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       # taz.de -- Geflüchtete an EU-Außengrenze: „Ich schäme mich für Europa“
       
       > Der grüne Europaabgeordnete Erik Marquardt ist auf der griechischen Insel
       > Lesbos, wo Geflüchtete ankommen. Er schildert dramatische Szenen.
       
   IMG Bild: Die griechische Küstenwache eskortiert ein Flüchtlingsboot vor Lesbos
       
       taz: Herr Marquardt, Sie sind auf Lesbos, der griechischen Insel, auf der
       im Moment Geflüchtete aus der Türkei ankommen. Warum sind Sie dort? 
       
       Erik Marquardt: Ich bin seit Dienstag hier und wollte mir ursprünglich die
       Zustände in dem Flüchtlingslager Moria ansehen. Eigentlich ist das Camp für
       3.000 Geflüchtete ausgelegt, aber aktuell leben hier 20.000 Leute – davon
       rund 7.000 Kinder.
       
       Wie ist die Situation in Moria? 
       
       Fürchterlich. Alles ist voller Dreck und Schlamm, die hygienischen Zustände
       sind eine Katastrophe. Kinder spielen zwischen Müllbergen. Nachts wird es
       empfindlich kalt, die Menschen schlafen in unbeheizten Zelten und haben
       keine ausreichende medizinische Versorgung. Europa duldet ein Camp, das
       weit unter europäischen Standards liegt.
       
       Der türkische Präsident Erdoğan schickt seit Samstag Geflüchtete aus der
       Türkei an die europäische Grenze. Wie wirkt sich das auf Lesbos aus? 
       
       Die Küste von Lesbos ist nur rund zehn Kilometer von der türkischen Küste
       entfernt – hier sind immer wieder Schlauchboote mit Geflüchteten
       angekommen. Am Samstag war das Wetter zu schlecht für Überfahrten. Aber
       heute, am Sonntag, sind viele Boote angekommen. 30 bis 50 Leute sitzen
       darin dicht gedrängt, viele haben keine Rettungswesten.
       
       Können sie problemlos an Land gehen? 
       
       Nein. Bei einem Boot war offenbar der Motor ausgefallen, es trieb am
       Sonntagvormittag in Sichtweite vor der Küste von Lesbos, nicht mehr
       navigierbar. Die griechische Küstenwache unternahm nichts, obwohl die
       Menschen darauf in Lebensgefahr schwebten. Ich rief daraufhin die
       Seenotrettungsleitstelle an.
       
       Wie reagierte die Leitstelle? 
       
       Anfangs mit Ausflüchten. Die logen das Blaue vom Himmel herunter. Ein
       Beamter sagte, das Boot treibe nicht in griechischen, sondern in türkischen
       Gewässern. Das war aber offensichtlicher Unsinn. Dann hieß es, das Boot
       müsse den Notruf selbst absetzen. Aber auch das ist falsch. Ich beschäftige
       mich seit Jahren mit Flüchtlingspolitik und kenne mich aus. Mit einem
       Mayday Relay kann man einen Notruf für ein anderes Schiff weiterleiten.
       
       Wie ging diese dramatische Geschichte aus? 
       
       Nachdem ich mehrfach telefoniert und Bilder von meinem Smartphone geschickt
       habe, schleppte die Küstenwache das Boot schließlich in einen Hafen. Dort
       hinderte die lokale Bevölkerung die Geflüchteten zunächst daran,
       auszusteigen. Auch die Eltern mit Kindern. Die MitarbeiterInnen der
       Küstenwache schauten wieder tatenlos zu.
       
       Wie ist die Stimmung in der lokalen Bevölkerung? 
       
       Die Stimmung ist hier sehr gereizt. Gruppen junger Männer ziehen umher. Sie
       haben sich vermummt und bedrohen JournalistInnen oder MitarbeiterInnen von
       Hilfsorganisationen. Auch ich wurde beschimpft und angerempelt. Ein Freund
       von mir, der als freier Journalist arbeitet, wurde am Sonntag
       krankenhausreif geschlagen. Ich verstehe den Unmut der Bevölkerung, die
       Inseln werden seit Jahren im Stich gelassen. Aber das ist natürlich keine
       Legitimation für Gewalt. Eigentlich sollte die lokale Bevölkerung zusammen
       mit den Geflüchteten gegen die Zustände demonstrieren.
       
       Warum hilft die Küstenwache nicht engagiert? Sie ist nach internationalem
       Recht zur Hilfeleistung verpflichtet. 
       
       Ich kann mir vorstellen, dass es politischen Druck gibt, nicht zu helfen.
       
       Haben Sie für diese Behauptung einen Beleg? 
       
       Die griechische Regierung hat angekündigt, dutzende Kriegsschiffe in die
       hiesigen Gewässer zu entsenden – einige habe ich auch schon gesehen.
       Militär bringt eigentlich nichts, wenn man Geflüchtete abwehren will.
       Sobald Flüchtlingsboote in griechischen Gewässern sind, müssten ihnen ja
       auch die Kriegsschiffe helfen, ob sie es nun wollen oder nicht. Ich kann
       mir das nur so erklären, dass es um Drohgebärden geht, die einen
       politischen Willen ausdrücken.
       
       Wie geht es Ihnen mit Ihren Beobachtungen? 
       
       Ich schäme mich für Europa. Hier kommen erschöpfte Hilfsbedürftige an, und
       die Menschen rufen ihnen zu: Fahrt zurück in die Türkei! So etwas dürfen
       wir nicht hinnehmen.
       
       Was muss politisch passieren? 
       
       Erdoğan versucht die EU zu erpressen. Darauf muss es eine gemeinsame,
       europäische Antwort geben. Ganz wichtig wäre, schnell humanitäre Hilfe zu
       leisten. Die Geflüchteten an der türkisch-griechischen Landgrenze brauchen
       Unterstützung. Außerdem wäre es sinnvoll, Geflüchtete von den griechischen
       Inseln zu evakuieren und ihre Asylverfahren anderswo zu entscheiden. Sonst
       kann die Lage hier eskalieren.
       
       1 Mar 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Ulrich Schulte
       
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