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       # taz.de -- Flutkatastrophe in Westdeutschland: Warnungen bitte warten
       
       > Das Mobilfunknetz fiel aus, der Rundfunk informierte nur sparsam. Nur
       > langsam gelangten Infos an die Betroffenen. Technisch ginge da mehr.
       
   IMG Bild: Aus dem Schleifermuseum Balkhauser Kotten in Solingen gerettetes Inventar
       
       Der Schock über die verheerende Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und
       Rheinland-Pfalz ist noch frisch, und für dieses Wochenende sind weitere
       starke Regenfälle in der Region angekündigt. Dringend stellt sich die
       Frage, [1][wie die Bevölkerung in der Flutnacht besser hätte informiert und
       geführt werden können]. Warum es keine unmissverständlichen Warnungen gab.
       Warum öffentlich-rechtliche Sender ihr Programm [2][nur spärlich
       unterbrachen.] Ein Leser aus dem Landkreis Ahrweiler schreibt der taz, man
       habe in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli verzweifelt vor dem Radio
       gesessen und auf Tipps und Ratschläge gewartet. Doch es seien nur
       Katastrophenberichte gesendet worden. In den letzten Tagen ist die
       Verantwortung mehrfach hin- und hergeschoben worden. Zum Deutschen
       Wetterdienst, zum Bundesamt für Bevölkerungsschutz, zum Rundfunk, zur
       Politik.
       
       Kritik ertönte schnell am Westdeutschen Rundfunk. Auf dessen
       reichweitenstärkster Radiowelle WDR 2 lief in der Nacht vom Mittwoch auf
       Donnerstag, als sich die Lage im Westen zuspitzte, die „ARD-Popnacht“.
       Dasselbe auf der meistgehörten Welle im Südwesten, SWR 3. Die „Popnacht“
       ist ein von der ARD zentral produzierter Lückenfüller für die Stunden
       zwischen Mitternacht und 5 Uhr. Mehr Information gab es auf den weniger
       gehörten WDR- und SWR-Sendern – jedoch gemessen an der Lage spärlich:
       Nachrichten im 15-Minutentakt auf WDR5 etwa. Der SWR machte in der Nacht
       zwei Schalten und eine Sondersendung am frühen Morgen.
       
       Im Nachhinein eine Fehlentscheidung, [3][erklärte der WDR diese Woche
       zerknirscht]. Fügte aber auch hinzu, dass man wegen der Flut selber mit
       begrenzten Ressourcen und ausgefallenen Studios gearbeitet habe. Der SWR
       betont, dass sich „das Ausmaß der Katastrophe erst im zeitlichen Verlauf
       gezeigt habe“.
       
       So schnell und unvermittelt kam die Katastrophe allerdings nicht. Die
       Warnung des Deutschen Wetterdienstes mit Status „extreme Unwetter“ für das
       Gebiet [4][lag am Dienstagmorgen vor]. Zwei Tage Zeit zum Aktivieren eines
       Katastrophenprotokolls in der Redaktion. Wenn man denn eines hätte.
       
       ## Infos zurückhaltend ausgespielt
       
       Sicher haben die Journalist*innen und Teams, die in der Unglücksnacht
       im Dienst waren, nicht Däumchen gedreht. Aber die Informationen wurden zu
       zurückhaltend ausgespielt. [5][Oft läuft der öffentlich-rechtliche Rundfunk
       bei einer akuten Gefahrenlage zu langsam an]. Hauptprogramme werden kaum
       oder gar nicht unterbrochen. Man berichtet, aber man „führt“ nicht. Eine
       Welle, wo ein Informationsstand in Dauerschleife wiederholt wird, wo man
       also, egal wann man einschaltet, Antworten auf die drängendsten Fragen
       bekommt, fehlte.
       
       Tatsache scheint zu sein, dass uns Unwetterkatastrophen jetzt häufiger
       ereilen werden. Tatsache ist auch, dass die „Infrastruktur Information“
       darauf nicht vorbereitet ist. [6][Ein sogenanntes Cell-Broadcasting,
       umgangssprachlich „Warn-SMS“], wie es in vielen Ländern üblich ist, war in
       Deutschland bisher nicht vorgesehen. Stattdessen setzte man auf Warn-Apps,
       die erst installiert werden müssen. Der Ansatz scheint zu sein, dass die
       Menschen bitte zu den Infos zu kommen haben, nicht die Infos zu den
       Menschen.
       
       Bei der Informationspolitik im Notfall muss man unterscheiden zwischen
       Warnen und Führen. Im Warnfall wissen die Menschen noch nicht von der
       Notlage, haben die Geräte noch nicht in die Hand genommen. Hier müsste
       schnell und auf mehreren Wegen gewarnt werden. Sirenentöne kombiniert mit
       Cell Broadcasting aufs Handy und Durchsagen im Radio. Cell Broadcasting
       darf jetzt nicht im Übereifer als einzige Lösung gepriesen werden. Denn der
       Mobilfunk, wie die Krise gezeigt hat, ist anfällig für Schäden. „Warn-SMS“
       mögen bei überlasteten Netzen noch durchkommen, bei Vollausfällen nicht.
       
       Mobilfunk wird bisher terrestrisch über lokale Funkmasten gesendet. Diese
       haben je eine Reichweite von einigen Kilometern. Wenn ein einzelner Mast
       ausfällt, ist das weniger schlimm. Wenn aber Hunderte Masten in einem
       relativ engen Gebiet keinen Strom mehr haben, weil sie im Wasser stehen,
       dann bricht der Mobilfunk zusammen und entsprechend auch das mobile
       Internet. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz ist das vergangene
       Woche so gekommen. Deshalb kann ein Warnsystem aufs Handy immer nur ein
       Teil einer Informationskette für den Notfall sein.
       
       ## Dauerhaftes Notprogramm im Radio wäre wichtig
       
       Sicherer als die Mobilfunkmasten sind in der Regel die Sendestationen des
       Rundfunks mit ihren UKW- und DAB-Signalen. Sie haben eine größere
       Reichweite als der Mobilfunk, entsprechend gibt es weniger von ihnen. Das
       heißt zwar: Wenn einer ausfällt, ist es schlimmer als beim Mobilfunk.
       Dieser Fall ist aber unwahrscheinlicher, weil Rundfunkmasten besser gegen
       Ausfälle geschützt sind, etwa per Notstrom.
       
       Ohnehin kommt neben dem Handy vor allem dem Radio im Notfall eine besondere
       Bedeutung zu. Radios sind in fast allen Haushalten vorhanden, sind häufig
       batteriebetrieben. Entsprechend wichtig wäre es, dass im Notfall die
       Rundfunkanstalten sofort auf ein dauerhaftes Notprogramm umschalten.
       
       Noch mehr Möglichkeiten für den Warnfall bieten die neueren Digitalradios,
       die nach DAB+-Standard empfangen. Bernhard Niemann ist Wissenschaftler am
       Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen. Niemann leitet
       dort die Abteilung „Breitband und Rundfunk“. „Beim digitalen Rundfunk kann
       ich neben Audio wie Sprache und Musik auch Daten übertragen“, sagt Niemann.
       So könne man etwa lesbaren Text auf dem Display anzeigen, und so etwa auch
       in mehreren Sprachen informieren. Zudem forscht das Erlanger Institut an
       einer so genannten Notfall-Warnfunktion (EWF), die bei Digitalradios
       möglich ist. Geräte, die sich im Standby befinden, ließen sich damit im
       Warnfall von fern anschalten. „Ein Gerät im laufenden Betrieb kann außerdem
       auf den relevanten Sender umgestellt werden“, sagt Niemann. „Bisher muss
       man stattdessen das Programm in allen laufenden Radiosendern unterbrechen.“
       
       Ist die Warnung erfolgt und die Bevölkerung sensibilisiert, dann geht der
       Bedarf über ins „Führen“. Konkrete Handlungsanweisungen, Telefonnummern,
       Tipps in Dauerschleife. Das wäre die Aufgabe des Rundfunks. Gäbe es die
       EWF-Funktion schon, könnte eine Welle bestimmt werden, auf die alle
       örtlichen Sender dann umschalten. Da Digitalradios viel schneller Batterien
       leerfressen als die alten UKW-Radios, wäre zusätzlich zu prüfen, ob
       UKW-Wellen für den Notfall beibehalten werden können.
       
       ## Sich der Verantwortung bewusst werden
       
       Bisher scheint das Land auf all das nicht vorbereitet. Der Mobilfunk ist
       wetteranfällig. Der Rundfunk ist zwar relativ stabil, aber die Sender nicht
       in der Lage oder nicht willens, schnell auf Katastrophenhilfe umzuschalten.
       Eine redundante Struktur, also mehrere Sendewege, die parallel warnen,
       existiert nicht.
       
       Gegenwärtig sieht Bernhard Niemann auch ein Problem darin, dass für den
       Hausgebrauch fast ausschließlich terrestrisch gesendet wird. Eine relativ
       neue Idee in der Entwicklung sei deshalb, Satellitensignale ins
       Mobilfunknetz zu integrieren. Diese könnten „einspringen“, wenn die
       Mobilfunkmasten am Boden ausfallen. „Die Satellitenkomponente wäre eine
       optimale Ergänzung“, sagt Niemann. „Satelliten fliegen sehr hoch und haben
       eine große Abdeckung in der Fläche.“
       
       So wäre auch das Versenden von Warn-SMS an alle Handys in einer bestimmten
       Gegend nicht mehr abhängig davon, ob die Mobilfunkanlagen am Boden noch
       trocken stehen. Allerdings laufen Satellitentelefone bisher mit einem
       komplett anderen Übertragungsverfahren als gewöhnliche Handys. Ziel sei,
       beide kompatibel zu machen. Niemann kann sich vorstellen, dass das in den
       nächsten fünf bis zehn Jahren in Form eines Updates des aktuellen
       5G-Standards Wirklichkeit wird. In fünf bis zehn Jahren kann es aber noch
       zu mehreren Katastrophen ähnlichen oder schlimmeren Ausmaßes kommen.
       
       In der Zwischenzeit arbeiten andere daran, die Auswirkungen von Fluten,
       Erdbeben oder Stürmen immer besser vorherzusagen und automatisch zu warnen.
       Der Datenkonzern Google erprobt in Indien und Bangladesch Software, die mit
       Machine Learning, also künstlicher Intelligenz, Überflutung modellieren,
       voraussagen und von sich aus warnen kann. Direkt aufs Handy.
       
       Trotzdem gibt es Argumente gegen voll automatisierte Warnsysteme in der
       Hand von privaten Anbietern. Aus gutem Grund ist Rundfunk in Deutschland
       dezentral organisiert und unabhängig von staatlichen und gewerblichen
       Interessen. Im Notfall müsste die Devise lauten: Behörden warnen, der
       Rundfunk führt. Beide Stellen müssen sich offensichtlich dieser
       Verantwortung wieder bewusst werden.
       
       23 Jul 2021
       
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