URI: 
       # taz.de -- Fremde Tiere und Pflanzen: Invasion der anderen Art
       
       > Durch den Menschen eingeschleppte Tier- und Pflanzenarten mischen
       > Ökosysteme auf, der Klimawandel begünstigt die Ausbreitung noch. Welche
       > richten Schaden an?
       
   IMG Bild: Zutrauliche Nutrias in Halle an der Saale scheuen das Blitzlicht nicht
       
       Berlin/Müncheberg taz | Die Eindringlinge haben einen weiten Weg hinter
       sich gebracht und machen sich nun heimlich bei uns breit. Werden mehr und
       mehr, bedrohen, was wir liebgewonnen haben, zerstören die Umwelt. Klingt
       nach AfD und vergifteter Einwanderungsdebatte. Nur sind in dieser Erzählung
       Pflanzen und Tiere gemeint.
       
       Ob Japanischer Knöterich, Kaukasischer Bärenklau, Chinesischer Götterbaum
       oder die US-Importe Sumpfkrebs, Ochsenfrosch und Waschbär: Sie alle gelten
       als gefährliche Fremdlinge. Über diese sogenannten invasiven Arten wird
       genauso lange schon gestritten, wie wir Menschen uns die Erde untertan
       machen. Erst wird Land erobert und dann verteidigt, gegen alles, was auch
       ein bisschen Land wollen könnte.
       
       Laut [1][einer aktuellen Studie] könnten eingeschleppte Tier- und
       Pflanzenarten in der EU bis 2040 für Kosten in Höhe von 142,73 Milliarden
       Euro sorgen. Grund dafür sind unter anderem [2][Ernteverluste] und
       Belastungen des Gesundheitssystems durch neue Krankheiten. Der Klimawandel
       beschleunigt diese Entwicklung und heizt auch einen Streit an: zwischen
       denen, die die unkontrollierte Verbreitung der Arten verhindern wollen, und
       denen, die finden, dass in den Lauf der Dinge nicht eingegriffen werden
       sollte.
       
       Im Garten von Robin König fliegt und zirpt und flattert es, wo man nur
       hinsieht. Die blauen Hüllblätter des groß gewachsenen Alpenmannstreus –
       ursprünglich aus dem Mittelmeerraum und seit dem 16. Jahrhundert auch in
       Deutschland kultiviert – sind schon fast abgeblüht. Trotzdem umschwirren
       ihn derart viele Wildbienen, Wespen, Hummeln, Käfer und Fliegen, dass die
       Augen nur ein diffuses Flimmern zahlloser schwarzer Punkte ausmachen
       wollen.
       
       Wie immer in diesen Sommertagen sieht es so aus, als könnte es jeden
       Augenblick regnen. Um das kostenlose Wasser direkt dorthin zu leiten, wo es
       benötigt wird, nämlich an die Wurzeln des Alpenmannstreus, hat der
       24-jährige Hobbygärtner mit dem Spaten rundherum ein Becken ausgestochen.
       Dort unten wächst und blüht, was vorher noch schwer zu kämpfen hatte, denn
       bei dem Brandenburger Bodenmix aus Sand und Lehm beginnt erst tief die
       fruchtbare Erde. Danach will er sich endlich dem Japanischen Knöterich
       widmen. Denn: „Wie das Zeug schon wieder eskaliert ist, das ist nicht mehr
       feierlich“, sagt er.
       
       In kürzester Zeit hat sich das bambusartige Ungetüm vom Gartenzaun über die
       anliegenden Beete erstreckt. Diese Auswüchse müssen weg. „Der Knöterich ist
       die wirtschaftlich teuerste Pflanze, die es gibt“, sagt König. Aber einfach
       mit der Machete in das Gestrüpp einfallen und die wuchernden Stängel
       zurückschneiden, reicht nicht.
       
       Den müsse man „abfolieren“, also schwarze Folie über den Boden legen, damit
       kein Licht mehr rankommt. Sonst gebe die Pflanze wachstumshemmende
       Bitterstoffe an ihre Umgebung ab. Das Ding sei „eine ökologische
       Katastrophe“ und „echt kein Spielzeug“. König ist sich sicher: Würde er
       hier nicht eingreifen, würde gar nichts anderes mehr wachsen.
       
       Der Knöterich ist eine nicht einheimische, eine gebietsfremde Art. Von der
       spricht das Bundesnaturschutzgesetz dann, wenn sie weder ursprünglich aus
       Mitteleuropa stammt, noch seit über 100 Jahren als verwilderte Art
       vorkommt, also quasi eingebürgert ist. Solche Pflanzen werden auch
       Neophyten genannt, die tierische Version davon sind Neozoen.
       
       Von den unzähligen Arten fremder Tiere und Pflanzen, die seit Jahrhunderten
       über Kontinente hinweg als Samen oder Eier im Ballastwasser der Schiffe, in
       Lebensmittelkisten oder unter Schuhsohlen eingeschleppt werden,
       verschwinden die meisten einfach wieder. Sie keimen oder schlüpfen, fühlen
       sich dann in ihrer Umgebung nicht wohl und gehen schließlich ein oder
       werden gefressen.
       
       Ein paar Arten aber bleiben. Manche nicht heimische Bäume halten die
       Trockenheit besser aus, manche Larven mögen die aufgewärmten Gewässer. Die
       Stare, die einst als kleine Gruppe im Central Park von New York City
       freigelassen wurden, bilden heute die zahlenmäßig stärkste Vogelgruppe
       Amerikas und werden von den meisten Menschen so geschätzt wie hierzulande
       der kunterbunte Bienenfresser an den Steilufern und Abbruchkanten in
       Sachsen-Anhalt oder der aus den Vogelkäfigen geflohene Halsbandsittich in
       der Rheinebene.
       
       Etwa fünf Prozent aller fremden Arten bereiten laut Bundesamt für
       Naturschutz „naturschutzfachliche Probleme“ und gelten als invasiv. Sie
       breiten sich zu stark aus, schädigen Biotope und gefährden die biologische
       Vielfalt. Sie konkurrieren mit heimischen Arten um Nistplätze oder Nahrung,
       übertragen Krankheiten oder lösen Allergien aus, sind giftig oder vermiesen
       Landwirten die Ernte.
       
       Europaweit werden aktuell 88 Tier- und Pflanzenarten als invasiv gelistet.
       Mindestens 46 dieser Arten kommen auch in Deutschland vor: Das Drüsige
       Springkraut überwuchert die Flussufer, die Wasserpest lässt Tümpel kippen,
       die Asiatische Hornisse jagt unsere Honigbienen, der Höckerflohkrebs frisst
       die Flüsse leer, und was Bisamratten und Nilgänse angeht – die kann sowieso
       niemand leiden.
       
       Wo die Pflanzen in seinem Garten ursprünglich herkommen, ist Robin König
       eigentlich egal. „Mir geht es ausschließlich um die ökologische
       Verschränkung“, erklärt er und streichelt seine Armenische
       Traubenhyazinthe. „Die kam vom Balkan, hat sich sofort ins Ökosystem
       eingegliedert und leistet ihren Beitrag.“ König meint damit, dass die
       Pflanzen und Tiere eine lebhafte Wechselwirkung miteinander eingehen
       sollen: sich also gegenseitig Lebensraum und Nahrung liefern. Der Knöterich
       hingegen war ein ungebetener Gast in seinem Garten, verschränke sich nicht
       und nerve bloß.
       
       Ingo Kowarik ist Professor für Pflanzenökologie an der Technischen
       Universität Berlin. Als er während seines Studiums zu städtischen
       Ökosystemen zu forschen begann, war noch gar nicht so klar, wie leicht sich
       fremde Arten an neuen Orten ansiedeln können. „In den Siebzigern haben wir
       erstmals in Berlin Brachflächen inspiziert und waren erstaunt von der
       Andersartigkeit der natürlichen Prozesse mitten in der Stadt“, erzählt der
       68-Jährige.
       
       Damals war der Japanische Staudenknöterich auf Privatgrundstücken gerade
       als Sichtschutz angesagt. Das Gewächs war schon Hunderte Jahre zuvor als
       Futter- und Zierpflanze nach Europa gekommen. Wurde er zu groß, flog er auf
       den Kompost, um sich dort erst so richtig zu entfalten – und mit ihm all
       die anderen achtlos ausgesetzten Zierpflanzen aus dem Gewächshaus.
       
       Von nun an bedeckte der Knöterich Böschungen, Brachen und Halden, weil er
       sich kein bisschen an den Schwermetallen im Boden störte. „Anfangs waren
       meine Kommilitonen und ich noch überrascht, wie schnell und dynamisch
       Wildnis ist“, sagt Kowarik. Umso wilder kämpften GartenbesitzerInnen damals
       zunächst gegen jedes Unkraut an, das sie nicht selbst in ihr Beet gepflanzt
       hatten. Inzwischen sei es anerkannter Mainstream, ein bisschen Natur
       unberührt zu lassen. Auch die nicht einheimischen Arten. „Es rührt mich,
       dass die Leute ein Herz für wilde Arten haben“, sagt er.
       
       Die Verbreitung der Arten, sie ist eine Konsequenz aus Kolonialismus,
       Migrationsbewegungen und Globalisierung. Los ging es mit dem Start des
       Anthropozäns im 17. Jahrhundert. Erst schleppten Amerikas Pilgerväter
       Krankheiten aus Europa in die für sie Neue Welt und verantworteten damit
       ein Massensterben der indigenen Bevölkerung. Dann wurden die Kartoffeln aus
       den Anden nach Europa geholt und der Mais aus Mittelamerika und sehr viel
       früher die Äpfel und Birnen aus China, Zentralasien und dem Kaukasus und
       der Weizen aus dem Nahen Osten – denn ohne all diese Importe gäbe es
       hierzulande nicht viel mehr zu essen als Kraut und Rüben.
       
       Im Anschluss machten es sich die Kolonialisten auf allen Kontinenten
       bequem. Von James Cooks Schiffen gingen Dingos, Schafe und Kaninchen von
       Bord, um das wilde Australien etwas europäischer zu machen. Mit fatalen
       Folgen: Die Schafe traten mit ihren Klauen die Böden kaputt, die Kaninchen
       mümmelten die übrigen Triebe weg und die Dingos fraßen die vom Hunger
       geschwächten heimischen Tiere.
       
       Beutellöwen, Riesenemus, gestachelte Ameisenbären und Schnabeltiere fielen
       dieser „tierischen Europäisierung“ zum Opfer. In den freigewordenen Nischen
       des australischen Lebensraums siedelten sich Amseln und Tauben, Mäuse und
       Ratten, Forellen und Lachse, Rotwild und Frettchen sowie Hunde und Katzen
       an. Das tragische Ende einer einmaligen Artenvielfalt.
       
       Im 20. Jahrhundert begann mit manchen Plagen auch ein Umdenken und man
       versuchte, die selbst verschuldete Auslöschung zu bremsen. Und zwar durch
       Ausrottung. Füchse, Katzen und eingeschlepptes Unkraut bedrohen in
       Australien beispielsweise die heimisch-ursprüngliche
       Barrington-Breitzahnratte, ein drolliges kleines, wühlmausähnliches Ding.
       Also werden die Invasoren erschossen und vergiftet. Neuseeland will sich
       wiederum bis 2050 aller [3][nicht einheimischen Ratten] entledigen. Denn
       die gefährden die einheimischen Vögel und Reptilien, heißt es.
       
       Die US-Amerikaner sind ebenfalls nicht zimperlich. An der Ostküste wird die
       Bevölkerung aktuell ermutigt, fleißig alle gepunkteten
       Laternenträgerzikaden zu zerlatschen. In Florida soll die Burmesische
       Python dafür verantwortlich sein, dass bis zu 90 Prozent der Säugetiere aus
       den Sümpfen verschwinden könnten. Also schreibt man Kopfgeld auf die
       Würgeschlange aus. Gerade gewann ein 19-Jähriger bei einem Wettbewerb
       10.000 US-Dollar, weil er 28 von ihnen erlegte.
       
       Deutschland meuchelt da verhaltener. Früher erschlug man noch das ein oder
       andere dunkle Eichhörnchen in dem Glauben, es sei ein eingewandertes
       Grauhörnchen. Mittlerweile hat sich aber herumgesprochen, dass die Nager
       immer noch nicht bei uns angekommen sind. Dafür erlegen wir Nutrias und
       essen Sumpfkrebse, die sich in den Gewässern breitmachen. Die wohl
       hitzigsten Diskussionen aber werden um den [4][Waschbären] geführt.
       
       Die Kleinbären büxten nach dem Krieg aus Pelzfarmen aus und haben sich
       seitdem prächtig bei uns eingelebt. Weil die gefräßigen Tiere Nester und
       Brutkästen plündern, gelten sie als invasive Art – und gleichzeitig als
       Internetstars, weil sie doch so furchtbar knuffig dabei aussehen, wie sie
       unsere Mülltonnen ausräumen und Dachböden ruinieren. Dadurch hat der
       Waschbär eine starke Lobby.
       
       Während JägerInnen sich also auf den Naturschutz berufen und jedes Jahr
       neue Schießrekorde erzielen, argumentieren [5][WaschbärfreundInnen]
       ebenfalls mit dem Naturschutz. Sie behaupten: Wer Waschbären schießen will,
       komme mit dem Schießen nicht hinterher. Denn Weibchen reagieren auf
       Verluste mit verstärkter Fortpflanzung. Je mehr Abschuss, desto mehr
       Nachwuchs also. Im Gegensatz dazu bringen Waschbären weniger Junge auf die
       Welt, wenn sich ihre Lebensbedingungen grundlegend verschlechtern.
       
       Was also bringt es, die einen zu töten, um die anderen zu retten? „Gar
       nichts, man muss keine Arten bekämpfen“, findet Denise Ritter vom
       [6][Deutschen Tierschutzbund]. „Prävention ist die Lösung.“ Es sei sehr
       viel sinnvoller, die Eintragungswege invasiver Arten strenger zu
       kontrollieren und den Wildtierhandel einzudämmen. „Prävention bedeutet aber
       auch, dass man Mensch-Tier-Konflikte von vornherein vermeidet“, sagt die
       33-Jährige. Zum Beispiel indem wilde Tiere nicht angefüttert, Mülltonnen
       besser versiegelt und Ausweichflächen geschaffen werden. Also Orte, die als
       Lebensraum, Nist- und Futterplatz für die Tiere attraktiver sind als unsere
       Parks, Freibäder und Gärten.
       
       Neben dem Waschbären hat in den vergangenen Jahren noch ein weiteres Tier
       für Aufregung gesorgt: die Nutria, ein biberähnlicher, bisamrattenartiger
       Nager aus Südamerika. Die Nutria wurde hundert Jahre zuvor ebenfalls wegen
       des Fells eingeschleppt und in Farmen eingesperrt, bis sich erste
       Populationen im Spreewald und an der Elbe ausbreiteten. Zu den Städten mit
       Nutriaproblem gehört beispielsweise Bonn. Weil die Nager die Ufer der
       Rheinaue kaputtnagen, werden die Tiere gefangen und getötet.
       
       Denise Ritter plädiert hingegen für Einfangen und Sterilisieren. Die Zahl
       der Nutrias würde so sehr viel schneller sinken, erklärt die
       Tierschützerin. Das Töten von Tieren solle als allerletztes Mittel in
       Erwägung gezogen werden. Die Stadt hat den Vorschlag abgelehnt. Dieser
       Kampf der unterschiedlichen Naturschutzinteressen wirft entscheidende
       Fragen auf: Wie sehr bedrohen invasive Arten die heimischen tatsächlich?
       
       In einem begrenzten Bereich können Invasoren wirklich gefährlich werden.
       Wenn der Waschbär auf einer bestimmten Fläche sämtliche Bodenbrüter wie
       Schnepfe und Kiebitz frisst, hat er die Art dort vernichtet. Aber damit ist
       das Raubtier noch keine Gefahr für die gesamte Population. Und sind Nutrias
       wirklich so problematisch, wenn sie nur eine begrenzte Anzahl an Deichen
       und Röhrichten kaputtmachen?
       
       Der Einfluss auf einzelne Arten kann gravierend sein, das allgemeine
       Artensterben hat aber andere Gründe. Oft besetzen invasive Spezies eine
       ökologische Nische, wenn die heimische Art zuvor schon durch den Menschen
       schwer beeinträchtigt wurde.
       
       So konnte sich der Nerz erst dann in Europa ausbreiten, als die Population
       der Otter mangels Futter drastisch eingebrochen war. Soll man also jede
       neue Art erst einmal machen lassen und schauen, ob sie wirklich alle
       anderen Arten verdrängt? Und was dann?
       
       In der Landwirtschaft, im Forst oder der Wasserversorgung kann man nicht
       einfach in Ruhe abwarten – da stört die Wildnis. Ihre Gefahren müssen
       rechtzeitig erkannt, eingeschätzt und abgewendet werden. Wenn sich
       eingewanderte Nager oder Heuschrecken ohne Fressfeinde über die Ernte
       hermachen, eine neue Käferart das Nutzholz im Wirtschaftswald durchlöchert,
       die Larven der Quagga-Muscheln in die Wasserleitungen schwimmen und die
       Förderanlagen verstopfen und der Knöterich das Treibgut festhält, dann wird
       das teuer.
       
       Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung hat kürzlich eine ungeheure
       Summe genannt. [7][In ihrer Studie] zu weltweiten Folgeschäden durch
       invasive Arten kam sie auf Gesamtkosten von fast 1 Billion Euro seit 1960.
       Allein Wanderratte und Wildkaninchen sollen eine Ernte im Wert von
       insgesamt über 100 Milliarden Euro von den Feldern weggefressen haben. Sind
       solche Beträge nicht Grund zum Handeln?
       
       Das Bundesumweltministerium findet: ja. Es hat nach einer entsprechenden
       [8][EU-Verordnung] 2015 einen [9][Aktionsplan] für den Umgang mit invasiven
       Arten entwickelt, überlässt aber den einzelnen Ländern das Management.
       Innerhalb der Länder sind die Interessen unterschiedlich verteilt und der
       Plan ist nicht immer klar. Denn die Landesregierungen arbeiten mit
       unvollständigen Listen – invasive Tiere und Pflanzen sind in Deutschland
       nur unzureichend erfasst. Über manche Arten weiß man, wie großflächig sie
       für Probleme sorgen, über andere nicht. Für manche Arten gibt es effektive
       Sofortmaßnahmen, für viele andere nicht.
       
       So existieren neben einer [10][Unionsliste], die die invasiven Arten für
       den gesamten EU-Raum umfasst, noch eine lokale Aktionsliste, eine
       Handlungsliste, eine Beobachtungsliste und eine Managementliste. Die kann
       man dann für jedes Bundesland herunterladen oder in seiner
       Kleingartenordnung nachlesen, konkrete Handlungsanweisungen gibt es kaum.
       
       Die eine Gartenbesitzerin wütet dann eben halbherzig gegen die eigene
       invasive Wildnis an, der andere macht sich die Mühe nicht. Wer den Deich
       unverbuscht halten will, gräbt die Traubenkirsche aus. Wer den Buchsbaum
       mag, setzt dem Buchsbaumzünsler ein Ende. Und wem die Nase juckt, der reißt
       die Beifußambrosie aus. Denn, und auch das ist ein Faktor, die
       Eindringlinge können für allergische Reaktionen sorgen – und im schlimmsten
       Fall für Krankheit.
       
       Im Büro bei Doreen Werner vom Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung
       in Müncheberg warten schon wieder Dutzende neue Umschläge. Jeden Tag ist
       die Postkiste voll. Ihr Inhalt sind tote Mücken. Jahrzehntelang hat sich
       die Forschung nicht für Mücken interessiert. Von ihnen ging keine Gefahr
       mehr aus, in Deutschland gab es seit den Fünfzigerjahren keinen
       einheimischen Malariafall mehr. Durch die invasiven Arten hat sich das
       mittlerweile geändert.
       
       „Seit 2011 erfassen wir die Einsendungen in einem Mückenatlas“, erklärt
       Werner. Die HobbyjägerInnen sollen dazu Mücken mit einem Glas oder Becher
       einfangen, unversehrt im Gefrierfach ins Jenseits und anschließend zum
       Leibniz-Zentrum nach Müncheberg befördern. „Diese Daten sind unheimlich
       wertvoll für uns“, sagt Doreen Werner. „Ohne die Citizen Science hätten wir
       die nicht.“
       
       Das Institut hat die Daten, Doreen Werner hat die Arbeit. Sie bestimmt die
       Stechmücken, Kriebelmücken und Gnitzen unter dem Mikroskop. „Mit bloßem
       Auge ist das unmöglich“, sagt sie. „Die Muster, die Punkte auf den Flügeln,
       die Größe, es gibt so viele Merkmale, die man genau unterscheiden muss.“
       Niemand im Institut kennt die so genau wie Doreen Werner. Damit ist sie
       eine ständig gefragte Expertin, sowohl bei den KollegInnen als auch in den
       Medien. Und die wollen seit Jahren nur eines wissen: Wie gefährlich ist die
       [11][Asiatische Tigermücke]?
       
       Die gestreifte Nervensäge ist nicht halb so groß wie unsere Hausmücke, aber
       doppelt so lästig. „Die heimischen Mücken fliegen schüchtern und summend
       an“, erklärt Doreen Werner. „Die Tigermücke hört man erst gar nicht. Sie
       verfolgt ihr Ziel penetrant.“ Die Biologin hat den Blutsauger im Visier,
       weil er etliche Viren übertragen kann, darunter das Dengue-, West-Nil- und
       Zika-Virus.
       
       Spätestens seit dem Zika-Sommer 2016 seien die Leute verunsichert, sagt
       Doreen Werner. Die Tigermücke wird als genauso gefährlich angesehen wie
       damals der Pestfloh, und viele Menschen glauben, schon einmal von einer
       Tigermücke gestochen worden zu sein. Tatsächlich aber landen nur wenige
       echte Exemplare dieser Art unter dem Mikroskop der Expertin.
       
       In fast allen Ländern Europas gilt die Tigermücke als etabliert. In
       Deutschland tritt sie regelmäßig auf. Nachdem seit 2007 über Jahre hinweg
       nur Einzelexemplare gefunden wurden, haben Doreen Werner und ihr Institut
       inzwischen auch größere Populationen nachgewiesen: in Bayern,
       Baden-Württemberg und Berlin.
       
       So geht Doreen Werner jedem Hinweis nach. Identifiziert sie eine
       Tigermücke, fährt sie zum Fundort und untersucht die Umgebung. Sie checkt
       die Lebendfallen, die das Institut zusätzlich aufhängt, und informiert die
       Behörden. Die nehmen dann Regenfässer und Vogeltränken, Eimer und
       Gießkannen unter die Lupe, um zu klären, ob es sich bei der Tigermücke nur
       um einen angeschwirrten Einzelfall handelt oder ob es bereits Larven gibt,
       die als nächste Generation ausschwärmen könnten. Die geschlüpften Mücken
       müssten dann das Blut einer an einem Tropenvirus erkrankten Person saugen
       und sich selbst infizieren, um das Virus übertragen zu können.
       
       Noch ist der Moskito aus Asien aber nicht flächendeckend in Deutschland
       verbreitet. Auch hat es noch keine Ausbreitung von Denguefieber oder einer
       anderen Tropenkrankheit gegeben. „Vor drei Jahren hatten wir einmal einen
       Denguefall in einem Krankenhaus in Freiburg“, erzählt Werner. „Zur selben
       Zeit wurden wir über eine Tigermückenpopulation an einem Friedhof in der
       Nähe informiert.“ Der Patient wurde sofort verlegt, um Erreger und Mücke
       nicht zusammenzubringen. Schließlich muss sich auch eine Mücke erst einmal
       anstecken.
       
       Bis dahin bleibt der Wirbel um die Tigermücke Panikmache. Trotzdem liegt es
       auf der Hand, dass sich die invasive Art ausbreitet – und mit ihr die
       Gefahr von Krankheiten. Der Klimawandel begünstigt dabei die Einwanderung
       oftmals.
       
       Die Geschwindigkeit der Entdeckung neuer Arten ist weltweit rasant
       gestiegen. Tiere und Pflanzen fühlen sich plötzlich an Orten wohl, an denen
       es ihnen Jahre zuvor noch zu kalt, zu nass, zu trocken oder zu heiß gewesen
       wäre.
       
       In [12][Ostafrika] gehen riesige Flächen an Weideland durch eine Mimosenart
       verloren. In Kalifornien explodiert der Schwarze Senf und verwandelt die
       Äcker in ein einziges Dickicht.
       
       Fabian Sittaro hat die Entwicklung in Deutschland erforscht. In seiner
       [13][Doktorarbeit] an der Universität Leipzig verknüpft er Geografie und
       Biologie miteinander, um den Lebensraum von invasiven Pflanzen zu
       kartieren. Die Habitate wurden aus Satellitenbilden erfasst und auf
       klimatische Veränderungen in puncto Temperatur und Niederschlag untersucht.
       „Die Mehrzahl der invasiven Pflanzen werden durch den Klimawandel
       begünstigt“, resümiert der 34-Jährige im Videocall, eine unverwüstliche
       Schusterpalme grünt im Hintergrund.
       
       Am stärksten profitierten die Pflanzen, die noch keinen großen Lebensraum
       für sich beanspruchen: das Kamtschatkaveilchen, der Blauglockenbaum. „Die
       kommen noch nicht häufig in freier Wildbahn vor, weil sie oft nicht so
       frosthart sind.“ Aber das müssen sie ja auch bald nicht mehr sein.
       Umgekehrt würden die bereits als invasiv bekannten Problempflanzen nicht
       viel problematischer. „Der Riesenbärenklau und das Drüsige Springkraut
       werden es in den nächsten fünfzig Jahren deutlich schlechter bei uns
       haben“, so Sittaro.
       
       Seine Karten sollen bald auf einer Website veröffentlicht werden, um zu
       veranschaulichen, an welchen Orten welche Arten welche Effekte haben. „Wir
       müssen genau wissen: Wo ist das Habitat? Wie ist die Ausbreitung? Erst dann
       kann man rechtzeitig und effektiv eingreifen.“
       
       Mit der Modellierung aus Satellitendaten, Fernerkundungsverfahren und
       maschinellem Lernen verschafft Sittaro den ganzen Listen und Plänen des
       Ministeriums überhaupt erst eine Grundlage. „Schwarz-Weiß-Denken und
       emotionale Befindlichkeiten helfen der Debatte nicht“, sagt der Forscher.
       „Daten aber schon.“
       
       Zwanzig Jahre lang war TU-Professor Ingo Kowarik Berlins Landesbeauftragter
       für Naturschutz. Heute weiß er: „Eine Bekämpfung ist theoretisch möglich,
       aber praktisch eine Riesenaufgabe“, sagt er. „Nun ist die Frage: Wohin
       lenke ich meine Energie? Ausschließlich auf die neuen Arten sicherlich
       nicht.“ Laut Kowariks Daten spielen bei der Gefährdung heimischer Pflanzen
       Neophyten eine gar nicht so große Rolle. Intensive Landnutzung und durch
       den Menschen zerstörte Lebensräume lösen Artensterben viel häufiger aus.
       
       „Ich glaube, es lohnt nicht, eine Art an sich zu bekämpfen. Wenn wir
       versuchen, die biologische Vielfalt zu erhalten, muss das auch mit einer
       Aufgeschlossenheit für den Wandel der Natur vereinbar sein.“
       
       Der Wildnis neuen Raum zu verschaffen, werde künftig umso wichtiger.
       Gemeint ist damit nicht nur eine nach unseren Vorstellungen intakte Natur.
       Götterbaum, Bärenklau und Knöterich haben gezeigt, dass sie sich auch auf
       stillgelegten Fabrikanlagen und Aschehalden wohlfühlen, auf vertrockneten
       Feldern, gerodeten Waldflächen und vergifteten Weiden, also an Orten
       Wurzeln schlagen können, die der industriellen Umweltzerstörung zum Opfer
       gefallen sind. Denn die Spezies, die für diese Welt den größten Schaden
       anrichtet, bleibt immer noch der Mensch.
       
       14 Aug 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://enveurope.springeropen.com/articles/10.1186/s12302-023-00750-3
   DIR [2] https://www.agrarheute.com/management/betriebsfuehrung/invasive-arten-verursachen-mehr-116-milliarden-euro-schaeden-584066
   DIR [3] https://www.spektrum.de/news/neuseeland-will-rattenfrei-werden/1417476
   DIR [4] https://www.berlin.de/sen/uvk/natur-und-gruen/jagd-und-wildtiere/wildtiere-im-stadtgebiet/waschbaer/
   DIR [5] /Der-Hausbesuch/!5883123
   DIR [6] https://www.tierschutzbund.de/tiere-themen/wildtiere/invasive-arten
   DIR [7] https://www.senckenberg.de/de/pressemeldungen/invasive-arten-vorsorge-koennte-weltweit-eine-billion-euro-einsparen/
   DIR [8] https://www.bmuv.de/download/erster-aktionsplan-gemaess-artikel-13-der-verordnung-eu-nummer-1143-2014-des-europaeischen-parlaments-und-des-rates-vom-22-oktober-2014
   DIR [9] https://biodiv.de/biodiversitaet-infos/konvention-ueber-die-biologische-vielfalt/aichi-biodiversitaets-ziele-2020.html
   DIR [10] https://neobiota.bfn.de/unionsliste/art-4-die-unionsliste.html
   DIR [11] https://www.umweltbundesamt.de/asiatische-tigermuecke
   DIR [12] https://www.cde.unibe.ch/forschung/cde_reihen/der_kampf_gegen_invasive_fremde_arten_hat_in_ostafrika_erst_begonnen/index_ger.html
   DIR [13] https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1569843222003466
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Philipp Brandstädter
       
       ## TAGS
       
   DIR invasive Arten
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Ökologie
   DIR Umwelt
   DIR Umweltschäden
   DIR IG
   DIR Biologie
   DIR invasive Arten
   DIR Tierschutz
   DIR invasive Arten
   DIR Naturschutz
   DIR Energiekrise 
   DIR invasive Arten
   DIR Schwerpunkt Klimawandel
   DIR Hamburg
   DIR Tierwelt
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Wasserpest-Alarm in Bremen: Angst vor dem grünen Koboldchen
       
       Die Wasserpest, eine invasive Art, verdrängt den Menschen aus dem Bremer
       Werdersee. Anwohner:innen fordern schnelle Lösungen. Die gibt es nicht.
       
   DIR Hysterie wegen invasiver Arten: Die asiatische Hornisse ist halb so wild
       
       Auch in Norddeutschland breitet sich das Insekt aus, wie ein Meldeportal
       zeigt. Die Bekämpfungspflicht wird voraussichtlich 2025 aufgehoben.
       
   DIR Invasive Art in Berlin: Aus für Waschbär-Projekt
       
       Ein tierwohlorientiertes Pilotprojekt sollte die Eindämmung der Berliner
       Waschbärpopulation durch Unfruchtbarmachung erproben. Der Senat sagt: Nein.
       
   DIR Nacktschnecken im Garten: Eine Armada des Schleims
       
       Nach dem Ende der Dürrejahre melden sich die Wegschnecken zurück. Sehr zum
       Leidwesen Berliner HobbygärtnerInnen. Ein Bericht aus der Kampfzone.
       
   DIR Projekt gegen das Pflanzensterben: Ausgesetzt auf der Insel
       
       Mit einem neuen Artenschutzprojekt für seltene Wildpflanzen sollen Bestände
       auf der Pfaueninsel gesichert und etabliert werden. Ein Rundgang.
       
   DIR Prognose zur Gasversorgung im Winter: Es läuft doch
       
       Die Prognose der Bundesnetzagentur zur Gas-Versorgungslage stimmt
       optimistisch. Von wegen, German Angst! Dennoch ist Misstrauen angebracht.
       
   DIR Tigermücke in Berlin: Noch kein Dengue-Alarm an der Spree
       
       Das Land entwickelt Maßnahmen gegen die aus den Tropen eingewanderte
       Tigermücke. Experten warnen aber davor, das Bad mit der Mücke
       auszuschütten.
       
   DIR Blühende Ausstellung im Naturkundemuseum: Empathie für Insekten
       
       Mögen Bienen und Schmetterlinge Kunst? Alexandra Daisy Ginsberg hat
       Bestäubern mit „Pollinator Pathmaker“ einen Garten am Naturkundemuseum
       designt.
       
   DIR Gesundheitsrisiken durch Klimawandel: „Wir sind darauf nicht vorbereitet“
       
       Der Klimawandel bringt Hitze und Infektionserreger mit sich. Das bedeutet
       erhöhte Gesundheitsrisiken auch für die Menschen hierzulande.
       
   DIR Tiere und Pflanzen des Jahres: Immer auch politisch
       
       Wenn Phänomene aus der Natur gesellschaftlich gedeutet werden, wird es
       schnell ungut. Die Tiere und Pflanzen des Jahres sind zum Glück
       fortschrittlicher.