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       # taz.de -- Folgen von Künstlicher Intelligenz: Ohnmacht durch KI
       
       > Künstliche Intelligenz dürfte die Menschheit schneller verändern als die
       > Entdeckung des Feuers. Es geht um Grundfragen: Wer wollen wir sein?
       
   IMG Bild: „In den Tiefen meiner Fluten formten sich seine Gedanken,…“
       
       Natürlich habe auch ich [1][Chat-GPT] ausprobiert. Am schönsten war es, als
       ich den Rhein eine Laudatio auf Heinrich Heine habe halten lassen: „In den
       Tiefen meiner Fluten formten sich seine Gedanken, seine Inspiration und
       seine künstlerische Leidenschaft. Ich hatte das Privileg, seine Wiege zu
       sein, seine musikalische Begleitung während seiner Jugendjahre entlang
       meiner Ufer … Aber Heine sah mich nicht nur als romantische Kulisse,
       sondern auch als Symbol für politische Macht und soziale Konflikte.“ Wow!
       
       Die Freude an solchen unterhaltsamen Spielchen, mit denen man viel Zeit
       verdaddeln kann, verging mir, als ich das Video einer Sitzung des US-Senats
       ansah. Der Vorsitzende, [2][Senator Richard Blumenthal], umriss in einer
       einleitenden, pointierten Rede einige der Probleme der künstlichen
       Intelligenz. Er tat es mit ruhiger Stimme – und mit geschlossenem Mund.
       Denn er hatte Chat-GPT um diese Einleitung gebeten, und die Stimme hatte
       das Computerprogramm aus dem Rohmateral früherer Senatssitzungen geklont.
       
       „Stellen Sie sich vor“, sagte Blumenthal, „ich hätte das Programm gebeten,
       mit meiner Stimme die Kapitulation der Ukraine zu fordern oder Putin zu
       unterstützen …“ Seine Konsequenz: Wir sollten nicht noch einmal den
       Zeitpunkt für wirksame Kontrollen verpassen, wie bei Social Media. Und Sam
       Altman, der Erfinder von Chat-GPT, bat die Regierung um eine Agentur zur
       Regulierung der Technik.
       
       Das zweite Erlebnis, nicht weniger spooky: der Auftritt von [3][Sascha
       Lobo] auf der OMR („Online Marketing Rockstars“)-Konferenz von 70.000
       Influencern und Online-Marketeers in Hamburg. Auch Lobo konnte sich den
       Klon-Trick mit einem Grußwort von Olaf Scholz nicht verkneifen, aber dann
       war, eine halbe Stunde lang, seine gemäßigt hysterisierte Botschaft an die
       Gemeinde: Ihr wart die Pioniere der Social Media, ihr müsst jetzt die
       Entwicklung vorantreiben, KI in jeden Winkel bringen, damit „Deutschland
       auch noch in zwanzig Jahren ein reiches Land“ ist.
       
       ## Jeder hat persönlichen KI-Influencer
       
       Lobo mokierte sich über die Bedenkenträger, die mit den Fakes und Bots das
       Ende der Demokratie, gar der Zivilisation kommen sehen, und blickte in eine
       lichte Zukunft, in der jeder seinen persönlichen KI-Influencer hat, eine
       „Person“, die das Intervall zwischen Wunsch und Bestellung radikal
       verkürzen könnte. Die Chinesen seien uns weit voraus, auch weil sie
       „großartige, fantastische“ Datenmengen aus den privatesten Chatbots ihrer
       Bürger abgreifen können, was hierzulande „manche Menschen ein bisschen
       verstört“.
       
       Und deshalb: Gehet raus und überzeugt die Menschen, das zu beschleunigen,
       was ihr gerade mal ein wenig und sie noch gar nicht verstehen. Die
       Versammlung der kapitalistischen Zukunftsfreunde; die Furcht von Politikern
       vor einer Entkernung demokratischer Verfahren; die Angst von Militärs vor
       dem automatisierten Drohnenkrieg; die Verschärfung von Wahn und Fake in den
       Social Media – all das füttert meine Ohnmachtsgefühle.
       
       Und ich bin umgeben von Menschen, denen es auch so oder ähnlich geht, und
       das sind nicht nur Rentner. Viele, die sowohl mit der Technik wie mit den
       Regulierungsversuchen vertrauter sind als ich, sind überzeugt, dass die
       Schwelle, über die „wir“, die Menschheit also, in globaler Gleichzeitigkeit
       gehen, ungefähr die Größenordnung des Übergangs zur Alphabetisierung, wenn
       nicht gar zur Sesshaftigkeit hat, nur nicht so allmählich wie die
       Ausbreitung von Feuer, Schrift und Webstuhl.
       
       Und während Kulturkritiker und Soziologen noch versuchen zu begreifen, was
       da geschieht, werden die Claims gesteckt: in der globalen Privatisierung
       der digitalen Infrastrukturen, im „Chip War“ zwischen den beiden
       Supermächten. Die KI-Revolution ist global, sie erfordert eine globale
       Kontrolle – der Satz ist wirkungsloser als die Beschlüsse der Pariser
       Klimakonferenz. Europa humpelt hinterher, auch das ist ein Allgemeinplatz
       ohne Folgen. Belastbare Ahnungen vom Umfang kommender Arbeitslosigkeiten
       gibt es so wenig wie Ideen über ihre Kompensation.
       
       ## Womöglich hilft Hölderlin
       
       Politische Metaphysiker halten sich an Hölderlin: Wo aber Gefahr ist,
       wächst das Rettende auch. Ja, es stimmt: Eine Bewirtschaftung der Erde für
       10 Milliarden Menschen, die noch ein paar Schmetterlinge und Urwälder übrig
       lässt, werden wir nur mit viel KI hinkriegen, mit smarten Gesellschaften,
       mit kollektiver Verhaltenssteuerung durch jede Menge Apps auf jeder der
       Milliarden Smartphones und Smart Watches auf Erden. Rückwärts nimmer und
       vorwärts im Nebel; wenn’s gut geht, mit politischen und nicht nur
       profitorientierten Lotsen.
       
       Auf kurze Sicht brauchen wir deshalb Gewerkschafter und Ministerien, die
       dafür sorgen, dass die Gesellschaften nicht zerfallen: in eine neue Elite
       von Technokapitalprofiteuren und Start-up-Vitalisten und eine sprachlose
       Masse von Konsumenten. Auf mittlere Sicht geht es, wenn’s gut geht, darum,
       für einiges neue Formen zu finden, was wir mal als Abendland, Europa,
       Demokratie, Humanismus oder „den Reichtum Deutschlands“ bezeichnet haben.
       Wer organisiert die Pep Speeches dafür?
       
       Vor einem halben Jahrhundert, so wird erzählt, blickten sich in Seattle
       zwei pickelige 17-Jährige an: Glaubst du wirklich, dass eines Tages das
       gesamte Wissen der Welt aus der Steckdose kommt, fragte [4][Bill]. Und Paul
       sagte: Ja, das glaube ich. Und dann lachten beide und sagten: „Dann werden
       wir sehr, sehr reich werden.“ Wissen und Wollen oder Geld – darum geht es
       auch am Anfang dieser Epoche. Und darum, wer „wir“ seien wollen und wie
       viele. Wie „wir“ mit dem Wissen der Welt, der Vergangenheit, den
       jahrtausendalten Hoffnungen umgehen wollen.
       
       Darüber wäre zu beraten, in allen Städten und Firmen und Schulen – und an
       allen Küchentischen. Vor ein paar Tagen haben hundert Verbände hundert
       Milliarden für Bildung gefordert. Haben Sie heute davon noch etwas gehört?
       Vielleicht hilft ja wirklich nur noch Festkleben.
       
       7 Jun 2023
       
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