URI: 
       # taz.de -- Flucht und Migration: Sie kommen trotzdem
       
       > Im Diskurs über Flucht übernehmen Konservative die Sprache und die
       > Forderungen der Rechten. Doch Migration lässt sich nur schwer
       > kontrollieren.
       
   IMG Bild: Für die Asylbewerberunterkunft im Dorf Upahl werden Container angeliefert
       
       Ob man nicht „das Undenkbare denken müsse“, um die Flüchtlingszahlen zu
       drücken, fragte ein Journalist diese Woche den einstigen
       [1][Bundespräsidenten Joachim Gauck]. Und Gauck, der sich als früherer
       Kämpfer gegen das DDR-Unrecht so gern als moralische Autorität verkauft,
       raunte zustimmend, die Politik müsse „neue Möglichkeiten wagen“, um dem
       „Kontrollverlust“ zu begegnen.
       
       So wird geredet, wenn Konservative den Kampf mit ihrer zunehmend
       erfolgreichen rechtsextremen Konkurrenz in der Migrationspolitik
       auszutragen versuchen. Und die Konservativen ziehen dabei den Kürzeren.
       
       2016 fand der damalige Innenminister [2][Horst Seehofer] (CSU), dass eine
       Nettoneuaufnahme von 200.000 Menschen pro Jahr „verkraftbar“ sei. Dann
       „funktioniert auch die Integration“, und die extreme Rechte bleibe klein.
       So bewarb er seine „Obergrenze“. In diesem Jahr werden es netto wohl einige
       Tausend mehr.
       
       Ist das nicht noch halbwegs „verkraftbar“?
       
       Scheinbar nicht. Vom „Kontrollverlust“, von Kommunen „am Limit“, „Grenzen
       der Leistungsfähigkeit“ ist die Rede. Und das hat nicht nur mit der
       Zusatzbelastung durch die Ukrainer:innen zu tun. Die extreme Rechte
       setzt den Ton, die Konservativen ziehen nach. Parteichef Friedrich Merz
       etwa, der mit der Geste eines Möchtegernstaatsmanns Kanzler Olaf Scholz
       anbot, dessen „Deutschlandpakt“ mitzutragen – wenn dabei als Erstes die
       Migration angegangen werde. Denn die sei das „größte Problem“.
       
       ## Sachleistungen, Grenzkontrollen? Ändert nichts
       
       Konservative reden so, weil sie bislang darauf bauen konnten, dass es ihnen
       schon zugutekomme, den bloßen Eindruck zu erwecken, irgendetwas gegen die
       Migration zu unternehmen. Aber diese Zeiten sind vorbei. Wer den Leuten
       jeden Tag erzählt, dass die Flüchtlinge ihr größtes Problem seien, nährt
       zweifellos den Wunsch nach durchschlagenden Lösungen, wenn die Zahlen nicht
       zurückgehen. Auf die Ankunftszahlen hat aber nur bedingt Einfluss, wer an
       moralischen und rechtlichen Mindeststandards festhält.
       
       Immer wieder gern fordert etwa die Union „mehr Grenzkontrollen“. Dabei wird
       jedes Mal so getan, als gelangten die Menschen ins Land, weil sie niemand
       bei der Einreise abweist. Doch es ist einerlei, wie viele Polizisten in
       Kufstein oder Bad Schandau stehen – abweisen dürfen sie Ankommende nicht,
       solange diese einen Asylantrag stellen wollen.
       
       Genauso ist es mit „Sachleistungen“, die es lange gab und die die Union nun
       wieder einführen will. Dabei glaubt niemand ernsthaft, dass Menschen
       plötzlich nicht mehr nach Deutschland wollen, weil es in den ersten Monaten
       nach Ankunft Kantinenessen statt Bargeld gibt. Deutschland bleibt,
       unabhängig davon, für viele Menschen als Ziel attraktiv: weil sie hier auf
       Arbeit hoffen, Menschen kennen, die hier, trotz allem, gute Erfahrungen
       gemacht haben, sich eine Existenz aufgebaut haben.
       
       Leistungskürzung ist eines der alten Rezepte, die Geflüchtete zwar
       schikanieren, die aber nicht dazu führen, dass sie ihre Zukunftspläne und
       Reisewege ändern. Im alten Parteiengefüge reichten sie der Union aber, um
       im konservativen Milieu zu punkten, indem sie zeigte: Wir tun was gegen die
       ganzen Flüchtlinge.
       
       Die kommen aber trotzdem. Und dann?
       
       Neu ist, dass es mit der AfD nun eine Konkurrenz gibt, die für sich in
       Anspruch zu nehmen vermag, es wirklich ernst mit dem Flüchtlingsstopp zu
       meinen. Dass dies ihresgleichen – etwa in Italien oder Österreich – nicht
       gelingt, weil sich Migration nur schwer kontrollieren lässt, spielt für
       die Wahrnehmung der AfD hierzulande noch keine Rolle. Die Union weiß das.
       Sie bleibt deshalb nicht bei den alten Rezepten stehen, sondern geht
       langsam weiter.
       
       ## Die Sprache der Rechten
       
       Es beginnt im Vokabular: Als „Invasion“ oder „Landnahme“ bezeichnen
       Rechtsextreme die Migration seit Langem. Giorgia Meloni stellte sich dieser
       Tage vor die UN und verlangte einen „globalen Krieg gegen Schlepper“. Man
       muss fast schon froh sein, dass sie nicht gleich einen globalen Krieg gegen
       Flüchtlinge forderte. Diese Art zu reden aber sickert langsam in das
       konservative Milieu ein. Begonnen hat es 2021, als Polen die Lage an der
       Grenze zu Belarus einen „[3][hybriden Krieg]“ nannte und deutsche
       Konservative diese Wortwahl übernahmen. Gaucks „Undenkbares“ fällt auch in
       diese Kategorie. Solches Reden zersetzt moralische Standards.
       
       Auf der realen Ebene sind die Folgen absehbar: beim lauter werdenden Ruf
       nach Militärschiffen, die Flüchtlingsboote in die Abfahrtshäfen
       zurückdrängen, wie Meloni es verlangt; oder bei der Bereitschaft, mit dem
       individuellen Asylrecht zugunsten von Kontingenten Schluss zu machen – die
       Gnade soll den Rechtsanspruch ersetzen. Gnädig ist aber gerade kaum jemand.
       
       Es war der damalige FPÖ-Innenminister Herbert Kickl, der diese Forderung
       auf dem EU-Innenministertreffen 2018 erstmals offiziell einbrachte: keine
       Asylanträge mehr auf europäischem Territorium; Aufnahme nur noch auf
       freiwilliger Basis. Ein Akt der Behauptung „nationaler Souveränität“ sei
       dies, ist von rechten Propagandisten zu hören. Davon würden die „wirklich
       Schutzbedürftigen“ profitieren, meinen Konservative. Die CDU-Politiker
       Thorsten Frei, Friedrich Merz und Jens Spahn dachten in diesem Jahr ebenso
       wie nun Gauck laut darüber nach, wenn auch teils Relativierungen folgten.
       
       Die Folgen würden so aussehen: Es würden trotzdem weiter Menschen ankommen,
       die teils nicht abgeschoben werden könnten. Ihnen würde das Arbeiten
       verboten, weil ja nur noch vorab Ausgesuchte bleiben dürften. Sie müssten
       also alimentiert werden. Die Kontingente für die formale Aufnahme würden
       EU-weit absehbar mickrig ausfallen, viele Länder würden wohl exakt null
       Plätze anbieten. In den Transitstaaten würden sich deshalb immer mehr
       Menschen stauen, was die EU dort kaum beliebter, sondern sie vielmehr
       weiter erpressbar machen würde.
       
       Es kommt nicht von ungefähr, dass die Nato 2022 auf Antrag Spaniens
       mögliche Massenankünfte von Flüchtlingen aus Afrika – orchestriert durch
       das dort immer stärker präsente Russland – in ihre Liste der größten
       strategischen Gefahren aufgenommen hatte. Denn die EU ist mit den
       Flüchtlingen angreifbar, solange sie daran scheitert, dem Thema die
       innenpolitische Sprengkraft zu nehmen. Lukaschenko, Erdoğan und auch
       Marokko haben vorgeführt, wie leicht Polen, Griechenland oder Spanien sich
       unter Druck setzen lassen, wenn Flüchtlinge über die Grenzen geschickt
       werden. Die Kommission will solcher „Instrumentalisierung“ Geflüchteter
       begegnen, indem sie gestattet, deren Rechte einzuschränken. Helfen wird das
       nicht. Wenn die EU Flüchtlinge zur Waffe erklärt, muss sie sich nicht
       wundern, wenn diese als solche gegen sie in Stellung gebracht werden.
       
       ## Die Ideen sind da
       
       Dabei ließe sich mit der Lage durchaus anders und besser umgehen. Ideen
       dafür gibt es viele. Angebote „zirkulärer Migration“, wie sie sogar der
       damalige CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble schon 2007 vorschlug:
       Mehrjahresvisa für junge Menschen aus Afrika, die einen Beruf lernen,
       Erfahrungen sammeln, Geld sparen können und dann zurückgehen. Wer mit
       jungen Leuten in Afrika spricht, hört oft: Genau das wär’s.
       
       Oder Patenschaftsmodelle wie „Neustart im Team“, bei dem private
       Unterstützerkreise den Menschen in der ersten Zeit nach der Ankunft helfen.
       Kommunen, die unter Bevölkerungsschwund und Leerstand leiden und
       Unterstützungsprogramme für Neuankömmlinge anbieten. Die Verzahnung
       kommunaler und zivilgesellschaftlicher Ressourcen für die Aufnahme in den
       Solidarity-Cities-Netzwerken. Im Oktober treffen sich in Brüssel
       Bürgermeister aus ganz Europa – auch aus Polen und Kroatien –, deren Städte
       sagen: Wir haben Platz.
       
       Und letztlich steht hinter all dem natürlich auch der immer dramatischer
       werdende Arbeitskräftemangel: Mehrere Hunderttausend Menschen pro Jahr
       müssten kommen, um die Lücke im Land zu füllen. Industrie- und
       Handwerksbetriebe, Kitas, Schulen und Pflegedienste – wo heute die Ausfälle
       durch den Krankenstand kaum noch aufzufangen sind, wird in einigen Jahren
       gar nicht mehr aufgemacht, wenn sich nichts ändert. Eine Chance dazu wäre
       ein echter Spurwechsel – die Möglichkeit für Asylsuchende, leichter ein
       Arbeitsvisum zu bekommen. Helfen kann, dass Deutschland nach 2015 eine
       einzigartige Infrastruktur aufgebaut hat, um Ankommende mit
       Nachqualifizierung auf dem Weg in die Arbeit zu unterstützen. Die FDP
       allerdings hat den Spurwechsel in den Ampel-Koalitionsverhandlungen stark
       erschwert.
       
       Für solche Ideen gibt es wenig Raum, wenn sich alle permanent gegenseitig
       darin bestätigen, dass die Lage „außer Kontrolle“ sei. Der Weg aus dieser
       Misere ist fürs Erste weniger in der Migrationspolitik selbst zu suchen.
       Er führt eher darüber, wie über diese gesprochen wird. Die Frage ist, ob es
       gelingt, die Überhitzung wieder abzukühlen. Das ist der einzige Weg, um
       mittelfristig überhaupt wieder über gerechtere Lastenteilung sprechen zu
       können.
       
       Die Lage nach den beiden letzten großen Flüchtlingsankünften – 2015/2016
       und 2022 die Ukrainer:innen – zeigt dies: Es kamen viele, viel mehr als
       heute. Aber es gab die Bereitschaft, konstruktiv mit der Lage umzugehen.
       Sie wurde nicht populistisch ausgeschlachtet – und konnte so gut bewältigt
       werden.
       
       Hören Sie zur neuen deutschen Asyldebatte auch den Bundestalk, den Podcast
       der taz: [4][taz.de/Bundestalk]
       
       22 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Die-These/!5828910
   DIR [2] /Seehofer-und-die-CSU-im-Wahlkampf/!5440343
   DIR [3] /Konflikt-um-Migranten/!5815165
   DIR [4] /Bundestalk
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Jakob
       
       ## TAGS
       
   DIR Asylpolitik
   DIR Migration
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR GNS
   DIR Tunesien
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Italien
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Friedrich Merz
   DIR GNS
   DIR Griechenland
   DIR FDP
   DIR Schwerpunkt Emmanuel Macron
   DIR Ampel-Koalition
   DIR Schwerpunkt Flucht
   DIR Integration
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Bootsunglück vor Tunesien: Humanitäre Krise am Mittelmeer
       
       Über 16.000 Migranten lagern seit Monaten nahe der Hafenstadt Sfax. Bei
       einem verzweifelten Fluchtversuch sind mindestens 13 Menschen ertrunken.
       
   DIR Finnisch-russische Grenze: Asylsuchende auf Fahrrädern
       
       Weil Russland etwa dreihundert Flüchtlinge durchlässt, sperrt Finnland vier
       Grenzübergänge. Russisch-finnische Familien protestieren in Helsinki.
       
   DIR Italien unter Meloni: Links in einem rechten Land
       
       Seit einem Jahr wird Italien von Rechten regiert. Die linke Szene in
       Bologna bekommt das bisher wenig zu spüren. Migranten und Frauen dafür umso
       mehr.
       
   DIR Debatte über Migration: Begrenzung ja, Schikane nein
       
       Unbezahlte Arbeit und Sachleistungen statt Bargeld für
       Asylbewerber:innen ist unmenschlich. Wege zur Begrenzung der Zahlen
       sollte man aber suchen.
       
   DIR Flucht und Migration: Unnötige Panikmache
       
       Die Bilder aus Lampedusa sind irreführend. Die Zahl der übers Mittelmeer
       Flüchtenden ist viel geringer, als die Zahl derer, die 2022 gekommen sind.
       
   DIR Solidarität auf Lampedusa: Fluchtpunkt im Mittelmeer
       
       Auf Lampedusa kommen viele Geflüchtete aus Nordafrika an, berichtet wird
       von Chaos und Überforderung. Doch dieses Bild ist einseitig.
       
   DIR Griechenlands Syriza wählt Vorsitzenden: Genosse Kasselakis übernimmt
       
       Die griechische Oppositionspartei Syriza hat ein neues Oberhaupt: Stefanos
       Kasselakis. Seine Vision ist ein progressives Griechenland.
       
   DIR Titel des „Spiegel“ irritiert: Überall wie im falschen Film
       
       Und noch eine „Migrationskrise“. Und schon wieder rücken alle nach rechts,
       die Medien und die Wirklichkeit.
       
   DIR Neue Asyldebatte: Faktenfrei und zerstörerisch
       
       Union und FDP wollen einen neuen „Asylkompromiss“ und ein geschleiftes
       Asylrecht. Wo bleibt der Aufstand zum Schutz des Grundgesetzes?
       
   DIR Diskussion um Flucht und Migration: Eine Europäische Verantwortung
       
       Innenministerin Faeser erwägt Kontrollen zu Polen und Tschechien.
       Wirtschaftsminister Habeck ist für ein Abkommen mit Herkunfts- und
       Transitländern.
       
   DIR Flüchtlingspolitik von SPD bis CDU: Im Wettkampf der Asylverschärfungen
       
       Regierung und Opposition überbieten sich mit restriktiven Plänen in der
       Flüchtlingspolitik. Das Ziel: weniger Ankünfte, mehr Abschiebungen.
       
   DIR Studie zu Bezeichnungen für Migranten: Flüchtlinge sind unerwünschter
       
       Macht es einen Unterschied für die Einstellungen gegenüber Migrant:innen,
       mit welchen Begriffen sie bezeichnet werden? Eine Studie hat das
       untersucht.
       
   DIR Petra Köpping (SPD) im Interview: „Das hat mit der AfD nichts zu tun“
       
       Sachsens Sozialministerin Petra Köpping (SPD) über Kommunen am Limit,
       Unterbringung von Geflüchteten und ihre Strategie gegen die
       Rechtsradikalen.