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       # taz.de -- Gekommen um zu kicken: Gast-Fußballer ohne Rückwärtsgang
       
       > Vor 50 Jahren gründeten italienische VW-Arbeiter den ersten deutschen
       > Gastarbeiter-Sportverein. Die Männer aus den Baracken haben sich nicht
       > zuletzt auf dem Rasen integriert
       
   IMG Bild: Solche Bilder aus der Geschichte von Deutschlands erstem Gastarbeiter-Fußballverein bewahrt Rocco Lochiatto, Vorsitzender der U.S.I. Lupo-Martini in seinem Archiv auf.
       
       WOLFSBURG taz | Armando Gobbato ist 73 und in einem Dorf in der Gegend von
       Bergamo geboren. Er war einer der ersten „Gastarbeiter“ in Wolfsburg. Als
       er ankam, sah er aus wie die Skulptur „L’Emigrante“ von Quinto Provenziani
       auf dem Willy-Brandt-Platz vor dem Wolfsburger Bahnhof: kleiner Koffer,
       kleiner Mann, Anzug. In Gobbatos Koffer waren „ein paar Hosen, ein paar
       Hemden, ein Pyjama“. Sein Vater hatte ihn in Bergamo aufs Gymnasium
       geschickt. „Ich wusste bald, dass ich das nicht packe“, sagt er.
       
       Er ist in die Schweiz gegangen, sein Vater hat den dafür notwendigen Pass
       nur deshalb für ihn beantragt, weil Armando versprach, „dann die Schule
       durchzuziehen“. Gobbato ging nach Genf, arbeitete, lernte Französisch, und
       kam mit 23 zurück. „Dann war ich volljährig und mein Vater konnte mir
       nichts mehr sagen“, sagt Gobbato und nippt an seinem Grappa.
       
       Wir sitzen unter einem großen Foto von Andrea Barzagli, der für den VfL
       Wolfsburg gespielt hat, und jetzt für Juventus Turin. Er war mal hier zu
       Gast, bei der U.S.I. Lupo-Martini Wolfsburg, dem ältesten
       „Gastarbeiterclub“ Deutschlands. Feiert dieses Jahr fünfzigsten Geburtstag.
       Luca Toni war auch mal da, und Cristian Zaccardo, einer der Spieler, die
       Trainer Felix Magath auf dem Gewissen hätte, hätte er eins.
       
       Gobbato erzählt, dass in der Zeitung von Bergamo stand, dass in Deutschland
       Arbeitskräfte gesucht werden. Gobbato meldete sich in Verona. „Ich wurde
       untersucht“, sagt er, Kranke wollten sie in Deutschland nicht haben. In
       Verona waren auch Vertreter der Betriebe, die Arbeitskräfte suchten. Einer
       fragte: „Wer will Volkswagen?“ Gobbato wollte.
       
       Er kam nach Wolfsburg, lebte in einer Baracke im Lager Berliner Brücke.
       „Die Deutschen“, sagt er, „wollten das Wort Lager nicht hören. Aber es war
       ein Lager.“ Die Italiener sollten Gäste sein: Konjunktur gut, Arbeitskräfte
       her, Konjunktur schlecht, Arbeitskräfte wieder weg.
       
       „Im Lager gab es einen Werkschutz und Sperren“, erinnert sich Gobbato. Man
       brauchte einen Ausweis, um rein und wieder rauszukommen. Auf zwölf
       Quadratmetern lebten vier Mann, Etagenbetten, ein Tisch, vier Stühle, ein
       Schrank für jeden. Kleiner Schrank. Geduscht wurde im Werk. Er arbeitete an
       einer Maschine, für 150 Mark im Monat. Im Jahr 1967 ist er zu einer
       deutschen Familie gezogen.
       
       Wie war das Verhältnis zu den Deutschen? „Oh ja, oh ja“, sagt er, „sie
       haben uns Badoglio genannt.“ Ein paar Deutsche glaubten, den Krieg nur
       verloren zu haben, weil die Italiener, vor allem Marschall Pietro Badoglio,
       zum Feind übergelaufen waren, und nun deutsche Truppen nach Italien
       geschickt werden mussten, weshalb die Ostfront nicht gehalten werden
       konnte. Wie es wirklich war und welche Verbrechen die Deutschen in Italien
       begangen hatten, wollte in den frühen Sechzigern keiner wissen.
       
       Es gab Witze wie den, dass die italienischen Panzer einen Gang mehr haben:
       Rückwärtsgang. Darüber lachen Gobbato und Rocco Lochiatto, 61, seit drei
       Jahren im Ruhestand und erster Vorsitzender der U.S.I. Lupo-Martini.
       
       Dann gab es Spaghetti in der VW-Werkskantine, und andere Pasta, bei
       „Hertie“ gab es italienische Waren, und einen Dolmetscher, der den
       Italienern, die noch kein Deutsch konnten, alles erklärte. Es gab eine
       italienische Eisdiele, schon lange, und nun auch ein paar Restaurants. Es
       gab deutsche Lokale, „die was Italienisches versucht haben“, sagt
       Lochiatto, „wir haben hier nicht schlecht gelebt“. Gobbato nickt und nippt
       an seinem Grappa.
       
       „Die haben sich bemüht und die Integration ist gelungen“, findet Lochiatto.
       Die Gewerkschaft, die IG Metall, bei der viele italienische Kollegen
       Mitglied waren, so, wie zu Hause, half auch. Gobbato und Lochiatto, der bei
       VW in der Lackiererei arbeitete, waren beide Betriebsräte – „für alle,
       nicht nur für die Italiener“, sagt Lochiatto.
       
       Italiener in Wolfsburg, das hatte Tradition. Im Jahr 1938, als das
       Verhältnis zwischen dem faschistischen Italien und dem
       nationalsozialistischen deutschen Reich noch ungetrübt war, hatten 50 bis
       60 Fachkräfte aus Norditalien die ersten Häuser der neuen Stadt und das
       Volkswagenwerk gebaut. Gobbato weiß noch, wie er, als er mal in Bergamo
       war, einen alten Mann traf, der ihn fragte, wo er arbeitet. „Wolfsburg“,
       sagte Gobbato, der Alte zuckte mit den Schultern. Gobbato fragte den Alten,
       wo er in Deutschland war. „Fallersleben“, sagte der.
       
       Irgendwann waren 6.500 Italiener in Wolfsburg, und in den siebziger Jahren
       über 10.000. Die Zahl der Baracken wuchs. Im Jahr 1962 wurde der
       Fußballclub I.S.C.-Lupo gegründet, in den Baracken. Jede Baracke hatte eine
       Mannschaft, die gegen eine andere Baracken-Mannschaft spielte.
       Untereinander eine Meisterschaft, gegen deutsche Clubs nur
       Freundschaftsspiele. In deutschen Amateur-Mannschaften war nur ein
       Ausländer erlaubt.
       
       Dann wurde die Satzung des Niedersächsischen Fußballverbands geändert, und
       in niederen Klassen durften elf Ausländer spielen. 1970 wurde die
       U.S.-Martini gegründet, ein zweiter italienischer Verein; 1981 fusionierten
       beide zu Lupo Martini, heute ein reiner Fußballclub mit 500 Mitgliedern und
       zwei Boccia-Bahnen für die Alten. Als Oberligist ist man, nach dem VfL, die
       zweite Kraft im Wolfsburger Fußball.
       
       Gobbato ist 1963 bei Lupo eingetreten. Da er etwas Deutsch konnte, musste
       er immer, wenn es Streit gab, in Gifhorn beim Verband antanzen. „Ich war
       ständig in Gifhorn“, sagt er. Zu den Heimspielen kamen 1.000 Zuschauer, zu
       den Auswärtsspielen 500, Eintritt 50 Pfennig. „Es gab doch nichts anderes
       als Fußball“, sagt Gobbato. VW förderte den Fußball, weil „sie es gut
       fanden, wenn wir dem Ball und nicht den deutschen Frauen hinterherliefen“,
       sagt Gobbato und lacht.
       
       Das mit den Frauen war so: In den Baracken lebten auch Frauen, „aber die
       italienischen Väter und Brüder haben auf ihre Töchter und Schwestern so
       aufgepasst wie zu Hause“, sagt Gobbato und er muss so lachen, dass sich in
       seinen Augen das Wasser sammelt. „Wissen Sie“, sagt er, „wir sind dann zu
       den Schützenfesten gegangen, und da guckten uns die deutschen Frauen nicht
       an. Bis Mitternacht. Um Mitternacht waren die deutschen Männer breit und
       dann haben die deutschen Frauen mit uns getanzt. Eine Frau im Arm, das war
       schön“, sagt Gobbato.
       
       Die Porschestraße war die Straße der Italiener. „Die sind wir hoch und
       runter gegangen“, sagt Gobbato, „und wir waren besser angezogen als die
       Deutschen“, sagt Lochiatto. Die Deutschen haben sich gefragt: „Was laufen
       die Verrückten die Straße hoch und runter? Was machen die da? Was soll
       das?“, sagt Lochiatto.
       
       Samstags um 20 Uhr saßen alle Italiener im Kino Imperial und haben Filme in
       italienischer Sprache angeguckt: Vittorio de Sica, Luchino Visconti und
       natürlich Don Camillo e Peppone. Das Vorbild für Giovannino Guareschis
       Figur Don Camillo, der katholische Priester Don Camillo Valota, war
       Partisan und Gefangener der Konzentrationslager Dachau und Mauthausen.
       
       Irgendwann gab es den ersten italienischen Schiedsrichter. In den siebziger
       Jahren kickten Deutsche, Spanier und Portugiesen für Lupo. Im Vorstand
       saßen einen italienischer Arzt, der in den Baracken eine Praxis hatte, ein
       Priester, der in den Baracken die Messe las, und ein Deutscher.
       
       Irgendwann haben die Italiener Wohnungen gesucht, weil sie genug von den
       Baracken hatten. Das war schwer. „Auch für die Deutschen“, sagt Lochiatto.
       Er ist aus Kalabrien, hat zwei Jahre in Mailand gearbeitet bevor er nach
       Wolfsburg kam. „Ich bin nach Deutschland gegangen, weil ich nicht 24 Monate
       zum italienischen Militär wollte“, sagt er. Bei Volkswagen in der
       Lackiererei haben nur Italiener gearbeitet, der Meister und der Vorarbeiter
       waren Deutsche. „Wir haben uns wohlgefühlt“, sagt er.
       
       Die Vorstellung, dass es sich bei den Italienern in Wolfsburg um
       „Gastarbeiter“ handelt, stellte sich spätestens 1978 als Irrtum heraus. Da
       waren schon ein paar Konjunktureinbrüche, die Ölkrise und manches andere
       überstanden. „Da haben die Italiener ihre Familien nachgeholt, darauf waren
       weder VW noch Wolfsburg vorbereitet“, sagt Lochiatto. Heute leben etwa
       6.500 Italiener in Wolfsburg. Wenn die beiden so auf den Teil der
       italienischen Geschichte Wolfsburg zurück gucken, den sie überblicken
       können, dann sagt Lochiatto: „Wir haben es hier gut erwischt.“
       
       17 Oct 2012
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Roger Repplinger
       
       ## TAGS
       
   DIR Arbeitsmigration
       
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