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       # taz.de -- Foto-Ausstellung im Münchner Stadtmuseum: Gebäude wie Planeten
       
       > Brutalismus ist nicht nur Ästhetik, die Architektur strebte auch
       > lebenswerte Räume für viele an. Fotograf Eli Singalovski hält sie auf
       > seinen Fotos fest.
       
   IMG Bild: Sieht unwirklich aus, ist aber gebaute Architektur in Be'er Sheva, Israel
       
       Die Schwarzweißbilder des israelischen Fotografen Eli Singalovski sind
       Porträtaufnahmen, nicht von menschlichen Gesichtern, sondern von Gebäuden.
       In der Ausstellung „Sunbreakers“ im Münchner Stadtmuseum lässt sich gerade
       eine Auswahl jüngster Arbeiten des Fotokünstlers besichtigen, die der
       38-Jährige größtenteils in seiner Heimatstadt Be’er Sheva und deren
       unmittelbarer Umgebung angefertigt hat.
       
       Anders als die Kulturmetropole Israels, Tel Aviv, und deren
       Bauhaus-Architektur gilt Be’er Sheva mit seinen rund 200.000
       Bewohner:innen [1][am Rande der Wüste Negev] nicht gerade als Hort
       auserwählter Baukunst. Doch wie Eli Singalovskis gestochen scharfe
       Digitalbilder zeigen, ist die abgeschiedene Stadt im Süden Israels ein
       architektonisches Highlight. Zumindest, wenn man Sinn für eine gewisse
       ruppige Form der Ästhetik besitzt.
       
       Singalovski widmet sich in seiner Fotokunst nämlich den [2][Bauten des
       Brutalismus], eines Architekturstils, der heftig polarisiert. In Israel und
       andernorts. Viele lehnen die wuchtigen Betonbauten ab. Bezeichnen sie als
       monströs, hässlich oder gar inhuman. Andere – davon zeugen zahllose
       architekturaffine Instagram-Accounts – feiern sie genau wegen ihrer
       selbstbewusst-kantigen Formensprache, die nichts beschönigt oder hinter
       Schnörkeln zu verbergen versucht.
       
       Die Ausstellung SOS Brutalism des Frankfurter Architekturmuseums brachte es
       2015 mit dem Slogan „Rettet die Betonmonster“ ziemlich treffend auf den
       Punkt. Häufig sind die vornehmlich in den [3][60ern und 70ern entstandenen
       Bauten] heute restaurierungsbedürftig und viele ziehen es vor, sie einfach
       gleich abzureißen.
       
       ## Brutalismus in Israel
       
       Von Großbritannien und der Arbeit des Architekt:innen-Paars Alison und
       Peter Smithson aus hat der Brutalismus seine Spuren auf der ganzen Welt
       hinterlassen. Bei seinen Designs ließ sich das Paar von den modernistischen
       Großprojekten des schweizerisch-französischen Architekten Le Corbusier
       leiten.
       
       Als Erkennungszeichen Nummer eins des Brutalismus gilt jedoch der rohe,
       unverputzte Sichtbeton – das Material der Wahl vieler seiner
       Architekt:innen. Doch beim Brutalismus handelt es sich nicht nur um eine
       Ästhetik, um einen reinen Stil. Die klaren, freisinnigen Formen folgen
       immer auch dem Gedanken, möglichst lebenswerte Aufenthalts- und Wohnräume
       für eine große Zahl von Menschen zu schaffen. Seinen Niederschlag findet
       dieser Impetus in Sozialbausiedlungen weltweit.
       
       In Israel ist der Brutalismus dann auch verknüpft mit dem
       zionistisch-sozialistischen Staatsprojekt, das seit der Staatsgründung 1948
       einen stetigen Bevölkerungszuwachs erfuhr.
       
       Für Eli Singalovski sind es die Bauten seiner Kindheit. Seine Familie
       wanderte aus Russland in die heutige Boomtown in der Negev ein. Die von ihm
       fotografierten Gebäude muten an wie Entwürfe von einem anderen Planeten.
       Und einer anderen Zeit. Großzügige Flächen treffen auf kühne Geometrien wie
       eine aus Polyedern aufgetürmte Synagoge, deren gestapelte Module auch die
       einer Raumstation sein könnten.
       
       ## Ein optimistisches Zukunftsbild
       
       Eine medizinische Bibliothek sieht aus wie eine in der Wüste gelandete
       fliegende Untertasse. Der aus dem osteuropäischen Galizien nach Israel
       gelangte Architekt Arieh Sharon und sein Sohn Eldar hatten sie geplant.
       Arieh Sharon, ein wichtiger Vertreter einer Architektur der Moderne in
       Israel. Aus dreieckigen Grundflächen falteten die Sharons die Bibliothek zu
       einem flachen, geschlossenen Panzer, der von einer Rampe am Eingang jäh
       gebrochen wird.
       
       Runde Bullaugenfenster und ein Schlüsselloch-Zugang lassen den kühnen
       Betonbau endgültig wie ein Spaceship aussehen. Doch wie die Dachschrägen
       auf einen Punkt zulaufen, erinnert auch an ein Zeltdach. Man denkt dabei an
       die Wüstenzelte von Beduinen, die in der Negev beheimatet sind. Trotz
       Ufo-Ästhetik sollte der Bau an diesem Ort kein Fremdkörper sein.
       
       Die Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, deren Anlass mitunter die 2022
       ausgerufene Städtepartnerschaft der bayerischen Landeshauptstadt und Be’er
       Sheva ist, zeigt Singalovskis fotografische Arbeiten auf Wunsch des
       Künstlers ganz ohne Beschriftung. Man solle die größtenteils bei Nacht
       entstandenen Aufnahmen unvoreingenommen betrachten. Die lange
       Belichtungszeit lässt die abgebildeten Bauten unwirklich erträumt
       erscheinen.
       
       Die brutalistische Architektur in Be’er Sheva erzählt von einer Zeit, in
       der ein optimistisches Zukunftsbild herrschte. Singalovskis hochaufgelöste
       Digitalbilder deuten aber auch eine mögliche Kritik an. In der
       detailreichen Aufnahme eines langgezogenen Sozialbaus zeigt sich, wie die
       Bewohner aus der Einförmigkeit der Megastruktur auszubrechen versuchen.
       Individuelle Erweiterungen und Anpassungen überwuchern hier die Klarheit
       der Architektur. Wer genau hinsieht, dem erzählen Singalovskis Bilder also
       auch eine mögliche Geschichte von morgen.
       
       17 Apr 2023
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
   DIR Chris Schinke
       
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