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       # taz.de -- Gerichtsentscheidung zum Vorkaufsrecht: Immobilien-Lobby will weiter klagen
       
       > Nachdem ein Gericht das Vorkaufsrecht gekippt hat, sorgen sich
       > Mieter*innen um ihre Bleibe. Vorkäufe von mehr als 600 Wohnungen
       > dürften platzen.
       
   IMG Bild: Berlin würde ja gerne helfen, darf aber nicht mehr, weil das Bundesgesetz schlecht gemacht ist
       
       Berlin taz | Nach dem am Dienstag faktisch gekippten kommunalen
       Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten droht vielen Berliner
       [1][Mieter*innen die Verdrängung aus ihren Wohnungen]: Bei einigen
       Vorkäufen, in denen noch Klagen und Widersprüche laufen, drohen
       Rückabwicklungen. Insgesamt sind laut der Senatsverwaltung für
       Stadtentwicklung von Sebastian Scheel (Linke) in neun Fällen noch
       Widerspruchs- und Klageverfahren in Pankow, Neukölln, Mitte,
       Friedrichshain-Kreuzberg und Tempelhof-Schöneberg anhängig.
       
       Zudem sind deutlich mehr als 600 Wohnungen aus 32 derzeit laufenden
       Vorkaufsfällen vom Urteil wohl direkt betroffen. Hier haben Land und
       Bezirke zumindest [2][bis zur Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts]
       den Vorkauf geprüft. Betroffen sind zehn Fälle in Neukölln, acht in Mitte,
       sieben in Friedrichshain-Kreuzberg, fünf Fälle in
       Charlottenburg-Wilmersdorf und jeweils einer in Pankow und
       Treptow-Köpenick.
       
       Dass diese Vorkäufe platzen werden, ist aufgrund des wahrscheinlichen
       Grundsatzcharakters des Urteils beinahe ausgemacht. Es könnten sogar noch
       mehr Fälle sein: Laut Senat lagen am Freitag aus vier Bezirken noch keine
       Informationen vor.
       
       Das kommunale Vorkaufsrecht war eine der letzten wirksamen Schutzmaßnahmen
       für Mieter*innen in von Wohnungsnot geplagten Städten. Mit dem Urteil
       vom Dienstag hob das Bundesverwaltungsgericht eine Entscheidung des
       Berliner Oberverwaltungsgerichts von 2019 auf und gab einem
       Immobilienkonzern recht – mit bundesweiten Auswirkungen. Für das Land
       Berlin ist das Urteil besonders hart: Bereits im Frühjahr hatte das
       Bundesverfassungsgericht den [3][Berliner Mietendeckel] für nichtig
       erklärt.
       
       Mit dem Vorkaufsrecht konnten Kommunen bislang in Milieuschutzgebieten
       verhindern, dass Investoren ungehindert Wohnraum aufkaufen können, um
       anschließend die Preise hochzutreiben und in der Folge ärmere Mieter*innen
       zu verdrängen. Verpflichtete sich der Käufer in sogenannten
       Abwendungsvereinbarungen nicht zur Einhaltung sozialer Standards, konnte
       die Kommune in Milieuschutzgebieten dem Investor die Häuser vor der Nase
       wegschnappen.
       
       Unklar ist derzeit, was mit den rund 9.300 Wohnungen passiert, bei denen
       die Käufer*innen eine Abwendungsvereinbarung unterschrieben haben,
       nachdem sie von Bezirken mit der Androhung von kommunalen Vorkäufen unter
       Druck gesetzt wurden. In diesen Verträgen bekennen sich Käufer zu
       Milieuschutzzielen – indem sie zum Beispiel auf Mieterhöhungen,
       Luxusmodernisierungen und Umwandlung in Eigentum verzichten –, um den
       kommunalen Vorkauf abzuwenden.
       
       Klar ist schon jetzt: Es wird wohl erneut zu juristischen Verfahren kommen,
       inwiefern die in den Abwendungen vereinbarten Sozialstandards weiter
       verpflichtend sind. Ein Eigentümeranwalt drohte bereits im Tagesspiegel mit
       [4][Aufkündigungen von Abwendungsvereinbarungen sowie Klagen].
       
       Für eine valide juristische Einschätzung ist allerdings die genaue
       Urteilsbegründung des Leipziger Gerichts abzuwarten. Laut
       Bundesverwaltungsgericht wird die vollständige Entscheidung in circa zwei
       Monaten zur Verfügung stehen – bis dahin hängen viele Mieter*innen in
       der Schwebe.
       
       ## Großteil der Vorkäufe sind sicher
       
       Immerhin geht der Senat auch ohne ausführliche Urteilsbegründung davon aus,
       dass der Großteil der in der vergangenen Legislatur vorgekauften Immobilien
       im Landesbestand bleiben wird. „Bereits rechtskräftige Bescheide zur
       Ausübung von Vorkaufsrechten bleiben vom Urteil unberührt“, sagte Alexis
       Demos, Sprecher der Senatsverwaltung für Finanzen von Matthias Kollatz
       (SPD), der taz. In diesem Bereich werde es keine Rückabwicklungen geben.
       
       Sollte die genaue Auslegung des Gerichts im Widerspruch zu den Absichten
       des Gesetzgebers stehen, könne Berlin eine Klarstellung per
       Bundesratsinitiative voranbringen, so Demos. Bausenator Scheel hat dies
       bereits angekündigt.
       
       Reiner Wild vom Berliner Mieterverein ist sich sicher, dass bereits
       abgeschlossene Abwendungsvereinbarungen Bestand haben werden: „Wir halten
       die Abwendungen für sicher – es sind öffentlich-rechtliche Verträge, denen
       Eigentümer freiwillig zugestimmt haben. Ich glaube nicht, dass mit dem
       Urteil die Geschäftsgrundlage dafür wegfällt“, sagte Wild zur taz.
       Allerdings geht auch er davon aus, dass überall dort, wo noch geprüft und
       verhandelt wird oder Widersprüche und Klagen laufen, Vorkäufe und
       Abwendungsvereinbarungen scheitern werden.
       
       Nach der knappen Pressemitteilung des Gerichts nimmt Wild an, dass dem
       Urteil keine Einzelfallproblematik zugrunde liegt, sondern eine
       Ausnahmeregelung im Baugesetzbuch das kommunale Vorkaufsrecht ausgehöhlt
       hat. „Das ist ein Defizit der Gesetzgebung“, betonte Wild und forderte,
       dass die Ampelkoalitionäre auf Bundesebene das Baugesetzbuch entsprechend
       ändern – SPD und Grüne sind mit großer Wahrscheinlichkeit dafür, die FDP
       ist allerdings strikt gegen das kommunale Vorkaufsrecht.
       
       ## Berlin besonders betroffen
       
       Berlin ist von der Entscheidung besonders betroffen: Auch wenn nicht nur
       der rot-rot-grüne Senat das kommunale Vorkaufsrecht nutzte, sondern es auch
       in München, Hamburg und Köln zum Einsatz kam, wurde es in der Hauptstadt am
       häufigsten ausgeübt: Insgesamt kam das Vorkaufsrecht laut Senat in der
       vergangenen Legislatur von Dezember 2016 bis Mitte November 2021 insgesamt
       94-mal zum Einsatz – damit wurden rund 2.700 Wohnungen gesichert. 82 dieser
       Vorkäufe sind laut Senatsverwaltung für Stadtentwicklung rechtskräftig
       abgeschlossen.
       
       Zudem gab es unter Rot-Rot-Grün 369 Abwendungen, mit denen wiederum 9.300
       Wohnungen gesichert worden seien. Insgesamt wurden durch Vorkaufsrecht und
       Abwendungen in Milieuschutzgebieten also rund 12.000 Wohnungen gesichert,
       die meisten davon in Neukölln (knapp 3.000), [5][Friedrichshain-Kreuzberg]
       (rund 2.800), sowie Mitte (2.400), Tempelhof-Schöneberg (1.800) und Pankow
       (1.200).
       
       Laut Finanzverwaltung hat das Land Berlin in der vergangenen Legislatur 67
       Vorkaufsrechte mit insgesamt 1.857 Wohneinheiten mit rund 55,1 Millionen
       Euro bezuschusst. Ein Großteil der Summe sei bereits ausgezahlt.
       
       ## „Wut und Ratlosigkeit“
       
       Richtig mies ist das Urteil für Mieter*innen, die sich aktuell in
       Mietkämpfen um ihre Häuser befinden, gerade für einen Vorkauf trommeln oder
       bei deren Vorkäufen noch Widerspruchsverfahren oder Klagen anhängig sind.
       In der Hermannstraße 48 in Neukölln etwa übte der Bezirk das Vorkaufsrecht
       zugunsten einer von Mieter*innen [6][mit Hilfe des „Mietshäuser
       Syndikats“ gegründeten Gmbh „H48“] aus – wogegen Käufer und Verkäufer
       klagten. Der Vorkauf dürfte abgeräumt werden.
       
       Auch Mieter*innen der Liebig 24 in Friedrichshain waren gerade dabei,
       sich zu organisieren und mögliche Drittkäufer zu finden – bis das Urteil
       reinknallte. Nun herrscht eine Stimmung zwischen „Wut und Ratlosigkeit“,
       wie ein dort lebender taz-Kollege schildert.
       
       12 Nov 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gekipptes-Vorkaufsrecht-bei-Immobilien/!5810896
   DIR [2] /Urteil-des-Bundesverwaltungsgericht/!5814508
   DIR [3] /Mietendeckel/!t5567229
   DIR [4] https://plus.tagesspiegel.de/berlin/nach-urteil-zum-vorkaufsrecht-stehen-die-milieuschutzvertrage-fur-9000-berliner-wohnungen-auf-der-kippe-302086.html
   DIR [5] /Kreuzberger-Stadtrat-zu-Vorkaufsrecht/!5814478
   DIR [6] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158468.milieuschutz-richter-pulverisieren-vorkaufsrecht.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gareth Joswig
       
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