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       # taz.de -- Gaza-Tagebuch: Wir müssen aus der „Pufferzone“ fliehen
       
       > Unser Autor kämpft weiter. Eines ist klar: Seine Familie und er müssen
       > Gaza verlassen, denn der Tod ist nur einen Augenblick entfernt.
       
   IMG Bild: Palästinenser unterwegs in Gaza Stadt während eines Staubsturms am 30.April 2025
       
       Gaza taz | [1][Tage voller Tod]. Das Dröhnen der Granaten. Die Drohnen der
       Flugzeuge. Wir hätten nie gedacht, dass wir unser Haus nach dem
       Waffenstillstand wieder verlassen müssten. Als wir zurückkehrten und unser
       Haus nur teilweise beschädigt vorfanden, freuten wir uns; wenigstens bot es
       uns etwas Schutz vor der Kälte und der sengenden Hitze, der wir zuvor in
       den Zelten ausgesetzt waren. Doch die Hoffnung, von nun an vor Kälte und
       Hitze geschützt zu sein, zerplatzte: Die Besatzung gab einen neuen
       Evakuierungsbefehl für den den Stadtteil Al-Shujaiya von Gaza-Stadt
       bekannt.
       
       Al-Shujaiya ist jetzt [2][Teil des Gebiets], das Israel zur „militärische
       Pufferzone“ erklärt hat. Das Gebiet hat sich in den letzten Wochen in
       seiner Größe verdoppelt.
       
       Alle bekamen es mit der Angst zu tun und sammelten ein, was sie mit bloßen
       Händen tragen konnten. Der Transport war fast unmöglich – wegen des
       Treibstoffmangels, der Dieselknappheit und der fehlenden Gasflaschen fuhren
       keine Fahrzeuge. Ich schickte meinen Bruder los, um zwei Kilo Benzin für
       unser Auto zu kaufen, damit wir weiterfahren konnten. Fünfzehn Minuten
       später kam mein Bruder Amir mit den Gasflaschen zurück; er sagte mir, er
       habe fünfundfünfzig Dollar pro Kilo bezahlt.
       
       [3][Eine Zeitlang standen wir auf der Straße und wussten nicht, wohin wir
       gehen sollten]. Ich hatte mein Handy bei unserem Nachbarn aufgeladen und er
       war auf den Markt gegangen, also wartete ich auf ihn, nachdem ich den
       Evakuierungsbefehl gehört hatte. Plötzlich stand die Straße Kopf: Eine
       Rakete schlug in der Nähe unseres Hauses ein.
       
       Zuerst dachten wir, unser Haus sei wieder getroffen worden, denn wir
       konnten durch den aufgewirbelten Staub nichts sehen. Ich versuchte, durch
       den Staub zu unserem Haus zu kommen, weil meine Schwestern allein dort
       waren, aber es gelang mir nicht – und so wartete ich in der Nähe.
       
       Kurze Zeit später betraten wir wieder das Haus und fanden meine Schwestern
       körperlich unversehrt vor, doch der Schrecken stand ihnen ins Gesicht
       geschrieben. Shimaa sagte zitternd: „Ich habe die Flammen der Rakete
       gesehen, als sie das Nachbarhaus traf. Wir haben die Lebensmittel und
       Kleidung, die wir tragen können, in Kisten gepackt.“
       
       ## In Gaza lebt man mit dem Tod
       
       Ich trat wieder auf die Straße. Der Sohn unseres Nachbar drückte mir seinen
       Neffen in die Hand. Dessen kleiner Körper war über und über mit Staub
       bedeckt. „Rette ihn, Esam“, sagte sein Onkel. Ich stürzte auf die Straße
       und begann zu laufen; ich musste eine halbe Stunde zu Fuß zurücklegen, um
       das Krankenhaus zu erreichen. Es gab keine Krankenwagen oder Autos, um die
       Verwundeten zu transportieren. Meine Gedanken schweiften ab – nicht, weil
       ich den Weg zum Krankenhaus nicht kannte, sondern weil meine Familie noch
       im Haus war und wir das Haus sofort verlassen mussten, aber das Kind in
       meinen Armen blutete.
       
       Ich fühlte mich gefangen zwischen dem drohenden Tod meiner Familie – denn
       die Armee würde nicht lange nach dem Evakuierungsbefehl warten – und dem
       blutenden Kind. Es war, als würde ich in die Dunkelheit laufen,
       unausgeglichen und taumelnd. Unterwegs sah mich ein Mann aus der Gasse,
       nahm das Kind und trug es ins Krankenhaus. Ich kehrte nach Hause zurück, um
       unsere Vorbereitungen zu beenden.
       
       Wir luden all unsere Habseligkeiten auf den Dachgepäckträger und in den
       Kofferraum, ließen den Motor an und fuhren los. Wir mussten erst einmal
       Al-Shujaiya verlassen und dann entscheiden, wohin wir fahren wollten. Als
       wir das Viertel hinter uns gelassen hatten, rief meine Tante an: „Kommt zu
       uns.“ Sie wohnt in Tal al-Hawa, ebenfalls ein Stadtteil von Gaza-Stadt.
       
       Ich denke an nichts anderes, als darüber, wie ich mit meiner Familie dieses
       Inferno überleben kann. Wir müssen Gaza verlassen, auf jeden Fall. Denn
       hier leben wir jeden Augenblick mit dem Tod.
       
       Esam Hani Hajjaj (28) kommt aus Gaza-Stadt und ist Schriftsteller und
       Dozent für kreatives Schreiben für Kinder. Nach Kriegsausbruch ist er
       innerhalb des Gazastreifens mehrfach geflohen. 
       
       Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in
       den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen
       wir Stimmen von vor Ort ein. Es erscheint meist auf den Auslandsseiten der
       taz.
       
       2 May 2025
       
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   DIR Esam Hajjaj
       
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