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       # taz.de -- Fünf Jahre Coronavirus: Was von der Pandemie übrig blieb
       
       > Die Coronazeit war bitter, aber sie hat auch gesellschaftlichen
       > Fortschritt gebracht. Und das war mehr als bloß Homeoffice.
       
   IMG Bild: Was bleibt: gemütliche Variante im Homeoffice
       
       Videokonferenzen
       
       „Dieses Meeting hätte eine E-Mail sein können“ war ein beliebter Seufzer in
       der Arbeitswelt vor 2020. Während der Coronapandemie kam die Erkenntnis:
       Auch sehr viele Dienstreisen waren relativ einfach zu ersetzen. [1][Durch
       Videokonferenzen]. Doof für Fluggesellschaften, Hotels und
       Seitensprungambitionen. Praktisch dagegen für Tagesgestaltung,
       Familienleben und Jogginghosenliebhaber*innen. Mittlerweile wissen wir, wie
       unsere Kolleg*innen wohnen, welche Bücher Expert*innen für
       Fernsehinterviews sorgsam in den Regalen hinter sich drapieren – und wie
       befreiend es sein kann, den Irrsinn, den manche Menschen so von sich geben,
       einfach stummschalten zu können.
       
       Klebepfeile in Bahnhöfen
       
       Es heißt ja immer, dass wir in Deutschland alles mit Vorschriften regeln.
       Dafür herrscht allerdings eine erstaunliche Anarchie im öffentlichen Raum,
       sofern man zu Fuß unterwegs ist, und das gilt auch für Bahnhöfe. Wobei es
       doch nur ein paar Metern Klebestreifen bedarf, um Treppen, die zu den
       Bahnsteigen führen, säuberlich in zwei Richtungen zu teilen, ganz wie man
       es von Auto- und Wasserstraßen kennt.
       
       Zu Coronazeiten sollte das vor allem Infektionen verhindern, aber es sorgte
       – gerade zu Stoßzeiten, als an Bahnhöfen dann eben doch mal ein bisschen
       was los war – auch für einen geradezu geordneten Ablauf, ohne dass Menschen
       ineinanderliefen wie die Spieler beim American Football. Die Klebestreifen
       sind oft verblichen, aber immer noch da, manche Menschen halten sich
       unbewusst weiterhin an sie. Und dieses Konzept würde ja überall helfen, in
       Fußgängerzonen oder auf Bürgersteigen, wo man immer noch allzu oft in
       einen kleinen Tanz verfällt, wenn einem jemand entgegenkommt und beide
       mehrfach zur selben Seite auszuweichen versuchen.
       
       Kontaktlos zahlen
       
       Jahrzehntelang lautete das Motto in Deutschland: „Nur Bares ist Wahres“.
       Nun baten Schilder an hiesigen Supermarktkassen darum, statt mit
       virenbefallenem Bargeld möglichst kontaktlos zu bezahlen. Und wir
       übersprangen von einem Tag auf den anderen gleich mehrere Evolutionsstufen
       und wechselten direkt zum Bezahlen per Smartphone. Also: zumindest viele
       von uns. Oder manche. Egal! Die Zukunft hatte begonnen, als Nächstes
       sprossen Self-Scan-Kassen aus dem Boden und inzwischen gibt es gar Cafés,
       die kein Bargeld mehr akzeptieren.
       
       Desinfektionsspender
       
       Eine der ersten Lektionen der Pandemie war die Erkenntnis, dass wir uns
       alle immer viel zu kurz die Hände gewaschen hatten. (Wer zuvor schon mal
       eine öffentliche Toilette besucht hatte, wusste bereits: Ein nicht
       unerheblicher Anteil der Bevölkerung wäscht seine Hände gar nicht.) Jetzt
       [2][sollte man zwei Mal „Happy Birthday“] oder wenigstens den Refrain von
       „Mr. Brightside“ von den Killers singen und ein seltsames Fingerballett
       aufführen, um die Viren (und anderen Dreck) wirklich loszuwerden.
       
       Und wo gerade kein Waschbecken war, standen nun überall diese Spender mit
       Desinfekionsmitteln herum. Manche davon funktionierten sogar mit
       Sensoren, sodass man seine Hände nur nähern musste, und schon wurden diese
       in Eau de Zahnarztpraxis gebadet. Die Welt war ein einziger Krankenhausflur
       geworden, und zum ersten Mal dachten die Leute ernsthaft darüber nach, was
       sie auf dem Weg zur Arbeit alles angefasst hatten und was das für die
       Computertastatur und die Snacks am Schreibtisch bedeutet. Inzwischen wurden
       einige der Desinfektionsspender wieder abgebaut, viele weitere werden nicht
       mehr befüllt, und man braucht keine Studie, um zu ahnen: Diesen Rückschritt
       könnten wir mit einem höheren Krankenstand bezahlen.
       
       Krank sein
       
       Wir lernten, dass die Innenseite des Ellenbogens „Armbeuge“ heißt und man
       dort hineinniesen kann oder sogar sollte (statt in die Hand). Wir gewöhnten
       uns an die Masken in der Öffentlichkeit (oder, zur besseren Unterscheidung
       von Karneval: Mund-Nasen-Bedeckungen) – ein Hoch auf jene, die sie auch
       heute noch aufsetzen, wenn sie sich nicht ganz fit fühlen! Und auf die, die
       auch heute noch darauf verzichten, die ganze Abteilung anzustecken. Denn
       auch das hatten wir gelernt: Menschen mit leichten Erkältungssymptomen
       sollten bitte nicht mehr zur Arbeit kommen, im Sinne aller. Doch kaum hat
       sich die Erkenntnis durchgesetzt, denkt der Chef der Allianz laut darüber
       nach, kranke Arbeitnehmer*innen mit der Androhung finanzieller
       Einbußen wieder an den Arbeitsplatz zu scheuchen.
       
       Homeoffice
       
       Als freier Journalist ist mein Weg zum Arbeitsplatz seit jeher meist der
       vom Bett zum Schreibtisch. Viele andere mussten sich zu Coronazeiten erst
       mal daran gewöhnen, aus der eigenen Wohnung ihrer Arbeit nachzugehen. Aber
       was technisch plötzlich alles möglich war! Unternehmen besorgten in
       kürzester Zeit Hard- und Software, um ihre Angestellten Homeoffice-tauglich
       zu machen. Die wiederum merkten, dass es geilere Sachen gibt, als zu
       pendeln. Manche stellten gar fest, dass es sich förderlich auf die
       Konzentration auswirkt, wenn man nicht acht Stunden auf einen Bildschirm
       starrt, sondern zum Ausgleich zwischendurch mal die Wäsche aufhängt oder
       die Spülmaschine ausräumt. Und als die Kinder zumindest hin und wieder in
       die Kita oder Schule gingen, war es regelrecht entspannt im Homeoffice.
       
       Aber, ach – die ganzen Bürogebäude sind ja gebaut beziehungsweise gemietet,
       und viele Führungskräfte plagten Phantomschmerzen, weil sie ihre
       Untergebenen nicht mehr sahen oder gar mit ihnen in Meetings sitzen
       konnten. Viel von der Freiheit des Homeoffice wurde daher schnell wieder
       einkassiert. Ganz weggehen wird es aber nicht mehr, dafür ist es einfach zu
       gemütlich.
       
       „Stand jetzt“
       
       Zu den zweifelhaften Qualitäten der deutschen Sprache gehört es, wärmste
       Emotionen wie eine gesetzliche Verordnung zu benennen, ein Beispiel:
       „Zusammengehörigkeitsgefühl“. Aber in seltenen Momenten, wenn
       beamtendeutsche Präzision und protestantische Gottergebenheit
       aufeinandertreffen, können Dinge von einer ganz eigenen Schönheit und
       Poesie entstehen – und die Formulierung „Stand jetzt“ gehört definitiv
       dazu. Zwei Worte, die eine ganze Geisteshaltung verkörpern und die durch
       Corona noch geläufiger geworden sind: „Stand jetzt treffen wir uns nächste
       Woche, aber wer weiß, ob es dann nicht wieder eine Ausgangssperre gibt.“
       „Stand jetzt brauchen Zuschauer für das Open-Air-Konzert einen
       Schnelltest.“ Der Satz stellt jede mittel- bis langfristige Planung in
       Frage; es ist alles Gegenwart, alles kann sich sofort komplett verändern.
       Ob weltpolitisch – Kriege, Terror, Pandemien – oder im Privaten, immer kann
       etwas dazwischenkommen und die Einladung zu einer Geburtstagsfeier
       durchkreuzen, sei es ein Trauerfall, eine Erkältung oder einfach die
       völlige Abwesenheit von Bock.
       
       Taylor Swift
       
       Klar, die Sängerin war schon vor der Pandemie ein internationaler Popstar.
       Aber mit ihren Aufforderungen, zu Hause zu bleiben, und der frühen, klaren
       Absage ihrer Welttournee übernahm sie gesellschaftliche Verantwortung – und
       spielte dann in den ersten drei Monaten des Lockdowns einfach mal ein
       Meisterwerk ein: „Folklore“ wurde zum Soundtrack des ersten Coronasommers
       und überzeugte selbst jene, die Swifts Musik bisher kritisch
       gegenübergestanden hatten. Mit „Evermore“ kam ein paar Monate später noch
       so ein großer Wurf. Und so war die Pandemie der Beginn von Taylor Swifts
       Wandel von einem Popstar zu dem größten Popstar unserer Gegenwart.
       
       Selfcare auf Social Media
       
       Sauerteig, Malbücher, Stricken, Linolschnitt – [3][plötzlich brauchten wir
       alle ein indoorfähiges Hobby]. Und noch dazu Schaumbäder, Gesichtsmasken
       sowie wahlweise Detox oder Daytime Drinking. Für einen kurzen Moment war es
       nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern sogar geboten, an sich
       selbst zu denken: Nur nicht verrückt werden bei all den Nachrichten,
       Veränderungen und Unsicherheiten! Soziale Medien wurden zu dem Ort, an dem
       wir zusammenkamen; gemeinsam allein. Aber auf Social Media konnte man auch
       all den Impfgegnern begegnen, die sich auf zweifelhaften Kanälen
       „fortgebildet“ hatten. Also jene Orte, an denen Elon Musk und Mark
       Zuckerberg heute Falschinformationen und Hetze nicht nur erlauben, sondern
       sogar vorantreiben. Also aus Trotz wieder mehr Sauerteig posten!
       
       26 Jan 2025
       
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