.
       
       Marokko erwirkte durch Erpressung gar die Anerkennung seiner Herrschaft
       über Westsahara. 1975 hatte Marokko das Gebiet annektiert, die frühere
       Kolonialmacht Spanien weigerte sich über Jahrzehnte, dies anzuerkennen. Im
       Mai 2021 ließ Madrid den Führer der westsaharischen Unabhängigkeitsbewegung
       zu einer Krankenhausbehandlung einreisen. Innerhalb von nur zwei Tagen ließ
       Marokko rund 10.000 Menschen über die Grenze zur spanischen Enklave Ceuta.
       Spanien gab nach und erkannte die Westsahara als Teil Marokkos an.
       
       Aus Sicht Tsourapas hatte der Türkei-Deal der EU eine Anreizfunktion für
       andere Regierungen. Die sagten sich, so Tsourapas: „Die Türken haben die EU
       erpresst – warum können wir nicht dasselbe tun?“ Es gehe dabei um Geld –
       und um politische Anerkennung.
       
       2016 war der Dienst Sudans als EU-Türsteherstaat für den bis heute als
       Kriegsverbrecher verfolgten Diktator Omar al-Bashir ein Weg heraus aus der
       diplomatischen Ächtung. Auch für das Regime des ägyptischen Präsidenten
       Abdel Fattah al-Sisi gehe es bei der Kooperation mit der EU heute darum,
       Legitimität daraus zu ziehen und sich als Stabilitätsfaktor zu
       inszenieren, sagt Tsourapas. Aus Angst vor Millionen Flüchtlingen aus
       Sudan [3][und Gaza] hat die EU 2024 ein mit 7,4 Milliarden Euro dotiertes
       „Partnerschaftsabkommen“ mit Ägypten geschlossen – die bisher höchste Summe
       für einen Migrationsdeal.
       
       Doch, sagt Tsourapas, die Strategie, Staaten immer dann Geld zu geben, wenn
       dort gerade Geflüchtete unterwegs seien, sei heikel. Denn dann fehle das
       Geld für die Aufnahmeländer – und die würden nach Wegen suchen, sich weiter
       bezahlen zu lassen.
       
       Ende Februar 2020 etwa kochte die Türkei künstlich einen Grenzkonflikt mit
       der EU hoch. Damals hielten sich fast vier Millionen Geflüchtete in dem
       Land auf. Aus Sicht der Türkei hatte die EU sich nicht an ihre
       Verpflichtungen des Deals von 2016 gehalten. Die Regierung ermutigte
       Menschen demonstrativ, in die EU zu ziehen. Der damalige Innenminister
       Süleyman Soylu twitterte: „Letztendlich werden sich alle auf den Weg nach
       Europa machen.“ Tsourapas sagt: „Präsident Erdoğan wollte die europäische
       Scheinheiligkeit bloßstellen. Das ist Symbolpolitik, Soft-Power.“
       
       Diese Soft-Power aber strahlt in harte Auseinandersetzungen aus. Als
       Belarus 2021 Geflüchtete nach Polen ziehen ließ, sprachen der damalige
       Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und die EU-Kommission von einer
       „hybriden Bedrohung“. Damit sind nicht-militärische staatliche Aggressionen
       gemeint, die einen bewaffneten Konflikt flankieren oder vorbereiten können.
       Indem die EU von „hybrider Bedrohung“ sprach, erklärte sie sich selbst als
       „getroffen“. Und ermöglichte damit überhaupt erst die Nutzung von
       flüchtenden Menschen als Angriffsmittel.
       
       Die Politikwissenschaftlerin Kelly M. Greenhill forscht an der Tufts
       University in den USA. Sie sagt, es sei von „entscheidender Bedeutung, sich
       daran zu erinnern, dass die Ziele der strategisch gesteuerten Migration
       zwar meist Staaten und nichtstaatliche Gruppen sind, die wahren Opfer aber
       die Migranten oder Flüchtlinge sind“. Normen zum Schutz von Schutzsuchenden
       etwa würden erodieren. Und angesichts des „zunehmenden Widerwillens der
       Zielstaaten, ungebetene Personen aufzunehmen“, stiegen die Anreize,
       Migration strategisch auszunutzen.
       
       Das neue EU-Asylsystem Geas sieht Sonderregeln für die
       „Instrumentalisierung“ Geflüchteter vor. Sie können in solchen Fällen etwa
       leichter inhaftiert und schneller abgeschoben werden. Vielen
       sicherheitspolitischen Thinktanks gilt als ausgemacht, dass Russland zum
       Beispiel mit Migrationsbewegungen und Desinformation über die Gewalttaten
       von Asylsuchenden die EU zu destabilisieren versucht.
       
       Beim Nato-Gipfel 2022 sorgte der Gastgeber Spanien für die Verabschiedung
       eines neuen „strategischen Konzepts“. Darin ist die Rede von „bösartigen
       Angriffen“ durch „autoritäre Akteure“, die Migration instrumentalisierten.
       Russische Wagner-Söldner etwa könnten durch ihre Präsenz in der
       Sahel-Region größere Fluchtbewegungen auslösen und diese Richtung Marokko
       und Spanien leiten, warnte Spanien. Die Nato folgte.
       
       Doch inwieweit strategische Vertreibungen überhaupt funktionieren, ist
       fraglich. Staaten können Grenzen öffnen oder die Aufnahmebedingungen
       künstlich verschlechtern und hoffen, dass Menschen aufbrechen.
       Söldnerarmeen können Unsicherheit erzeugen. Das macht es wahrscheinlicher,
       dass Menschen fliehen. Sicher ist es nicht. Entsprechend sei auch die
       Wirksamkeit der Migrationsdeals begrenzt, sagt Tsourapas. Seine Forschung
       habe ergeben, dass diese Vertreibungen langfristig nicht beeinflussen
       können. Sehr wohl aber würden sich in der Folge Migrationsrouten und
       -muster verändern. „Menschen warten, passen ihre Wege an, planen um.
       Migration ist elastisch und kaum zu kontrollieren.“
       
       Das hindert eine wachsende Industrie nicht daran, mit dem Wunsch nach
       Kontrolle Milliarden zu verdienen. Das Transnational Institute (TNI) aus
       Amsterdam hat in mehreren Studien einen „grenzschutz-industriellen Komplex“
       aus Rüstungs- und Sicherheitsfirmen wie Airbus, Lockheed Martin, Palantir
       und Thales beschrieben. Sie bieten Dienstleistungen zur Grenzüberwachung,
       Biometrie, Abschiebungen und Internierung an. Sie haben ein handfestes
       Interesse am Dauernotstand an den Grenzen – und betreiben entsprechend
       nachdrückliches Lobbying. 2025 werden laut Fortune Business Insights
       weltweit 58 Milliarden Dollar mit Grenzschutztechnologie umgesetzt, 2032
       sollen es 96 Milliarden Euro sein.
       
       Tsourapas sagt: „Auf lange Sicht ist das einzige, was hilft, dass Europa zu
       seiner früheren Sicht auf Migration zurückkehrt: zu einer weniger
       alarmistischen.“ In den vergangenen 20 Jahren hätten die Populisten die
       Innenpolitik zur Migrationspanik getrieben. „Das ermöglicht die
       Instrumentalisierung erst. Den Menschen wird Angst gemacht, dann sehen sie,
       dass die Deals es nicht bringen.“ Dann könnten neue Forderungen gestellt
       werden. „Und so geht es immer weiter.“
       
       18 Aug 2025
       
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