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       # taz.de -- Gefühlsgeschichte der Migration: Tiefgang der Emotionen
       
       > Mohammad Sarhangi verbindet Exklusionserfahrungen und
       > Emotionsforschung. Seine Studie „Jahre der Angst, Momente der Hoffnung“
       > ist wichtig.
       
   IMG Bild: Nachdenken über Habitus und soziale Felder: Autor Mohammad Sarhangi
       
       Das deutsche Politikhandwerk ist eines der Kältetechniker. Wann immer die
       gesellschaftliche Temperatur sich aufzuheizen droht, reagieren Politiker
       mit Eiseskälte. Auf das [1][Attentat in Solingen] antwortete eine
       informelle Koalition von Markus Söder bis Sahra Wagenknecht damit, das
       individuelle Asylrecht infrage zu stellen: Angst essen Seele auf, und
       Grausamkeiten heilt man mit Grausamkeiten.
       
       Eine Mehrheitsgesellschaft, deren emotionaler Avatar ein hanseatischer
       Roboter-Bundeskanzler ist, macht abweichende Gefühlslagen und soziale
       Regungen unsichtbar und verunglimpft all jene, die sich nicht ins
       Kälteregime eingliedern wollen. Glücklicherweise gibt es Bücher wie „Jahre
       der Angst, Momente der Hoffnung“ von Mohammad Sarhangi, die eine
       intellektuelle und emotionale Gegenöffentlichkeit bilden.
       
       Seine „Gefühlsgeschichte der Migration“ beginnt bei der Geschichte seiner
       Familie, die während des Ersten Golfkriegs aus Iran nach Deutschland als
       Asylsuchende gekommen ist. Für die Familie beginnt ein Prozess, der von der
       Hoffnung auf ein Leben ohne Krieg und der Angst vor der Ablehnung geprägt
       ist: Ablehnung als emotionale Reaktion der Mehrheitsgesellschaft, aber auch
       juristische Ablehnung durch die deutsche Asylbürokratie. Mohammad Sarhangi
       erzählt, wie sein Vater heute noch Angst vor dem Gang zum Briefkasten hat,
       wie sich die Angst tief in seinen Körper einschrieb.
       
       Sarhangi bezeichnet sein Buch als Textcollage, und so ist es auch
       strukturiert: Autobiografische Schilderungen wechseln sich mit
       theoretischen Vorarbeiten zur Emotionsforschung ab, gehen über in Analysen
       zum hiesigen Migrationsdiskurs und münden wieder im Autobiografischen.
       
       Dabei räumt der Autor seine Limitierungen freimütig ein: Sein Text
       fokussiert sich vor allem auf die Gefühlswelten von Migrantinnen aus
       muslimisch-geprägten Ländern, andere Erfahrungen, zum Beispiel der
       [2][Vertragsarbeiter der ehemaligen DDR,] spart er aus.
       
       ## Gefühle sind sozial geprägt
       
       Seine Expertise ist aber unbestritten, unter anderem war er
       mitverantwortlich für das „Archiv der Flucht“, entstanden am Berliner Haus
       der Kulturen der Welt, aktuell arbeitet er am Zentrum für
       Antisemitismusforschung der TU Berlin.
       
       Laienfreundlich führt er in den aktuellen Forschungsstand der
       Emotionsforschung ein und zeigt auf, dass Emotionen nicht nur Regungen
       sind, die dem Menschen als Werkeinstellung mitgegeben, sondern historisch,
       sozial und politisch geprägt werden. Es ist daher nur einleuchtend, dass
       die spezifischen Erfahrungen der Migration auch spezifische Emotionswelten
       hervorbringen. So führt er das Beispiel des Begriffs „Buufis“ an, ein unter
       [3][somalischen Geflüchteten] entstandenes Wort, das einen Zustand zwischen
       Hoffnung und Hoffnungslosigkeit beschreibt.
       
       Anders als andere Wissenschaftsautoren traut sich Mohammad Sarhangi, sich
       selbst sichtbar und somit verletzbar zu machen. Er erzählt von seinen
       ersten Erfahrungen der Exklusion – Kinder, die nicht mit „Ausländerkindern“
       spielen wollen – und macht deutlich, wie die ständige Exklusionserfahrung
       irgendwann zur Selbstexklusion führt: Es gibt den Punkt, an dem
       wiederkehrende Kränkungen deutliche Spuren in Identitäten hinterlassen und
       schließlich zur Identität selbst werden.
       
       Sarhangi geht den Weg ins akademische Feld und sieht sich habituell doch
       nie ankommen. Ein Nebenjob in einer Spülküche wird ihm zum Ruheort, eine
       Situation ohne Störgefühle.
       
       ## Härte produziert immer mehr Härte
       
       Mohammad Sarhangis Buch ist deswegen so gelungen, weil der Autor sich als
       Verbindungskünstler beweist. Das Nachdenken über Habitus und soziale
       Felder, das aus der französischen Theorietradition kommt, bringt der Autor
       mit jüngeren migrantischen Stimmen ins Gespräch. Autobiografische
       Selbstbetrachtungen verspinnt er mit dem Tiefgang in die Emotionsforschung,
       so dass am Ende nicht nur intellektuelles Verstehen, sondern empathisches
       Nachfühlen steht.
       
       Mit dem Erstarken der AfD wird es in Deutschland nur noch kälter. Sarhangi
       weist darauf hin, dass es bislang noch nie so war, dass Härte Weichheit
       produziert hat, sondern immer nur weitere Härte. Auf den Asylkompromiss
       1993 folgte das Erstarken der NPD und DVU. Doch die deutschen
       Kältetechniker bereiten immer noch größere Härten vor, bis sich irgendwann
       die kühnsten rechten Hoffnungen ganz von allein erfüllt haben. Umso
       wichtiger sind Bücher wie dieses hier.
       
       18 Nov 2024
       
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