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       # taz.de -- Gefühle in der politischen Bildung: Her mit den Emotionen!
       
       > Viele Debatten über Migration oder Rassismus leiden unter aufgeputschten
       > Gefühlen. Auch die Bundeszentrale untersucht das Thema für sich.
       
   IMG Bild: Was löst das Bild für ein Gefühl aus?
       
       Leipzig taz | „Ich habe mir immer gewünscht, dass man Rassismus mit Bildung
       überwinden kann“, sagt Mo Asumang. Die Afrodeutsche ist durch Deutschland
       und die Welt gereist, um sich mit Neonazis und Rassisten zu treffen und zu
       verstehen, warum sie andere Menschen beschimpfen und bekämpfen. Menschen,
       die so aussehen wie Mo Asumang. Menschen mit dunklerer Haarfarbe. Asumang
       trifft rechtsextreme Demonstranten, die ihr nahelegen zu verschwinden, oder
       einen NPD-Funktionär, der sagt, sie müsse zurück nach Hause. Er würde ihr
       beim Kofferpacken helfen, da sei er ganz Gentleman.
       
       Die ehemalige Moderatorin der ProSieben-Erotiksendung „Liebe Sünde“ hat
       darüber einen Film gemacht und ein Buch geschrieben und geht regelmäßig in
       Schulklassen, um darüber zu diskutieren. „Lehrer und Schüler sind erst
       einmal irritiert und verstehen nicht, warum ich das mache“, sagt sie. Doch
       die Schüler bekämen dann ein gutes Verständnis für ihre Situation.
       „Rassisten bringen einem aus dem Gleichgewicht“, sagt Asumang, „dieses
       Gefühl verstehen Schüler gut.“ Sie versucht, wegen der Rassisten nicht aus
       dem Gleichgewicht zu kommen. Dass das nicht leicht ist, wenn sie einem den
       Tod wünschen, macht ihren Ansatz für den Unterricht so interessant.
       
       „Politische Bildung darf, soll und kann emotionale Zugänge haben“, sagt
       Annette Petri. Sie ist Studiendirektorin am Gymnasium Gernsheim und hat
       ausführlich zu „emotionssensiblem Politikunterricht“ geforscht. Ihren
       Ergebnissen nach dürfe man die emotionale Komponente politischen Lernens
       und Lehrens nicht weiterhin dem Zufall überlassen. Mehr Emotionalität führe
       nicht dazu, dass die politische Bildung das Leitbild der Rationalität in
       Frage stelle oder sich postfaktischen Zeiten zuwende.
       
       Dabei wächst gerade in der Politik die Angst vor postfaktischen Zeiten, in
       denen Gefühle eine größere Rolle spielen als Tatsachen. Es gibt „Wutbürger“
       und Pegida-Demonstranten, die ihren Zorn rausbrüllen. Es gibt zügellosen
       Hass im Internet gegenüber anderen Meinungen und Andersdenkenden. Es gibt
       extremistische Parolen, alternative Fakten vom US-Präsidenten und die AfD,
       die in ihrem Wahlkampf und ihren Bundestagsreden stark auf Emotionen setzt.
       
       ## Wie soll politische Bildung damit umgehen?
       
       Wie soll nun die politische Bildung mit diesen emotionalisierten
       Auseinandersetzungen in der Gesellschaft umgehen? Das fragt sich auch die
       Bundeszentrale für politische Bildung, die zu dem Thema ihren
       Bundeskongress in Leipzig veranstaltet und das Buch „Politische Bildung mit
       Gefühl“ herausgebracht hat. In der Ausstellung „Die Macht der Gefühle“
       zeigt sie zudem an vielen historischen Ereignissen der letzten hundert
       Jahre, dass es in der Politik schon immer hochemotionale Phasen gab –
       Proteste der Anti-AKW-Bewegung, der Kniefall von Willy Brandt, Reden von
       Franz Josef Strauß, Widerstand gegen das SED-Regime.
       
       Auch der Hass gegen Ausländer, Andersdenkende und Anhängern von Religionen
       ist in der deutschen Geschichte bekanntlich nichts Neues. „In der
       Gesellschaft gab es immer schon ein stabiles Reservoir an
       menschenfeindlichen Einstellungen, das sich nicht nur an Geflüchteten
       entzündet“, betont Jonas Rees von der Universität Bielefeld. „Die Frage ist
       daher nicht, wo sie herkommen, sondern wieso sie sich jetzt vermehrt in
       Reden und Taten äußern.“ Rees nimmt eine Normverschiebung wahr, in der
       Dinge wieder aussprechbar und auslebbar sind, die man vor ein paar Jahren
       nicht öffentlich gesagt hätte. Ein Mittel dafür ist das Internet. „Das
       macht es den Leuten leichter“, sagt Rees, „dort klingen sie lauter.“
       
       In einigen Gegenden, wie zum Beispiel Sachsen, kommt hinzu, dass viele
       Kommunalpolitiker mit demokratischen und politischen Prozessen nicht
       vertraut sind. „Wir haben über Einwanderung nicht gesprochen, daher sind
       die Leute nicht vorbereitet“, sagt Sachsens Integrationsministerin Petra
       Köpping und erzählt eine Anekdote aus einer sächsischen Kleinstadt: Nachdem
       ankündigt wurde, dass die Stadt Geflüchtete aufnehmen muss, haben sich
       Bürger versammelt, um zu demonstrieren.
       
       Zwei Demos stehen sich gegenüber: Die einen wollen die Fremden nicht im Ort
       haben, die anderen setzen sich für Willkommenskultur ein. Als Köpping
       ankommt, sucht sie den Bürgermeister. „Der sitzt im Gebüsch“, sagen die
       Leute. Tatsächlich findet Köpping ihn dort, wie er sich versteckt. „Er
       wusste einfach nicht, auf welche Seite er gehen soll“, erzählt Köpping,
       „denn beide Seiten waren doch seine Leute.“ In Sachsen gab es kaum
       politische und demokratische Bildung, erst seit einem Jahr setzt man auch
       hier darauf.
       
       Aber wo soll man in der emotional aufgeheizten Stimmung mit der emotionalen
       politischen Bildung anfangen? Ein beliebter Ansatz im Schulunterricht sind
       Besuche einer Gedenkstätte. „Aber die sorgen für schlaflose Nächte von
       Lehrern“, sagt Lehrerin Petri. Denn groß sei die Angst, dass die Schüler
       sich dort nicht benehmen. Professor Volkhard Knigge kennt dieses Problem.
       „Gedenkstätten gelten per se als emotionalisierend“, sagt der Direktor der
       Gedenkstätte Buchenwald, „aber dem ist nicht so. Gedenkstätten können
       langweilig sein.“ Schließlich gebe der zeitliche Abstand eine große Distanz
       und Jugendliche trotzten gerne mal gegen von ihnen erwartete Gefühle.
       „Darüber muss man dann auch sprechen“, findet Knigges Kollege Patrick
       Siegele vom Anne-Frank-Zentrum in Berlin, „woher kommt die Langeweile oder
       das Desinteresse?“
       
       Dabei bietet sich Anne Frank für einen emotionalen Zugang zur Geschichte
       des Nationalsozialismus an, schließlich schreibt das junge Mädchen in ihrem
       Tagebuch über ihre eigenen Gefühle. „Die muss man dann mit
       Wissensvermittlung kombinieren: Wieso muss sie sich verstecken?“, sagt
       Siegele. Bildung über Empathie zu vermitteln berge aber auch immer das
       Risiko der Überidentifikation mit dem Opfer: „Wenn man sich nur mit dem
       Opfer identifiziert, hinterfragt man nicht die Täter und nicht sich
       selbst“, sagt Siegele. „Anne Frank war in den Fünfzigern der beste Weg,
       sich nicht mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen zu müssen“, sagt
       auch Knigge. „Man konnte einfach ein bisschen Anteil nehmen und das war’s.“
       Jahrzehntelang habe man Zeitzeugen nicht hören wollen, weil sie Zeugen der
       Anklage waren. Aber genau darin liege ihr Wert, sagt Knigge. Dass die
       meisten Zeitzeugen bereits gestorben sind, sieht der Gedenkstätten-Leiter
       nicht als große Einschränkung bei der Bildungsarbeit. „Ihre Berührungskraft
       ist unersetzlich, aber die Auseinandersetzung im Bildungsprozess findet
       längst anders statt.“ Mit Aufzeichnungen, Archivmaterial und restauriertem
       Wissen.
       
       Wichtiger, als sich mit dem Opfer zu identifizieren, sei zu hinterfragen,
       welche Handlungsspielräume die Einzelnen im gesellschaftlichen System
       hatten und haben, findet Siegele. Darüber nachzudenken sei ein wichtiger
       Punkt politischer Bildung. „Man muss auch immer fragen: Wie kann man diese
       Demokratie bewahren, damit es nicht so weit kommt wie in der NS-Zeit?“ Das
       wollen gar nicht alle. Knigge hat Neonazis, die nach einem Buchenwaldbesuch
       und tagelangen Seminaren immer noch von der NS-Diktatur überzeugt waren,
       gefragt, was sie selbst denn heute vom Nationalsozialismus hätten.
       
       Ihre Antwort: Respekt. „Es lohnt sich, nachzufragen, worum es eigentlich
       geht“, sagt Knigge. „Dann kann man darüber reden: Wie erhält man Respekt in
       einer Gesellschaft, die einerseits vom Sozialdarwinismus lebt, aber
       andererseits einen moralischen Überbau predigt, der damit nichts zu tun
       hat. Wie soll man denn für Jugendliche solche Widersprüche auflösen?“ Es
       bräuchte mehr Zeit für Diskussionen – die fehlt an den meisten Schulen
       aber. Gedenkstättenbesuche seien auch nicht immer die Lösung. „Manche
       Besucher müssen wir anzeigen“, sagt Knigge. „Wir können nicht alles
       pädagogisch auflösen.“
       
       Und auch Mo Asumangs Wunsch, Rassismus mit Bildung zu überwinden, ging
       nicht in Erfüllung. Ein Besuch bei einer Burschenschaft voller studierter
       junger Männer, die bei einen Fackelmarsch an der thüringischen Wartburg
       Lieder zum Wohle des Vaterlands singen, hat gereicht. Sie sagen ihr klar:
       Einen Schwarzen würden sie nicht aufnehmen.
       
       28 Mar 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Juliane Streich
       
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