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       # taz.de -- Flüchtlinge in Sachsen: Das Rätsel um Schabas Al-Aziz' Tod
       
       > Vier Männer fesseln in Sachsen einen Flüchtling an einen Baum. Kurz vor
       > ihrem Prozess wird der Iraker tot im Wald gefunden. Zufall?
       
   IMG Bild: Der Tharandter Wald, Fundort der Leiche
       
       Die Luft riecht nach Erde, als der Jäger von Dorfhain an diesem Ostermontag
       in den Wald geht. Ein kühler Tag: 8 Grad, wenig Sonne, immer wieder
       Regenschauer. Er läuft querfeldein, der feuchte Waldboden federt unter
       seinen Füßen. Es ist Frühjahr im Erzgebirge; die Zeit, in der Jäger das
       Wild zählen. Der Jäger läuft und schaut. Zwischen den Rotbuchen liegt etwas
       am Boden. Etwas –. Er tritt näher. Es ist ein Mann.
       
       „In einem Waldstück bei Dorfhain hat am Montagabend ein Jagdpächter einen
       männlichen Leichnam gefunden“, meldet zwei Tage später die sächsische
       Polizei. „Der Tote trug eine Aufenthaltsgestattung bei sich, die auf einen
       21-jährigen Iraker ausgestellt war. Die Dresdner Mordkommission hat die
       Ermittlungen übernommen.“
       
       Der Mann, stellen die Polizisten fest, als sie seine Fingerabdrücke
       überprüfen, ist ihnen bekannt. Sie hatten bereits nach ihm gefahndet, weil
       er als Zeuge in einem Prozess aussagen sollte. Vor einem Jahr war er von
       vier Männern im sächsischen Arnsdorf verprügelt und anschließend an einen
       Baum gefesselt worden. Die Staatsanwaltschaft Görlitz hat Anklage gegen die
       Männer erhoben, wegen Freiheitsberaubung. In einer Woche sollte der Prozess
       beginnen.
       
       Montag, 24. April 2017, der Prozess findet statt. Schon früh am Morgen
       haben sich rechte Demonstranten vor dem Amtsgericht Kamenz versammelt.
       AfD-Politiker sind gekommen, Pegida-Sprecher, NPD-Funktionäre und
       Aktivisten der rechten 1-Prozent-Initiative. Sie halten Schilder in die
       Kameras, auf denen steht: „Zivilcourage ist kein Verbrechen“. Rechte Rocker
       aus Arnsdorf blockieren den Eingang – ihr Chef ist einer der Angeklagten.
       Als er mit den drei anderen Angeklagten das Gerichtsgebäude betritt,
       darunter ist auch der CDU-Gemeinderat Detlef Oelsner, applaudieren die
       Menschen.
       
       ## Ungeklärte Fragen
       
       Der Staatsanwalt wird von zwei Männern begleitet, die kleine weiße Knöpfe
       in ihren Ohren tragen. Es sind Beamte des Landeskriminalamts. Nachdem die
       Leiche des Irakers gefunden wurde, bekam der Staatsanwalt eine Drohmail,
       dann einen Drohanruf. Wenn er zum Prozess erscheine, sagte eine männliche
       Stimme, werde er erschossen.
       
       Eigentlich waren zehn Verhandlungstage angesetzt, aber Richter, Verteidiger
       und Staatsanwaltschaft einigen sich kurz nach der Eröffnung darauf, den
       Prozess einzustellen. Die Schuld sei gering, sagt Richter Laschewski. Und
       es bestehe kein öffentliches Interesse – an dieser Stelle hört man ein
       leises Schnauben von den vielen Journalisten im Saal. „Das Opfer hatte kein
       großartiges Interesse an der Sache“, präzisiert der Richter. „Und nun ist
       Herr Saleh leider verstorben, wir können ihn also nicht persönlich
       kennenlernen.“
       
       Die Journalisten stehen danach noch lange in Grüppchen zusammen und
       tuscheln. Wie konnte es sein, dass der Staatsanwalt erst monatelang Zeugen
       einsammelte, sie auf zehn Verhandlungstage terminierte und dann zustimmte,
       das Verfahren einzustellen? Hatte er Angst bekommen, weil er bedroht wurde?
       Und was war mit dem Iraker passiert? Dem Hauptbelastungszeugen? Er wurde
       südlich von Freital gefunden, wo die Polizei vor einem Jahr eine rechte
       Terrororganisation hochgenommen hatte. Wollte jemand verhindern, dass er
       aussagt? Wurde er von Neonazis umgebracht?
       
       Die Suche nach einer Antwort führt bis nach Sulaimaniyya, im kurdischen
       Teil des Irak. Dort kam das Opfer her.
       
       ## Schabas schämt sich
       
       Der junge Mann, den der Jäger tot aufgefunden hatte, hieß Schabas Saleh
       Al-Aziz und wurde 1995 in Sulaimaniyya geboren. Er hatte einen älteren
       Bruder und eine jüngere Schwester, ging einige Jahre zur Schule, wurde dann
       Zimmermann. Sein Vater ist Taxifahrer, der Bruder betreibt einen Obststand.
       Ein bescheidenes Leben, aber ein gutes und vom Krieg weitestgehend
       verschont.
       
       Als Schabas Al-Aziz fünfzehn Jahre alt ist, erwacht die Familie von einem
       Schrei. Schabas wird von Krämpfen geschüttelt, hat Schaum vor dem Mund.
       Dann wird er ohnmächtig. Als er wieder aufwacht, ist er schwach und
       verwirrt. Seitdem hat er diese Krankheit: Epilepsie. Die Familie geht mit
       ihm zum Arzt. Der verordnet Schabas Tabletten: Lamictal 100 mg, Loxol 100
       mg. Die Anfälle kommen trotzdem wieder, alle drei Monate ungefähr.
       
       Die Familie fährt mit ihm in den Iran, lässt Schabas dort von Ärzten
       untersuchen. Es hilft nicht. Seine Freunde machen sich über ihn lustig.
       Schabas schämt sich.
       
       Vier Jahre vergehen. Schließlich sagt Schabas Al-Aziz seinem Vater, dass er
       nach Deutschland fahren möchte. Er hofft, dass ihm die Ärzte dort helfen
       können. Im April 2015 bricht er auf. Er fährt nach Istanbul und zahlt 5.000
       Dollar an Schlepper. Die bringen ihn nach Griechenland. Von dort aus nimmt
       er die Route über den Balkan. Unterwegs hat er immer wieder epileptische
       Anfälle. Er überlebt, weil sich die Schlepper und die Mitreisenden um ihn
       kümmern.
       
       ## Epileptische Anfälle in Freital
       
       Im September 2015 erreicht er Deutschland. Schabas Al-Aziz wird nach
       Freital geschickt, in die Erstaufnahmeeinrichtung im ehemaligen Hotel
       Leonardo. In Freital sind die Kritiker der Flüchtlingspolitik besonders
       schrill und laut. Steffen Frost, Kreisrat und AfD-Bürgermeisterkandidat,
       ist einer von ihnen. Er fordert ein Ende der „fehlgeleiteten Asylpolitik“.
       
       Gegen die Unterkunft, in der Schabas Al-Aziz jetzt wohnt, protestieren
       wütende Anwohner und Rechtsradikale seit Monaten. Das Haus wird mehrfach
       angegriffen: mit Böllern, mit Steinen. Vor anderen Freitaler Unterkünften
       explodieren im Herbst Sprengsätze.
       
       In Freital nehmen Al-Aziz’ epileptische Anfälle zu. Er hat seine
       Medikamente aus dem Irak mit nach Deutschland gebracht, aber sie sind
       inzwischen aufgebraucht. Er wird jetzt alle drei Tage von Krämpfen
       geschüttelt.
       
       Elfmal muss der Krankenwagen kommen, um ihn in die Notaufnahme zu bringen.
       Eine Ärztin, die ihn damals behandelte, erzählt, dass ihre Kollegen die
       Augen verdrehten, wenn sie sahen, dass es schon wieder Schabas Al-Aziz war.
       Die Ärzte sagten, er sei ein Trinker – deshalb habe er so viele Anfälle.
       Was nicht stimmte, sagt die Ärztin. In seinem Blut hat man nie Alkohol
       gefunden.
       
       ## Tabletten für drei Tage
       
       Es war sehr schwierig für Schabas Al-Aziz, an seine Medikamente zu kommen,
       sagt die Ärztin. Wenn er aus dem Krankenhaus entlassen wurde, hatte er
       Tabletten für drei Tage. Sobald sie aufgebraucht waren, musste er beim
       Sozialamt Pirna die Kostenübernahme für weitere Medikamente beantragen. Der
       Antrag wurde oft nicht bewilligt.
       
       Schließlich erlitt Al-Aziz wieder einen Anfall, der Krankenwagen kam und
       holte ihn ab. Im Krankenhaus schickten sie ihn mit Tabletten für drei Tage
       nach Hause, danach kam der nächste Anfall. „Alle chronisch kranken
       Flüchtlinge haben dieses Problem“, sagt die Ärztin. „Ihre Versorgung
       funktioniert nur sehr eingeschränkt.“ Das behindert sie seit Jahren in
       ihrer Arbeit.
       
       So geht das einige Monate. Manchmal überfällt Al-Aziz Panik, dann greift er
       andere Bewohner an. Einmal rennt er nackt durch seine Unterkunft.
       Schließlich kommt er in die Psychiatrie. Das Amtsgericht Kamenz stellt
       fest, dass er nicht in der Lage ist, für sich selbst zu entscheiden. Ein
       gerichtlicher Betreuer soll das für ihn tun. Verantwortlich für Al-Aziz ist
       ab sofort der AfD-Politiker und Berufsbetreuer Steffen Frost.
       
       ## Der Vorfall im Supermarkt
       
       Es folgt eine unruhige Zeit. Während Schabas Al-Aziz in der Psychiatrie in
       Arnsdorf ist, wird die Unterkunft in Freital geschlossen, sein Wohnsitz
       wird nach Pirna verlegt. Die Ärztin, die ihn betreut hat, und seine Freunde
       in der Unterkunft verlieren den Kontakt zu ihm.
       
       Am 21. Mai 2016 betritt Schabas Al-Aziz den Netto-Supermarkt in Arnsdorf
       und kauft sich eine Telefonkarte. Sie scheint nicht zu funktionieren, also
       geht er zurück und versucht, mit der Kassiererin zu sprechen. Er kann ein
       paar Wörter Deutsch, ein paar Wörter Englisch, dann probiert er es auf
       Sorani, seiner kurdischen Muttersprache. Es klappt nicht. Er wird später
       seiner Familie erzählen, dass die Kassiererin Belgisch gesprochen habe.
       Wahrscheinlich kam ihm der sächsische Akzent vor wie eine andere Sprache.
       Schabas Al-Aziz will nicht gehen, bis sein Problem gelöst ist. Die
       Marktleitung ruft die Polizei.
       
       Die Frau des AfD-Politikers Arvid Samtleben beobachtet die Szene. In
       Arnsdorf gibt es schon länger Streit über eine geplante
       Flüchtlingsunterkunft, die SPD-Bürgermeisterin Angermann wird dafür immer
       wieder angegriffen. Eine halbe Stunde nach dem Vorfall im Supermarkt
       erscheint auf der rechten Facebookseite „Arnsdorf 01477 Bürgerforum –
       überparteilich“, die von Arvid Samtleben betrieben wird, ein Eintrag:
       
       „Soeben, um 13.25 Uhr, rastete ein Asylbewerber beim Netto aus. Er wollte
       seine Handykarte geladen haben, was man ihm dort nicht bieten konnte. Liebe
       Frau Angermann, lieber Gemeinderat, Sie sollten für das Ende Ihrer
       Obdachlosenunterkunft für Asylbewerber kämpfen. Machen Sie das nicht. Sonst
       gründen wir eine Bürgerwehr und nehmen das Recht in die Hand, uns selber zu
       verteidigen!“
       
       ## Gefesselt an einem Baum
       
       Schabas Al-Aziz geht etwas später noch mal in den Nettomarkt – wieder kommt
       die Polizei. Als er es am Abend ein drittes Mal versucht, wird er gefilmt.
       Ein paar Minuten lang sieht man, wie Al-Aziz mit der Kassiererin diskutiert
       und sich weigert, zwei Weinflaschen zurück ins Regal zu stellen, dann
       marschieren vier Männer in den Markt. Sie packen Al-Aziz. Als er sich
       wehrt, schlagen sie ihn zusammen und schleppen ihn nach draußen. Die Frau,
       die die Szene filmt, sagt: „Schon schade, dass man eine Bürgerwehr
       braucht.“ Dann bricht der Film ab.
       
       Eine Frau, die im Video zu sehen ist, erzählt später, wie sie nach dem
       Bezahlen aus dem Supermarkt kommt und sieht, wie Schabas Al-Aziz auf dem
       Pflaster liegt. Einer kniet auf ihm. Die Männer fesseln ihn mit
       Kabelbindern an einen Baum. Sie will nur weg, sie setzt sich in ihr Auto
       und überlegt: Was mache ich jetzt? Als Frau?
       
       Sie fährt los. Nach ein paar Metern hält sie wieder an. Erst als sie eine
       Polizeisirene hört, fährt sie weiter.
       
       Einige Menschen aus Arnsdorf glauben, dass die Aktion von Mitgliedern der
       rechten Szene inszeniert war, um der Öffentlichkeit zu zeigen, wie man sich
       gegen aufmüpfige Flüchtlinge zur Wehr setzen will. Warum sonst hätte die
       Filmerin minutenlang das völlig uninteressante Gespräch zwischen Schabas
       Al-Aziz und der Kassiererin aufnehmen sollen? Und warum hatten die vier
       Männer zufällig Kabelbinder dabei? Wer hatte den Männern überhaupt Bescheid
       gesagt? Die Angestellten im Netto waren es nicht, die Marktleitung
       distanziert sich später von dem Übergriff.
       
       ## Ein Spezialfall
       
       Eine Woche nach dem Vorfall lädt „schwerdbleede78“ das Video bei YouTube
       hoch. Es wird vor allem auf rechten Seiten geteilt. Dann greifen auch die
       Massenmedien das Thema auf. Die Staatsanwaltschaft erhebt Anklage. In
       rechten Kreisen werden 20.000 Euro gesammelt, von denen die vier Männer
       ihre Rechtsanwälte bezahlen können.
       
       Schabas Al-Aziz bekommt von dem ganzen Rummel vermutlich nicht viel mit.
       Ein Mitarbeiter der Opferberatungsstelle RAA in Dresden versucht, Kontakt
       zu ihm aufzunehmen. Er möchte Al-Aziz die Unterstützung der Organisation
       anbieten und ihn darüber aufklären, welche Möglichkeiten er als Betroffener
       hat – er könnte zum Beispiel Nebenkläger werden, damit hätte er Zugang zur
       Akte. Der Mitarbeiter bittet den Betreuer Steffen Frost, eine entsprechende
       Nachricht weiterzuleiten. Der blockt die Anfrage ab.
       
       Anfang Juli 2016 klingelt in der ehemaligen Jugendherberge von Tharandt das
       Telefon. Albrecht Reichardt, Leiter der Flüchtlingsunterkunft, hebt ab. Das
       Sozialamt in Pirna ist dran. Sie hätten da einen Spezialfall. Ob sie den
       bei ihm unterbringen könnten? Albrecht Reichardt ist gerade einen anderen
       schwierigen Bewohner losgeworden. Er seufzt – und sagt ja.
       
       Also zieht Schabas Al-Aziz nach Tharandt, in einen Nachbarort von Freital,
       der links und rechts von Waldhängen umschlossen ist.
       
       ## Eine Plastiktüte voller Medikamente
       
       Die Tharandter Herberge liegt außerhalb; an der Landstraße, die nach
       Klingenberg führt. Die Autos rasen schnell vorbei, hinter dem Haus verläuft
       die Bahnstrecke. Daneben fließt die Wilde Weißeritz. Hainbuchen rauschen im
       Wind. Schabas Al-Aziz wohnt in einem Zimmer am Ende des Flurs. Aus seinen
       Fenstern blickt er direkt in den Wald. Er schläft im unteren Abteil eines
       Stockbetts, das obere bleibt leer. Niemand will sich mit ihm das Zimmer
       teilen.
       
       Ein Pflegedienst wird eingestellt. Der soll Schabas Al-Aziz die Medikamente
       bringen, dreimal täglich. Aber als Al-Aziz nach einigen Wochen wieder in
       die Psychiatrie kommt, kündigt der Dienst. Es war wohl nicht so richtig
       lukrativ gewesen, vermutet der Heimleiter. Der Betreuer Frost organisiert
       einen neuen Dienst. Der ist der Ansicht, dass Schabas Al-Aziz selbst für
       die Medikamente sorgen müsse. Aber woher sie kommen sollen, ist unklar.
       
       Als Al-Aziz aus der Psychiatrie entlassen wird, bringt ihn der Krankenwagen
       zurück nach Tharandt. Der Sanitäter drückt dem Heimleiter eine große
       Plastiktüte voller Tabletten in die Hand. Der hat schon Feierabend und
       hängt sie an den Gartenzaun mit einem Schild für die Pfleger. Irgendjemand
       muss beides entfernt haben, denn die Medikamente kommen nie an. Wie sich
       die Pfleger beholfen haben, das weiß der Heimleiter nicht.
       
       ## Wer war schuld?
       
       Danach bekommt Schabas Al-Aziz seine Medikamente nur noch unregelmäßig. Wer
       war schuld? Der Pflegedienst habe Schabas Al-Aziz oft nicht antreffen
       können, schreibt das Betreuungsgericht Dippoldiswalde. Der Pflegedienst hat
       es mit der Versorgung von Al-Aziz nicht so genau genommen, sagt der
       Heimleiter.
       
       Schabas Al-Aziz wird unruhig. Einmal wirft er in der Nacht alle Blumenkübel
       um. Ist Hiwa Mustafa nicht da, der andere Kurde, kann sich Al-Aziz mit
       niemandem verständigen – denn er spricht kein Arabisch wie seine syrischen
       Mitbewohner. Nach ein paar Wochen zieht Hiwa Mustafa zu Freunden in Pirna.
       Schabas Al-Aziz bleibt allein zurück.
       
       Einmal will er etwas und verfolgt die junge Frau, die im Heim ihren
       Bundesfreiwilligendienst macht. Sie will mit dem Auto wegfahren, er stellt
       sich davor. Versucht sie, rechts an ihm vorbeizukommen, geht er ein paar
       Schritte nach links. Versucht sie, links vorbeizufahren, geht er nach
       rechts. Eine halbe Stunde lang geht es so, dann gibt er auf.
       
       ## Angst vor Wölfen
       
       Nach diesem Vorfall versucht der Heimleiter, Al-Aziz verlegen zu lassen.
       Wie wäre es mit einer betreuten WG im Westen, in einem Multikulti-Umfeld?,
       schlägt er dem Sozialamt Pirna vor. Die finden die Idee gut, kümmern sich
       aber nicht weiter darum.
       
       Al-Aziz lernt andere Kurden kennen. Er trifft sich mit ihnen – sie leben in
       einer alten Platte im Gewerbegebiet von Klingenberg. Der Ort liegt 14
       Kilometer südwestlich von Tharandt, der Weg führt durch den Wald. Ist
       Schabas Al-Aziz bei ihnen, fühlt er sich nicht so allein. Aber der
       Pflegedienst erreicht ihn dort nicht. Und wenn er keine Medikamente
       bekommt, kehren die Anfälle zurück.
       
       Es muss ihm in dieser Zeit sehr schlecht gegangen sein. Er ist einsam, und
       die Anfälle häufen sich, er erzählt es seinem Bruder per Videochat. Wilde
       Tiere gibt es hier, sagt Al-Aziz am Telefon, sogar Wölfe. Ab und zu
       telefoniert er auch mit einem Schwager der Familie in Nordrhein-Westfalen,
       der wie er als Flüchtling nach Deutschland kam. Der Schwager will ihn
       besuchen, er muss aber warten, bis seine Residenzpflicht aufgehoben wird.
       
       Schabas Al-Aziz selbst hat nicht besonders viel Geld zum Reisen. Der
       Betreuer Frost, der sein Geld verwaltet, hält Al-Aziz sehr kurz, erzählt
       der Heimleiter. Angeblich, weil Al-Aziz das Geld immer verschenkt. Er
       bekommt von Frost nur ein kleines Taschengeld für Essen und Zigaretten.
       
       ## Alle sind erleichtert
       
       Funktioniert die Internetverbindung nicht, ist Schabas Al-Aziz allein. Als
       das W-LAN mal wieder spinnt, geht Al-Aziz ins Büro des Heimleiters und
       beschwert sich. Die Antwort versteht er nicht. Al-Aziz greift nach dem
       Teppichmesser, das im Stiftehalter auf dem Schreibtisch steckt. Er hält es
       sich an die Kehle und schneidet sich die Haut dort auf.
       
       Albrecht Reichardt kommt aus der Verwaltung, er ist kein Sozialpädagoge. In
       diesem Moment fühlt er sich überfordert. Er ruft die Polizei und einen
       Krankenwagen. Al-Aziz kommt wieder in die Psychiatrie, diesmal bringen sie
       ihn nach Dresden-Friedrichstadt. Es ist einige Wochen vor Weihnachten. Alle
       sind erleichtert.
       
       Am 22. Dezember kommt Schabas Al-Aziz zurück. Er hat das Personal der
       Psychiatrie beschimpft, geschlagen und die Krankenschwestern belästigt. Die
       Ärzte wollen ihn wegen seiner Epilepsie in die Neurophysiologie verlegen,
       allerdings hat man dort keinen Platz für ihn. Also kommt er zurück in die
       Herberge am Tharandter Wald.
       
       Der Heimleiter wusste davon nichts. Wütend ruft er den Betreuer an und
       erreicht mal wieder nur die Mailbox. Das mit der Unterbringung sei so weit
       in Ordnung, sagt der Betreuer, als er dem Heimleiter wiederum auf den
       Anrufbeantworter spricht. Die Ärzte hätten gesagt, es bestehe kein Bedarf,
       ihn weiter unterzubringen. Er sei vollkommen orientiert. Deshalb habe er,
       der Betreuer, die Aufhebung der Unterbringung beantragt.
       
       ## Vollkommen orientiert
       
       Das Betreuungsgericht Dippoldiswalde hebt den Beschluss zur Unterbringung
       am 29. Dezember 2016 auf. Im Schreiben des Krankenhauses steht, dass der
       Patient weder akut eigen- noch fremdgefährdend ist und deshalb die
       Kriterien für eine geschlossene Unterbringung nicht mehr erfüllt seien.
       
       Schabas Al-Aziz kommt, frisch aus der Psychiatrie, aber vollkommen
       orientiert, zurück in ein Heim, das über die Feiertage keine Aufsicht hat.
       Ab wann ihn der neue Pflegedienst mit Medikamenten versorgen wird und wie
       oft, ist unklar. Auch der Heimleiter ist nicht darüber informiert. Er ist
       auch deshalb so wütend, weil niemand weiß, wie es mit Schabas Al-Aziz
       weitergehen soll.
       
       Al-Aziz sitzt über die Feiertage in seinem Zimmer, auf dem unteren
       Stockbett, er raucht Kette. Er wäre gern in der Psychiatrie geblieben –
       dort war er nicht so alleine. Der Heimleiter hat Urlaub. An Silvester
       steigt er mit seiner Frau in ein Flugzeug nach Australien, sie wollen ihre
       Tochter besuchen. Ein Monat Auszeit.
       
       Schabas Al-Aziz telefoniert an diesem Tag mit der Verlobten seines Bruders
       im Irak. Er sagt, er würde ihnen 1.500 Euro schicken für die Hochzeit.
       Woher Al-Aziz dieses Geld hat, ist unklar. Er ruft auch noch den Schwager
       in Nordrhein-Westfalen an. Sie planen ein Treffen. Der Schwager kennt
       Leute, die nach Sulaimaniyya reisen und das Geld mitnehmen können.
       
       ## Danach wird er nicht mehr gesehen
       
       Es ist das Letzte, was die Familie von Schabas Al-Aziz hört. Am 2. Januar
       trifft ihn der Pflegedienst noch einmal an und bringt ihm seine
       Medikamente. Danach wird er nicht mehr gesehen.
       
       Am 24. Januar 2017 schreibt der Betreuer Frost eine E-Mail an das Gericht
       Dippoldiswalde, dass Schabas Al-Aziz seit 14 Tagen nicht mehr in seinem
       Heim anzutreffen war. Am 30. Januar, als der Heimleiter gerade aus dem
       Urlaub zurückkehrt, meldet der Betreuer Al-Aziz bei der Polizei als
       vermisst.
       
       Die Polizisten schreiben ihn zur Fahndung aus. Sie kontaktieren die
       umliegenden Krankenhäuser und das Landratsamt. Der Wald wird allerdings
       nicht abgesucht. Zum einen, weil Schabas Al-Aziz schon mehrere Wochen
       vermisst war, schreibt ein Sprecher der Polizei. Zum anderen, weil er in
       der Vergangenheit öfter das Heim mit unbekanntem Ziel verlassen hat.
       
       Drei Monate liegt Schabas Al-Aziz tot im Wald. Erst im Schnee, dann auf dem
       weichen Waldboden. Er ist stark verwest, als der Förster ihn findet.
       
       ## „Warum passiert so etwas bei euch?“
       
       Ende April 2017 ruft ein Psychiater aus Dresden-Friedrichstadt den Vater im
       Irak an und sagt, dass Schabas Al-Aziz tot aufgefunden wurde. Das Geld und
       sein Handy sind verschwunden.
       
       „Deutschland ist doch ein entwickeltes Land. Es herrschen Recht und
       Ordnung“, sagt der Bruder per Videochat, während er an seinem Obststand in
       Sulaimaniyya steht. Im Hintergrund glänzen die Wassermelonen in der Sonne.
       „Warum passiert so etwas bei euch? Ich will nach Deutschland kommen und die
       Regierung zwingen, diesen Fall zu untersuchen.“
       
       Die Polizei sagt, es liegen keine Hinweise auf eine Straftat vor. Sie geben
       deshalb keine weiteren Auskünfte zum Todesermittlungsverfahren. Ob Schabas
       Al-Aziz überfallen und ausgeraubt wurde, wurde nicht gesondert geprüft,
       sagt der Sprecher. Sie ermitteln nur, ob er auf unnatürliche Weise zu Tode
       kam. Das sei nicht der Fall. Die Obduktion ergab, dass er erfroren ist.
       
       ## Ein unbequemer Zeuge?
       
       Es bleibt theoretisch möglich, dass sich die Polizei irrt. Dass Schabas
       Al-Aziz angegriffen wurde, bevor er erfror – aus Habgier oder weil er ein
       unbequemer Zeuge war.
       
       Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Schabas Al-Aziz starb, weil er vergessen
       wurde. Vom Staat, der ihn in der Herberge im Wald zurückließ. Vom
       Pflegedienst, der weiterfuhr, wenn Al-Aziz nicht da war. Vom Heimleiter,
       der endlich einmal abschalten wollte. Von den Ärzten, die froh waren, ihn
       los zu sein. Und von seinem Betreuer, dem AfD-Kreisrat Steffen Frost, der
       drei Wochen wartete, bis er ihn vermisst meldete.
       
       Vermutlich machte sich Schabas Al-Aziz, kurz bevor er starb, auf den Weg
       nach Klingenberg, um dort seine kurdischen Bekannten zu treffen.
       Wahrscheinlich war sein Medikamentenspiegel niedrig, weil er die Tabletten
       nur sehr unregelmäßig genommen hatte. Vielleicht erlitt er einen Anfall,
       als er durch den Wald lief, und er wurde bewusstlos, wie so oft. Er muss
       dann eine Weile im Schnee gelegen haben, so lange, bis er nicht mehr
       aufstehen konnte.
       
       Droht dem Körper eine Unterkühlung, versucht er sich zu wehren, indem er
       die Muskeln zittern lässt. Kühlt er weiter ab, unter 30 Grad, werden die
       Muskeln steif. Bewegungen sind dann kaum noch möglich, das Denken
       verlangsamt sich. Das Herz schlägt nur noch zwei-, dreimal pro Minute.
       Sinkt die Temperatur unter 20 Grad, stirbt der Mensch.
       
       Es war kalt im Januar 2017. In diesen Tagen fiel die Temperatur auf minus
       20 Grad.
       
       13 Jul 2017
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Steffi Unsleber
       
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