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       # taz.de -- Gender Studies an deutschen Unis: Von wegen Mainstream
       
       > Medizin, Jura, Informatik: Geschlechterstudien finden überall ihre
       > Anwendung. Davon profitieren immer mehr Studierende.
       
   IMG Bild: Spannend: An elf deutschen Unis gibt es Bachelor-Vorlesungen zu Gender Studies
       
       Obwohl viele Menschen [1][über den Forschungsbereich herziehen], möchten
       immer mehr Menschen Gender Studies studieren. Elf Hochschulen im
       deutschsprachigen Raum bieten Bachelor-Studiengänge an. Doch was genau wird
       dort gelehrt? Fünf Beispiele aus der Praxis.
       
       ## Medizin in Berlin/Nijmegen: Belästigung im Krankenhaus
       
       Sexuelle Grenzverletzungen im klinischen Alltag sind ein sensibles Thema.
       Dem stellte sich in der sogenannten WPP-Studie (Watch – Protect – Prevent)
       ab 2015 die Universitätsmedizin der Charité Berlin. Die Forscher*innen
       führten unter 743 Ärzt*innen der Charité eine standardisierte
       Online-Befragung durch. Die Ergebnisse zeigen, dass 70 Prozent der
       Befragten im Laufe ihres gesamten Arbeitslebens eine Form der Belästigung
       erfahren haben.
       
       Bei den Frauen waren es rund 76 Prozent, bei den Männern 62 Prozent. Am
       häufigsten kam es zu verbalen Belästigungen. Bei Frauen spielten zudem
       männliche Vorgesetzte eine zentrale Rolle. Für Sabine Oertelt-Prigione ist
       das nicht verwunderlich: „Die Medizin ist nun mal hierarchisch aufgebaut.“
       Oertelt-Prigione hat die Studie konzipiert; seit 2017 ist sie Professorin
       für Gendermedizin an der Radboud-Universität im niederländischen Nijmegen.
       
       Die WPP-Studie war für sie ein Erfolg, weil neben dem empirischen Material
       zudem spezifische Präventionsangebote entwickelt und bestehende Maßnahmen
       modifiziert wurden. Solange Aspekte der Gender Studies in der Medizin
       „alleine Forschung bleiben, bleiben sie auf halbem Weg stehen. Es muss
       praktisch werden“, fasst Oertelt-Prigione die Motivation für ihre Forschung
       zusammen.
       
       ## Jura in Hildesheim: Definition von Mutterschaft
       
       Während Vaterschaft im Recht ein vielfach diskutiertes Thema ist, gilt
       Mutterschaft weitgehend als etwas Natürliches. Die rechtlichen Regelungen
       der Mutterschaft sind von einem einfachen Konzept geprägt: Im Bürgerlichen
       Gesetzbuch heißt es, Mutter eines Kindes ist die Frau, die es geboren hat.
       Doch ganz so einfach ist das nicht.
       
       Neue medizinische Techniken wie Leihmutterschaft oder Eizellenspenden, die
       Anzahl der als Eltern infrage kommenden Personen oder die dritte
       Geschlechtsoption machen die große Bandbreite jenseits der
       Zweigeschlechtlichkeit von Elternschaft sichtbar.
       
       Das Projekt „Macht und Ohnmacht der Mutterschaft“ widmet sich den
       vergeschlechtlichten Grundannahmen des bestehenden Rechts und entwirft
       Reformvorschläge. Von 2017 bis 2019 arbeiten die Forscher*innen im Verbund
       der Universitäten Hildesheim und Göttingen und bringen juristische und
       geschlechtertheoretische Expertisen ein.
       
       „Die bisherigen Erkenntnisse zeigen, wie wichtig das Recht bei der
       Herstellung und Verteidigung vorherrschender Vorstellungen von Geschlecht
       und Familie ist“, sagt die Projektleiterin Kirsten Scheiwe von der
       Universität Hildesheim. Immer noch komme es zu einer starken Betonung
       biologischer Tatsachen beim Recht auf Mutterschaft. Auf aktuelle
       Entwicklungen gebe es in Deutschland bislang nur zögerliche und punktuelle
       Reaktionen. Es gebe dringenden Reformbedarf, so die Forscher*innen.
       
       ## Arbeitssoziologie in Berlin: Je weiter oben, desto männlicher
       
       Nicht zu übersehen: Seit knapp 20 Jahren steht der Turm mit der gläsernen
       Fassade am Potsdamer Platz in Berlin. Er hat eine Gesamthöhe von 103 Metern
       und verfügt über 26 Etagen: Der Bahntower. Ganz oben in diesem Gebäude
       sitzen die Fach- und Führungskräfte des Konzerns. Je höher im Turm, desto
       weniger wird Geschlechtergerechtigkeit thematisiert, so das Ergebnis eines
       Forschungsprojekts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
       
       Zusammen mit ihrem Team befragte die Soziologin Hildegard Nickel von der
       Berliner Humboldt-Universität von 2016 bis 2017 knapp 50 Fach- und
       Führungskräfte sowie Betriebsräte der Deutschen Bahn AG (DB AG). Trotz des
       seit 2012 geltenden Diversity Managements hat die DB AG noch keine klare
       und ausreichende Strategie zur Geschlechtergerechtigkeit, so die
       Soziolog*innen.
       
       „Die DB AG setzt sich weder besonders ehrgeizige Unternehmensziele, was die
       Besetzung von Spitzenpositionen mit Kandidatinnen betrifft, noch wird die
       Modernisierung der Unternehmens- und Führungskultur konsequent mit der
       Frage von Geschlechterdemokratie verknüpft“, sagt Nickel.
       
       Insbesondere von Führungskräften in höheren Positionen werden Flexibilität
       und lange Arbeitszeiten gefordert, außerberufliche Störungen etwa durch
       Sorgeleistungen sind nicht vorgesehen. Und auch Teilzeitarbeit gilt als
       Karrierekiller.
       
       Dabei sind es immer noch mehrheitlich weibliche hochqualifizierte
       Beschäftigte, die ihre Arbeitszeit und Aufstiegshoffnungen zugunsten ihrer
       Sorgearbeit, wie Kindererziehung oder die Pflege von Angehörigen,
       reduzieren (müssen) – doch für die Deutsche Bahn ist diese Problematik
       bisher kein Thema.
       
       ## Informatik in Heilbronn: Sexistische Algorithmen
       
       Woran liegt es, dass Frauen die IT-Branche mehr als doppelt so häufig
       wieder verlassen als Männer? Wie könnte eine geschlechtergerechte Software
       aussehen? Diesen Fragen widmet sich das Verbundprojekt „GEWINN. Gender.
       Wissen. Informatik. Netzwerk“ der Hochschule Heilbronn, das junge Frauen in
       der Informatik unterstützen will.
       
       Neu in diesem Kontext ist dabei das Format des „Reallabors“: Hier kommen
       Akteure aus Forschung und Praxis zusammen, um gemeinsam Lösungen zu
       erarbeiten. „Diese Zusammenarbeit ist aufwändig, weil zunächst eine
       gemeinsame Sprache gefunden werden muss – aber sehr lohnenswert“, sagt
       Nicola Marsden von der Hochschule Heilbronn.
       
       Wissenschaftliches Geschlechterwissen soll in einem Dialog zwischen
       Unternehmen und Wissenschaft weiterentwickelt, aufbereitet und für die
       praktische Umsetzung handhabbar gemacht werden. Ziel der Forscher*innen,
       die von 2017 bis 2019 diese seltene Kooperation zwischen Gender Studies und
       Informatik durchführen, ist es, gemeinsame Empfehlungen auszuarbeiten, wie
       sich beispielsweise die Softwareteams aufstellen können, um für Männer und
       Frauen gleich einladend zu sein, oder worauf man achten muss, damit
       Algorithmen nicht unsere Geschlechterstereotype übernehmen – denn auch in
       den digitalen Wandel sind Geschlechterungleichheiten eingeschrieben.
       
       ## Kulturwissenschaft in Freiburg: Mobil bleiben statt sexy sein
       
       Gegenwärtig gibt es in Deutschland mehr ältere Menschen als je zuvor.
       Gleichzeitig widerspricht „Älterwerden“ gängigen Schönheits- und
       Gesundheitsidealen. Auch ältere Menschen wollen und sollen fit aussehen.
       Wie ältere Frauen damit umgehen, erforscht Gabriele Sobiech in ihrem
       aktuellen Projekt zu sportlich aktiven, älteren Frauen in Fitnessstudios an
       der Pädagogischen Hochschule in Freiburg.
       
       Bisher wurden vierzig Frauen aus Deutschland und den USA zwischen 60 und 80
       Jahren interviewt. Die Forschenden wollten wissen, welche
       geschlechtsbezogenen Idealbilder für ältere Menschen vorherrschen und wie
       diese mit körperlicher Selbstoptimierung zusammenhängen. Der Kampf gegen
       das Alter(n) werde „zunehmend als individuelle Aufgabe verstanden“, was
       zugleich auch als Druck erlebt werden könne, sich entsprechend zu
       disziplinieren, sagt Sobiech.
       
       Indem sie ein attraktives Erscheinungsbild wahrten, versuchten
       Teilnehmerinnen aus bildungsnahen Milieus, ihre soziale Position auch im
       Alter zu behaupten. Andererseits trete das Streben nach sexueller
       Attraktivität zurück. Stattdessen werde auf den Erhalt oder Ausbau von
       Fähigkeiten Wert gelegt, die dazu dienen sollen, [2][solange wie möglich
       mobil und selbstständig zu bleiben], so die ersten Zwischenergebnisse der
       Studie.
       
       12 May 2019
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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