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       # taz.de -- Frauen in der Pandemie: Die sozialen Verliererinnen
       
       > Der „Covid-19 Global Gender Response Tracker“ der UN sammelt Daten zu
       > gendersensiblen Maßnahmen. Sie stimmen nicht gerade optimistisch.
       
   IMG Bild: Mit einer Plakataktion will das Familienministerium auf Hilfsangebote aufmerksam machen
       
       An der Tür und an der Kasse, manchmal auch versteckt zwischen Kleinanzeigen
       und Vermisstenanzeigen am schwarzen Brett hängt in vielen deutschen
       Supermärkten ein Plakat. „Zuhause nicht sicher?“ steht darauf. Und weiter:
       „Sind Sie akut von Gewalt zuhause betroffen oder kennen Sie jemanden, der
       von Gewalt betroffen ist?“ Versehen mit der Adresse der gleichnamigen
       Website sind die Plakate [1][der Aktion „Stärker als Gewalt“] des
       Familienministeriums, um insbesondere von Gewalt betroffene Frauen auf
       Hilfsangebote aufmerksam zu machen.
       
       Seit Ende April hängen sie in Einkaufszentren und 26.000 Supermärkten
       großer Ketten. Eine Reaktion der Bundesregierung auf den Anstieg der
       Fallzahlen von häuslicher Gewalt in Coronazeiten.
       
       Eine notwendige Aktion, denn schon zu Beginn der Pandemie zeichnete sich
       ab, dass Frauen unter Covid-19 besonders leiden werden. Die
       Sterblichkeitsrate ist zwar unter Männern höher, doch [2][Frauen sind die
       sozialen Verliererinnen der Pandemie].
       
       Und das liegt nicht nur an der Zunahme von Gewalt, sondern auch daran, dass
       Frauen in tradierte Rollen zurückgedrängt werden: Die Frau als Mutter, als
       Fürsorgerin und Haushälterin. Denn wenn Kindergärten und Schulen schließen,
       sind es größtenteils sie, die die Kinderbetreuung übernehmen. Genauso sieht
       es bei der Pflege von Angehörigen und der Hausarbeit aus. [3][Erste
       Studienergebnisse der letzten Monate zeigen], dass sich die Befürchtungen
       eines Backlashs im Kampf um Gleichberechtigung bewahrheiten.
       
       Erkenntnisse aus früheren Pandemien 
       
       Dass Frauen stärker unter Pandemien leiden, haben schon Erhebungen zur
       wirtschaftlichen Entwicklung auf Gleichberechtigung nach Ebola oder Sars
       gezeigt. Demnach finden Männer nach einer Krise deutlich schneller zu ihrem
       eigentlichen Einkommen zurück als Frauen. Um den genannten Problemen
       entgegenzuwirken, müssen also schon während einer Pandemie Maßnahmen
       ergriffen werden, die Frauen schützen und fördern. Doch haben die Staaten
       aus vorherigen Krisen gelernt und wenden das Gelernte in Coronazeiten an?
       Das versucht der „Covid-19 Global Gender Response Tracker“ herauszufinden.
       
       Hinter dem sperrigen Namen versteckt sich eine digitale Plattform mit Daten
       aus 206 Ländern und Territorien. UN Women und das Entwicklungsprogramm der
       Vereinten Nationen haben hierfür 2.500 pandemiebedingte Maßnahmen auf ihre
       Gendersensibilität hin untersucht. Um herauszufinden, wie der Schutz von
       Frauen aussieht, wurden drei Bereiche in den Blick genommen: Gewalt,
       unbezahlte Pflegearbeit und wirtschaftliche Sicherheit.
       
       Die positive Erkenntnis aus dem Tracker ist, dass viele Länder und
       Territorien Maßnahmen ergriffen haben. „Gerade im Hinblick auf häusliche
       Gewalt ist in den vergangenen Monaten viel passiert. Fast 70 Prozent aller
       gendersensiblen Maßnahmen sind diesem Sektor zuzurechnen, dazu zählen etwa
       Hilfetelefone sowie der Ausbau von Frauenhäusern oder Notunterkünften“,
       sagt Silke Staab von UN Women, die maßgeblich an der Erstellung des
       Trackers beteiligt war, der taz.
       
       In Indien wurde beispielsweise eine Whatsapp-Nummer eingerichtet, an die
       man sich wenden kann, wenn man häusliche Gewalt erfahren hat. In
       Deutschland zählt die eingangs erwähnte Plakataktion in Supermärkten dazu.
       
       Unzureichende Programme 
       
       Doch in den anderen beiden Bereichen sehe die Lage unzureichend aus, sagt
       Staab. Nur 25 Länder haben Maßnahmen geschaffen, die alle drei Aspekte
       berücksichtigen – Argentinien ist eines davon. Viele Länder des
       afrikanischen Kontinents haben sich zwar um die wirtschaftliche Absicherung
       von Frauen gekümmert, den Bereich der Carearbeit aber eher vernachlässigt.
       
       Ein Beispiel: Nigeria hat ein Förderprogramm entwickelt, mit dessen Hilfe
       sich Frauen im Bereich der digitalen Unternehmungsgründung weiterbilden
       können. Das Ziel ist es, dass Frauen die Produkte, die sie schon vor der
       Pandemie verkauft haben, nun digital vermarkten können.
       
       Wenn es um den Bereich der Fürsorgearbeit geht, sind Spanien, Chile oder
       Südkorea Positivbeispiele, denn in diesen Ländern wurde die Elternzeit
       verlängert. In Polen bekommen Eltern 14 zusätzliche freie Tage zur
       Kinderbetreuung, wenn Kindergärten oder Schulen geschlossen sind. Und in
       Deutschland wurde im Rahmen des Corona-Konjunkturpakets Eltern ein
       Kinderbonus in Höhe von 300 Euro pro Kind zugesichert.
       
       Problematisch sei, so Staab, dass meist nur Länder, die im Vergleich ein
       ohnehin schon relativ stark ausgebildetes soziales Sicherungssystem haben,
       Maßnahmen im Bereich der Fürsorge ergriffen haben.
       
       Kein tatsächliches Bild der Benachteiligung 
       
       Wie die Lage für Frauen vor der Pandemie war und auch wie stark das
       jeweilige Land von Corona betroffen ist, rechnet der Tracker jedoch nicht
       mit ein. Genauso wenig, wie nachhaltig die Maßnahmen sind: Denn nicht die
       Anzahl der Maßnahmen ist ausschlaggebend. So kann eine einzelne Strategie
       wirkmächtiger sein, als viele kleine Linderungsversuche.
       
       Nachdem der Tracker Ende September an den Start gegangen ist, soll er nun
       fortlaufend aktualisiert werden. Obwohl er eher eine Zustandsbeschreibung
       der ergriffenen Maßnahmen liefert als ein tatsächliches Bild der
       Benachteiligung von Frauen durch Covid-19, setzt die UN große Hoffnung in
       ihre Datensammlung.
       
       „Wir hoffen einerseits, dass der Tracker Lücken aufzeigt, die in bestimmten
       Ländern noch bestehen. Doch vor allem soll er Positivmaßnahmen
       dokumentieren“, sagt Staab. Frauenorganisationen, Aktivist:innen und
       Regierungen können so sehen, welche Maßnahmen der Staat bisher ergreift und
       sich von anderen Ländern inspirieren lassen, welche Mittel und Wege möglich
       sind.
       
       Ein Aspekt, der in der Untersuchung vernachlässigt wurde, ist die
       zunehmende digitale Gewalt, der Frauen ausgesetzt sind. Durch den
       Digitalisierungsschub, der weltweit während Covid-19 stattgefunden an, sind
       neue Gewaltformen aufgetaucht und bestehende wurden verstärkt. Darunter
       fallen etwa Hatespeech oder Zoombombing, also das Unterbrechen von
       Videocalls durch rassistische und pornografische Inhalte. In Australien
       soll sich während des Lockdowns die Anzahl digitaler Erpressungen mit
       Nacktbildern vervierfacht haben.
       
       Mehrfachdiskriminierungen nicht erfasst 
       
       Klar ist, nicht nur Frauen leiden unter der Coronakrise. Diskriminierende
       Strukturen an sich werden in der Pandemie verstärkt, heißt: Wer von
       Ableismus, Rassismus oder Klassismus betroffen ist, spürt die
       Diskriminierung in der Pandemie in vielen Bereichen noch stärker. Das
       müsste auch in den Maßnahmen der Staaten berücksichtigt werden.
       
       Inwiefern sich die Maßnahmen gezielt an Mehrfachdiskriminierte wenden,
       könne man aber mit der jetzigen Datenlage nicht untersuchen, so Staab: „Es
       gibt zwar einige Aktionen, die gezielt die LGBTIQ-Community oder
       beispielsweise Frauen im ländlichen Bereich in den Blick nehmen; doch
       häufig gibt es überhaupt nicht genügend Details über die Maßnahmen, um zu
       gucken, ob eine Gruppe davon besonders profitiert oder sie sich
       beispielsweise spezifisch an Schwarze Frauen richtet.“
       
       Die gewaltige Datenmenge der Plattform hinterlässt einen nicht sonderlich
       optimistisch, offenbart der Tracker doch einige Lücken. Zudem sollte das
       Ziel nicht sein, den Status quo von vor der Pandemie zu erreichen – denn
       gerade Corona hat erhebliche Mängel in der (unbezahlten) Pflegearbeit oder
       in der Vereinbarkeit von Lohn- und Carearbeit aufgezeigt. Doch für eine
       weltweite Verbesserung der Situation von Frauen reichen die bisherigen
       Maßnahmen vermutlich nicht aus. Zudem ist ein Ende der Pandemie noch lange
       nicht in Sicht.
       
       Maßnahmen, die helfen sollen die Übertragung des Virus einzudämmen, können
       die Problematik für Frauen weiter verstärken. Staab sieht in der Krise
       jedoch auch eine Chance: „Ich hoffe, dass die Staaten beginnen, ihre
       Maßnahmen für mehr Gleichberechtigung nicht als Ausgaben zu sehen, die
       verpuffen. Investitionen in die Kinderbetreuung, in das Gesundheitssystem
       oder die Altenpflege sind Investitionen in die Zukunft. Und helfen am Ende
       allen.“
       
       23 Oct 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://staerker-als-gewalt.de/initiative/poster-aktion-haeusliche-gewalt
   DIR [2] /Corona-ist-weiblich/!5670768/
   DIR [3] https://www.tum.de/nc/die-tum/aktuelles/pressemitteilungen/details/36053/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Carolina Schwarz
       
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