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       # taz.de -- Frankreichs Neukaledonien: Eine gute Partie
       
       > Die Hauptstadt Nouméa liegt bei den Franzosen im Trend: entspanntes
       > Savoir-Vivre im Pazifik. Doch die Inselgruppe sucht nach ihrer Identität.
       
   IMG Bild: Port Moselle und St. Josephs Cathedrale in Noumea, Neukaledonien
       
       Manche Menschen haben einen so sicheren Instinkt, zwischen sich und der
       übrigen Welt den unmittelbaren Kontakt herzustellen. Wie Mathadé, der jeden
       Tag auf der Place des Cocotier Spaziergänger mit Komplimenten umgarnt, sie
       in ein kleines Gespräch verwickelt, um sie dann höflich zu einer Partie
       Schach einzuladen. Wer das Spiel einigermaßen beherrscht, geht darauf ein,
       schon mit der leisen Ahnung, dass der lässige Alte mit den listigen Augen
       gewinnen wird. Das tut er auch, recht schnell sogar. Doch offenbar macht
       das niemandem etwas aus, es ist ja nur ein Spiel, auf das man sich nebenbei
       eingelassen hat. Umso mehr Zeit bleibt danach, weiterzuplaudern über das
       Leben, über das Leben von Mathadé.
       
       Der Mann mit der hohen Stirn zog nach Nouméa, weil niemand in seinem Dorf
       mit ihm Schach spielen wollte. Alle hatten immer etwas anderes und
       anscheinend Wichtigeres zu tun. Um seine Leidenschaft ganz und gar ausleben
       zu können, verließ er seinen Stamm im Busch. La Brouse nennen die
       Neukaledonier das Land außerhalb Nouméas, das doppelt so groß ist wie
       Korsika. Und dessen Hauptstadt gegenüber der unendlichen Weite von Grand
       Terre wie ein schmuckes Miniaturstädtchen aussieht.
       
       An die 90.000 Einwohner*innen wohnen dort, etwa so viele – oder, besser
       gesagt, so wenige – wie in Wolfsburg oder Hamm. Umso größer ist das
       Selbstbewusstsein der kleinen Metropole. Bei Mathadé kommt hinzu, dass er
       früher Häuptling war und selbst auf der Place des Cocotiers, am
       Freiluftschachbrett, die Allüren eines Chefs nicht ablegt. Aber
       unsympathisch macht ihn das nicht.
       
       Nouméa – das sind kilometerlange Uferpromenaden, Litschi- und Mangobäume,
       Häuser aus weißem oder rosa Beton. Nouméa, das ist ein Kino und ein
       Internetanbieter, eine überschaubare und beschauliche Stadt, die sich an
       den Ozean schmiegt und stolz auf ihren kleinen Berg ist, den Montagne
       Coupée, der aussieht, als hätte man seine Kuppe abgeschnitten.
       
       ## Mit Wassertaxi unterwegs
       
       Nouméa, das ist eine Hauptstadt, wo es am Morgen so ruhig ist, dass man das
       Meer rauschen und die Vögel zwitschern hört. Eine Hauptstadt ohne Hektik,
       kein Gedränge, weder Stau noch Luftverschmutzung. Dafür säumen
       kilometerlange, mit Palmen und Filaobäumen gesäumte Sandstrände das Ufer.
       Herrliche Strände, die nie überfüllt sind, da die Zahl der Einwohner und
       die der Touristen niemals ausreicht, um Handtuch an Handtuch
       aneinanderzulegen. Hier und da sieht man Badende, ein paar Schwimmer und
       Taucher, weiter hinten Kitesurfer, Kajak, Segelboote.
       
       Morgens bei Sonnenaufgang beginnt Mathadé seine „Arbeit“, rückt die Bauern
       in Reih und Glied, putzt König und Dame, steht keine fünf Minuten unter den
       Schatten spendenden Palmen bei seinen 32 Figuren, und schon werden
       Vorbeischlendernde auf ihn aufmerksam. Bis er seinen „Fang“ zur
       Schachpartie einlädt. Diesmal ist es Jean aus Nizza, der in Nouméa zwei
       Wochen die Seele baumeln lassen will, um sich von seinem stressigen Job als
       Lehrer zu erholen. Er ist nicht zufällig am Morgen schon auf dem Platz, er
       hatte von Mathadé in der Zeitung Les Journal Nouvelle Caledonie gelesen.
       
       Mathadé schiebt seinen roten Hut tiefer ins Gesicht, nicht nur zum Schutz
       vor der gleißenden Sonne, sondern weil er nachdenken muss. Jean ist ein
       ernst zu nehmender Gegner. Um die beiden herum wird es still, Väter haben
       ihre Kinder zum Toben auf den Schaukelplatz geschickt, Manager auf dem Weg
       ins Büro hören auf zu diskutieren und beobachten den Verlauf vom Brettrand.
       
       Mathadé ist irritiert, er gewinnt nicht, aber immerhin gibt es ein
       Unentschieden. Das verschafft Jean Ansehen und Respekt, und er muss
       versprechen, die Herausforderung am nächsten Tag anzunehmen. Da Jean durch
       Anstrengung und Hitze komplett durchgeschwitzt ist, gibt Mathadé ihm den
       Tipp, mit einem der gelben Wassertaxi unten am Meer die Küste
       entlangzubrausen. „Der Fahrtwind kühlt dich, und gleichzeitig siehst du
       noch was! Solch kleine Ozeantour ist schöner als eine Stadtrundfahrt! Am
       besten dort, von Port Moselle, dem Hafen, entlang den Stränden Baie des
       Citrons und Anse Vata.“
       
       ## Gegen französische Oberhoheit
       
       Jean verlässt die Place des Cocotiers,den zentralen Punkt von Nouméa, um
       den herum die Stadt erbaut wurde: Drum herum gruppieren sich Rathaus,
       Stadtmuseum und Musikpavillon im Kolonialstil, der bekannt ist für seine
       allabendlichen Konzerte einheimischer Reggaebands. Ein paar Schritte
       weiter, am Ufer des kleinen Hafens, warten die Wassertaxis, die zur Tour
       auf türkisfarbenem Meer starten.
       
       An der Spitze der Bucht zwischen Baies des Citrons und Anse Vata, zwischen
       zwei Bürohäusern, weht unübersehbar die EU-Flagge. „Wer weiß, wie lange
       noch“, sagt der Taxifahrer zu Jean, „das Referendum im Herbst 2018 wird
       entscheiden, ob Neukaledonien weiterhin eine französische Überseeregion
       bleibt oder wir Kanak unabhängig werden.“
       
       Jean stutzt bei dem Wort Kanak. Der Taxifahrer erklärt, dass die
       Ureinwohner in Neukaledonien ihr Land „kanaky“ nennen. Das wird vom Wort
       Kanak, Mensch, abgeleitet und bedeutet übersetzt Menschenland. Dass Kanake
       außerhalb des Pazifiks mit einer negativen Bedeutung aufgeladen ist, weiß
       er und kann es sich nicht erklären. Jedenfalls, die Kanak, die lange unter
       der Kolonialmacht und der dominant agierenden Grand Nation gelitten haben,
       wollen eigenständig werden.
       
       Die Caldoches, Nachfahren französischer Siedler, die überwiegend in Nouméa
       leben, sind gegen eine Abspaltung vom Mutterland. Die Haltung des
       Taxifahrers ist klar, er wünscht sich die Loslösung, hofft, dass im
       Südpazifik der jüngste Staat der Welt entsteht. „Es wird Zeit, Frankreich
       hat, obwohl eine halbe Erdumrundung entfernt, seit 1853 die Oberhoheit über
       unser Land.“ Das Wassertaxi schippert näher zum Ufer, und hier wird
       sichtbar, wie schick Nouméa ist: edle Geschäfte, noble Restaurants,
       Luxushotels, Meeresmuseum, Strandbars. „Ein bisschen erinnert mich das an
       Nizza“, sagt Jean.
       
       Weiter an der Baie des Citrons reihen sich Cafés, Pizzeria, Sushibars,
       Diskotheken, Crêperien, Badeshops, Angelläden, Tauchausstatter aneinander.
       Auf der Wiese hinter der Uferpromenade drapiert ein Fotograf das
       schneeweiße Hochzeitskleid einer japanischen Braut. Der Bräutigam sitzt
       schläfrig auf einer Bank daneben und schaut zu, wie das Wassertaxi
       geschmückt wird, das beide Familien und die ganze feine Gesellschaft später
       zur gegenüberliegenden Île aux Canards bringen wird. Japaner scheinen
       ausgesprochen gern nach Nouméa zu kommen, zum Shoppen, Schlendern und
       Heiraten. Nun ja, Tokio ist lediglich neun Flugstunden von Nouméa entfernt.
       
       ## Kulturfestival zum Netzwerken
       
       Die Tresenfrau eines Bistros an der Uferpromenade schüttet einen Eimer mit
       gestoßenem Eis auf den Gehweg. Die Eismaschine hat wohl zu viel produziert.
       Die Kinder kreischen vor Freude, stürzen sich auf die kalten Kugeln und
       bewerfen sich damit. Eine erfrischende Schlacht und ein merkwürdiges Bild,
       Eisklumpen unter Palmen und rot blühendem Floammenbaum.
       
       Dann geht es mit dem Wassertaxi in Richtung Insel Amédée. Von Weitem ragt
       der schneeweiße Leuchtturm auf dem fünfundzwanzig Kilometer entfernten
       Eiland in den azurblauen Himmel. Umringt von einem dichten, buschigen
       Waldsaum, davor ein leuchtend heller Sandstrand. „Der ist mit
       sechsundfünfzig Metern einer der größten Leuchttürme der Welt“, erzählt der
       Taxifahrer. Um zu testen, wie unerschütterlich seine Konstruktion ist,
       wurde er für zwei Jahre in Paris aufgebaut. Als man sich seiner
       Standfestigkeit sicher sein konnte, wurde der Koloss wieder zerlegt und mit
       einem Frachtsegler nach Nouméa verschifft.
       
       Die Stadt hieß damals Port-de-France, genauso wie die Hauptstadt von
       Martinique in der Karibik. Eigentlich sollte der Leuchtturm dorthin, aber
       kam „versehentlich“ 1864 auf Neukaledonien an. Das schmucke Stück steht
       recht unnütz auf dem Inselchen. Von der Plattform aus sind das lang
       gezogene, farbige Korallenriff und die aus dem Wasser ragenden Felsen gut
       zu sehen.
       
       Die Insel Amédée ist unbewohnt, doch tagsüber von Touristen besucht, die
       schlendern, tauchen, baden, sich sonnen und Bougna essen. Bougna ist das
       Lieblingsgericht der Einwohner von Neukaledonien: In Bananenblättern werden
       Taro, Süßkartoffeln, Yams, Bananen, Hähnchenfilets und Krustentieren
       geschichtet, mit Kokosmilch vermengt und in einem Erdofen gebacken.
       
       Am nächsten Tag zieht es Jean wieder zu Mathadé, der diesmal vom
       Schachprofi nach zehn Minuten matt gesetzt wird. Wichtiger als ein Sieg ist
       ihm auch diesmal die Plauderei mit seinem Herausforderer. „Alors“, fängt
       der alte Meister an, „da hast du heute noch eine Menge Zeit nach der kurzen
       Partie! Was du dir anschauen musst, ist das Centre Tjibaou, eine Anlage mit
       überdimensionalen Rundhütten am anderen Ende der Stadt.“
       
       Das Centre Tjibaou, in einem Naturschutzgebiet nahe der Küste gelegen,
       umgeben von Seen und Mangrovenwäldern, gilt als das schönste Gebäude der
       Südsee. Es wurde von Renzo Piano errichtet, dem italienischen Architekten,
       der unter anderem das Centre Pompidou und ein Berliner Bürohaus am
       Potsdamer Platz entworfen hat. „Übrigens, ich kannte Jean-Marie Tjibaou
       gut. Wir wohnten nicht weit voneinander entfernt, im Norden, in Hienghène,
       da, wo ich herkomme. Ich sag dir, der war ein klasse Typ. Priester und
       Anführer der Unabhängigkeitsbewegung. Ein charismatischer Kerl, dem man
       einfach zuhören musste, wenn er vor den Leuten sprach, ob hier in Nouméa
       oder in La Brousse“, erzählt Mathadé.
       
       Wo heute das Kulturzentrum steht, organisierte Tjibaou 1975 das
       Kulturfestival Melanesia 2000. Es war das Ereignis zu dieser Zeit. Noch nie
       wurde die Kultur der Kanak durch solch ein großes Fest gewürdigt.
       Ureinwohner verschiedener Stämme kamen in der Hauptstadt zusammen.
       
       Heute würde man das als Netzwerken bezeichnen. Es wurde darüber geredet,
       wie ein selbstbestimmtes Leben nach Jahrzehnten der Drangsalierung durch
       die französische Übermacht aussehen kann, und es wurde natürlich gesungen,
       getanzt, gefeiert.
       
       ## Das Ding mit der Maus
       
       Das Centre Tjibaou, das ist eine riesige Anlage mit zwanzig Meter hohen
       Stabkonstruktionen, die überdimensionale Wohnhütten der Kanak darstellen.
       Im Haupthaus, einer lichtdurchfluteten Anlage aus Stahl und Glas, Holz,
       Kork und Bambus, wird Theater gespielt, gibt es Konzerte, können Künstler
       aus ganz Neukaledonien ihre Malereien ausstellen. Wer durch die
       verschiedenen Pavillons läuft, bekommt eine Ahnung von der Kultur der
       einzelnen Stämme, die ihre Ahnen verehren und den Seelen in eindrucksvollen
       Holzfiguren ein künstlerisch gestaltetes Zuhause geben.
       
       An den Wänden der Ausstellungsräume hängen mystische Gemälde, fantastische
       Zeichnungen, alte Fotos. Es laufen Videoinstallationen. Auf einer
       überdimensionalen Leinwand ist die legendäre Aufnahme zu sehen, wo
       Jean-Marie Tjibaou vor Hunderten Menschen erstmals die Fahne der Kanak
       hisst. Tjibaou hat mit dazu beigetragen, das Selbstbewusstsein der Kanak zu
       stärken. Er starb 1989, wurde von Radikalen erschossen.
       
       Morgen, so gibt Mathadé unvermittelt den Umstehenden bekannt, würde er für
       ein paar Tage nicht auf der Parc des Cocotiers sein: „Du hast sicher etwas
       Einfühlungsvermögen. Jedenfalls – ich hatte im Park eine Maus gesehen.“
       Dass Mathadé sich vor Mäusen fürchtet, hätte Jean nun nicht erwartet, doch
       er erfuhr, dass es keine gewöhnliche Maus war, sondern eine verkörperte
       Seele der Vorfahren, die Unglück verkündet. So hatte Mathadé Sorge, dass
       jemand in seiner Familie erkrankt ist und er deshalb nach Hienghène fahren
       muss. „Wenn ich Seele sage, meine ich keine Seele in dem Sinne, wie du das
       Wort möglicherweise gebrauchst. Doch Seele ist die beste Übersetzung für
       unser Wort Wi. Sie kann ihre Gestalt wechseln, sodass sie bisweilen auch
       als Tier erscheint. Und sie kann Botschaften überbringen.“
       
       Mathadé verabschiedet sich von Jean mit dem Hinweis, am Abend unbedingt auf
       den Canons du Ouen Toro zu steigen, einen Hügel mitten in der Stadt, sich
       dort auf die gusseiserne Kanone zu setzen und auf das flimmernde
       Lichtermeer Nouméas herabzuschauen. Dort oben dann erinnert sich der Mann
       aus Nizza an die Erzählung Mathadés, dass in letzter Zeit immer mehr gut
       situierte Franzosen nach Nouméa übersiedeln: süßes Südseefeeling statt
       kontinentalem Stress. Beruhigende Naturidylle statt ansteigender
       Klimasorgen. Großzügige Weite statt beengter Großstädte. Ein letztes
       Paradies für Europamüde.
       
       21 Apr 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Birgit Weidt
       
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