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       # taz.de -- Generation Z mag musikalischen Trash: Britney Spears muss geliebt werden
       
       > Popmusik, die als Trash galt, wird von vielen Jungen ohne ironischen
       > Sicherheitsabstand gefeiert. Und nun auch erforscht. Muss das sein?
       
   IMG Bild: Früher nix für Musikliebhaber, heute hip: Britney Spears bei „Wetten dass“ im ZDF, 2002
       
       Es ist kompliziert, über Trash zu sprechen. Wer sich mit Musik beschäftigt,
       die viele hassen und noch mehr Menschen lieben, spaziert geradewegs hinein
       in die Vorstadt-Mall des Pop. Man befindet sich also an einem Ort, an dem
       die Oberflächen noch glänzender sind als anderswo, an dem die Neonreklame
       stressig blinkt, an dem alles – durch die bürgerliche
       Distinktionshornbrille betrachtet – im Ringen um Glamour und Größe
       extrabillig, extragewöhnlich wirkt.
       
       Wer etwas auf sich hielt, ließ sich dort lange Zeit nicht blicken:
       Individualität behaupten und Massenware tragen, das passt eben nicht
       zusammen.
       
       Oder eher: passte. Denn gerade Millennials und die noch jüngere Generation
       Z haben für sich entdeckt und gekapert, was lange als trivial und kitschig
       galt. Den [1][US-Mainstream-Superstar Britney Spears] zu lieben gehört
       inzwischen eher zur Pflicht als zur Ausnahme.
       
       ## Peinliche Popkultur wird erforscht
       
       Social-Media-Kanäle mit Hunderttausenden Followern feiern die Stars der
       Nullerjahre, die mit ihrem Hochglanzpop und ihren Teen-Komödien lange als
       Inbegriff von Bad Taste galten. Eine Schauspielerin wie Lindsey Lohan, die
       noch vor zehn Jahren als gescheitertes Ex-Teenidol verarscht wurde, ist nun
       „iconic“, genauso in Vergessenheit geratene Mainstream-Acts wie die
       Pussycat Dolls.
       
       Auch und gerade in Deutschland wurde alles, was nach Pop und purer
       Unterhaltung aussah, als Trash abgewatscht. Als allerdings vor rund einem
       Jahr die Alben der [2][Popband No Angels] erstmals auf Spotify erschienen,
       begleitete eine Medien- und Fan-Euphorie diese Veröffentlichung. Nun wurde
       die Gruppe beim „Preis für Popkultur“ für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
       
       Man geht also sicher nicht zu weit, wenn man sagt, das „Guilty Pleasure“
       liegt im Sterben. Vormals peinliche Popkultur wird ganz öffentlich, ganz
       unironisch geliebt – und nun auch in Deutschland erforscht.
       
       ## „Zeig doch mal die Möpse“
       
       Vor Kurzem hat Marina Schwarz, Musikwissenschaftlerin an der Universität
       Leipzig, einen Essayband herausgebracht: „Das verdächtig Populäre in der
       Musik. Warum wir mögen, wofür wir uns schämen“ heißt die Sammlung
       wissenschaftlicher Texte, in denen sie und viele weitere Autor:innen
       Genres untersuchen, denen sich Kolleg:innen aus Forschung und Feuilleton
       (und vielleicht sogar Hardcore-Pop-Fans) lange nur mit Sicherheitsabstand
       näherten: klischeeverklebten Irish Folk, Musicalsongs, Filmmusik aus dem
       seltsamen „Niemandsland“ zwischen Pop und seichter Klassik und sogar die
       Neoklassik von Künstlern wie Ludovico Einaudi, die vielen als musikalisches
       Raumparfum gilt.
       
       Marina Schwarz selbst widmet sich unter der Überschrift „Schon wieder
       besoffen“ dem Endgegner des stilsicheren Musikhörers:
       Ballermann-Schlagersound, der vor allem an einem räumlich begrenzten Ort,
       dem Ausgehviertel von Palma de Mallorca, unter ganz bestimmten Bedingungen
       gehört wird, wie Schwarz analysiert – außerhalb dieser Parallelwelt aber
       nicht so recht gesellschaftsfähig ist (und es auch vielleicht, hört man
       sich Mickie-Krause-Burner wie „Zeig doch mal die Möpse“ an, auch besser
       nicht sein sollte).
       
       ## Cultural, Gender, Postcolonial und Queer
       
       Die derben, sexistischen Malle-Hits sind allerdings ein Extremfall.
       Grundsätzlich aber, so eine Grundannahme des Sammelbandes, steht das
       Populäre eigentlich immer unter Verdacht; es bringt seine Fans wie auch
       Erforscher:innen in Verruf. Neu ist, dass heute der „Verdacht
       verdächtig geworden“ ist, wie José Gálvez in seinem Beitrag schreibt.
       
       Der Musikwissenschaftler macht in seinem Buchbeitrag unter anderem die
       Konjunktur von Bindestrich-Fächern wie Cultural, Gender, Postcolonial und
       Queer Studies verantwortlich, den damit zusammenhängenden Erfolg der
       Forschungsfelder New und Critical Musicology – und die Etablierung der
       Popular Music Studies. Etwas verkürzt könnte man vielleicht sagen:
       Wissenschaft hat ihr Interesse an Perspektiven jenseits der
       Hegemonialgesellschaft entdeckt und damit auch Musik, die früher von den
       Hochkultur-Gatekeepern ignoriert wurde.
       
       ## Susan Sontag war schon da
       
       Sich Gedanken darüber zu machen, was guter Geschmack, schlechter Geschmack
       und guter schlechter Geschmack ist, ist natürlich keine neue Idee; ebenso
       wenig ist es der Kniff, sich mit vermeintlich Grottigem (oder dem, was die
       Geschmackswächter gerade dafür halten) von der Masse abzugrenzen. Susan
       Sontag widmete sich schon 1964 in ihrem berühmten Essays „Notes on Camp“
       der Beschaffenheit von Ausdrucksformen, die viele wohl minderwertig oder
       kitschig nennen würden, und ihrer Aneignung unter anderem durch die queere
       Szene.
       
       Auch in Deutschland provozierten und provozieren Queers gern mit ihrer
       offenen Liebe für Schlager und Eurovision-Kitsch. Eine prominente Rolle
       spielte zum Beispiel Christian Anders’ Hit „Geh nicht vorbei“ in
       Fassbinders Film „Warum läuft Herr R. Amok?“, wo er in einer Jukebox
       gespielt wird.
       
       ## Guilty Pleasure ist hochpolitisch
       
       In der Wissenschaft allerdings, selbst in den „Popular Music Studies“, hat
       man wirklich populäre Musik lange nicht unter klanglichen Aspekten
       erforscht, schreibt José Gálvez. Wie spannend oder relevant man es findet,
       scheinbar allzu Simples zu sezieren, darf man nach dem Lesen des Bandes
       entscheiden; eine der spannendsten Erkenntnisse aus den Texten ist in jedem
       Fall: Guilty Pleasure ist zugleich seicht und hochpolitisch, denn es gibt
       Auskunft über Machtstrukturen. Welche Vorlieben man stolz mit der Welt
       teilt und welche lieber verschweigt, hängt davon ab, wer gerade den „guten
       Geschmack“ diktiert.
       
       Als der Begriff „Guilty Pleasure“ 1860 zum ersten Mal in einer Zeitung
       auftauchte, schreibt die Autorin Jennifer Szalai im New Yorker, war damit
       ein Bordell gemeint. Die australische Musikwissenschaftlerin Jadey O’Regan
       verortet den Ursprung des modernen Guilty-Pleasure-Begriffs – eine
       peinliche, uncoole Vorliebe – in den 1980ern.
       
       ## „Authentisch“ ist nicht besser
       
       Ein Beitrag im Sammelband handelt von Steven Wilson, einst Sänger der Band
       Porcupine Tree und einer der Säulenheiligen des modernen Progrock, der
       seine Karriere just in den 1980ern begann. Der Musikwissenschaftler Attila
       Kornel beschreibt, wie Wilson 2017 Entsetzen bei seinen Fans auslöste, da
       er den ultimativen Verrat am Underground beging: Er ließ sich dazu herab,
       im „ZDF-Morgenmagazin“ aufzutreten, und das auch noch mit seinem Album „To
       The Bone“. Damit war er bei vielen seiner rocksozialisierten Hörer:innen
       durchgefallen, weil die Musik ungewohnt poppig klang. Plötzlich stand
       Wilson im Verdacht, sich dem Massengeschmack anzubiedern.
       
       Solchen Urteilen liegt der Glaube zugrunde, dass die als „authentisch“
       geltende Rockmusik mehr Wert hat als Pop, dessen Unterhaltungs- und
       Warencharakter offensichtlicher ist. Das US-Online-Musikmagazin Pitchfork,
       für viele Gradmesser des guten Geschmacks, veröffentlichte kürzlich ein
       Special mit Albumrezensionen, die der Redaktion mit einigen Jahren Abstand
       unangemessen erschienen.
       
       Darunter waren ziemlich viele Pop-Alben, deren Bewertung nach oben
       korrigiert werden musste. Zum Beispiel das titellose Album der Chicagoer
       Sängerin Liz Phair, die vor 18 Jahren mit null Punkten abgestraft wurde –
       weil es dem Rezensenten nicht passte, dass die frühere Indiesängerin sich
       radiofreundlichen Popsongs zuwandte. (Er selbst hatte sich schon vor zwei
       Jahren für seine damalige Arroganz entschuldigt.)
       
       ## Mit zu viel Inhalt gefüllt?
       
       Die neue, glühende Liebe zum „Guilty Pleasure“ kann man als Zeichen von
       Demokratisierung lesen. Denn aus der Ablehnung von bunter Berieselung
       spricht auch oft Verachtung für tanzende, extravagante, irgendwie queere
       Typen, für angeblich ferngesteuerte Pop-Girls und alle vermeintlichen
       Normalos, die zu „so was“ auch noch im Viervierteltakt klatschen. Je mehr
       Frauen, People of Colour, Schwarze und homosexuelle Menschen als
       Kulturschaffende und Fans zu sagen haben, desto offensichtlicher wird, dass
       sich das Verständnis von „guter“ Popmusik lange auf das Schaffen von
       ernsten weißen Gitarrenmännern beschränkte.
       
       Camp, Kitsch und Populäre Kultur ernst zu nehmen, trotz oder gerade wegen
       der Beliebtheit von Kunst genauer hinzuhören, kann bereichernd sein, birgt
       aber auch die Gefahr, mit allzu viel Inhalt füllen zu wollen, was doch
       eigentlich vor allem (simple) Form sein mag.
       
       Um zu klären, was „Trash“ überhaupt sein soll, führt Martina Schwarz in der
       Einleitung des Bandes einen der „bekanntesten Fürsprecher von Trash“ an:
       Oscar aus der Tonne. Der zottelige Diogenes aus der Sesamstraße hortet in
       seinem bodenlosen Heimkübel angeblich eine Kunstgalerie und ein Klavier
       sowie Gegenstände, die ihm aus persönlichen Gründen wichtig sind. Aber eben
       auch: Müll, den er einfach liebt, weil er Müll ist. Manchmal ist es nicht
       mehr, aber eben auch nicht weniger.
       
       14 Oct 2021
       
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