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       # taz.de -- Gerichtsurteile zu Klima-Sitzblockaden: Zu wenig oder zu viel Symbolik
       
       > Die SitzblockierInnen der „Letzten Generation“ fordern Freisprüche. Aber
       > Gerichte sehen keinen Notstand, der die Aktionen rechtfertigen könnte.
       
   IMG Bild: Sitzblockade von Aktivisten von „Letzte Generation“ in Berlin im Oktober 2022
       
       Freiburg taz | Sie warnen mit drastischen Worten vor dem Klimakollaps:
       „Katastrophen, Hunger und Elend werden die Welt heimsuchen.“ Deshalb machen
       sich die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ (LG) wegen Nötigung
       von Autofahrenden strafbar. Die erhofften Freisprüche blieben ihnen bisher
       verwehrt.
       
       „Es gab bislang über 200 Blockaden, an denen sich meist sieben bis zwölf
       Personen beteiligen“, sagte LG-Sprecherin Carla Hinrichs vorige Woche im
       taz-Interview. Inzwischen hat die Strafverfolgung begonnen, vor allem am
       Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Aktivist:innen erhalten zunächst
       Strafbefehle wegen (versuchter) Nötigung. Wenn sie Einspruch einlegen,
       kommt es zur mündlichen Verhandlung.
       
       Die ersten Urteile waren mild. Der 20-jährige Nils R. muss [1][60 Stunden
       Freizeitarbeit] leisten. Der 22-jährige Henning Jeschke hat 200 Euro
       Geldstrafe (20 Tagessätze à 10 Euro) zu zahlen. Drei Studierende in München
       kamen sogar mit einer Verwarnung davon. Bei jungen Erwachsenen bis 21
       Jahren wird oft noch Jugendstrafrecht angewandt.
       
       Doch die Aktivist:innen sind unzufrieden. Sie hatten in der Regel
       Freisprüche gefordert. Die Blockaden seien nicht verwerflich und damit
       nicht strafbar. Vor allem aber liege ein „rechtfertigender Notstand“ vor.
       
       ## Bestätigung, dass Drängen berechtigt ist
       
       Die Forderung nach Freisprüchen ist nicht selbstverständlich. Schließlich
       geht es um „zivilen Ungehorsam“, also die bewusste Übertretung von
       Gesetzen. Die Bereitschaft, Strafen auf sich zu nehmen, soll die
       Verantwortlichen zur Umkehr bringen, so etwa das Konzept von Mahatma
       Ghandi, der Gesetze der britischen Kolonialmacht verletzte.
       Rechtsphilosoph:innen diskutieren darüber, wann ziviler Ungehorsam in
       der Demokratie legitim ist, aber nicht, dass er legal und damit straflos
       sein soll. Ziviler Ungehorsam ist qua Definition illegal.
       
       Es geht den Aktivist:innen aber wohl weniger um das Vermeiden von
       Strafen, sondern eher um die Bestätigung, dass ihr verzweifeltes Drängen
       berechtigt ist. LG-Sprecherin Hinrichs verlangte, die Gerichte sollten
       anerkennen, „dass ziviler Widerstand gegen einen Regierungskurs, der immer
       tiefer in die Klimakrise führt, moralisch und juristisch gerechtfertigt
       ist“. Jeschke argumentierte, eine „mutige Entscheidung“ könne eine Debatte
       auslösen, die Welt zu ändern. Bei einer Verurteilung mache sich die
       Richterin zur Komplizin der Vernichtung.
       
       Vermutlich überschätzen die Aktivist:innen jedoch die gesellschaftliche
       Wirkung eines Freispruchs durch ein:e Einzelrichter:in des Amtsgerichts
       Berlin-Tiergarten. Auch juristisch können ihre Argumentationen nicht
       überzeugen.
       
       ## Verwerflich oder nicht?
       
       Die Nötigung ist als Delikt in Paragraf 240 des Strafgesetzbuchs geregelt.
       Um die Strafbarkeit einzugrenzen, heißt es in Absatz 2: „Rechtswidrig ist
       die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zu dem
       angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.“ Hier geht es vor allem
       um die Frage, ob das Mittel zum angestrebten Zweck als „verwerflich“ gilt.
       
       Schon seit den Sitzblockaden der Friedensbewegung in den 1980er Jahren
       differenzieren die Gerichte zwischen Fernzielen und Nahzielen. Dabei werden
       Fernziele (damals die Verhinderung von Atomkriegen, heute die Verhinderung
       der Klimakatastrophe) nicht in die Verwerflichkeitsprüfung einbezogen. Als
       Ziel von symbolischen Sitzblockaden wird nur die öffentliche Aufmerksamkeit
       gewertet.
       
       Dabei müssen die Gerichte das jeweilige Anliegen der Protestierenden sogar
       ignorieren, wie das Bundesverfassungsgericht 2011 anmahnte. Die Gerichte
       sollten nicht danach urteilen, ob sie das Anliegen als nützlich einschätzen
       oder es missbilligen. Das ist konsequent, schließlich ist das
       Versammlungsrecht gerade auch ein Recht ausgegrenzter Minderheiten.
       
       Laut Verfassungsgericht kommt es für die Strafbarkeit eher darauf an, ob es
       einen Bezug der blockierten Personen zum kommunikativen Anliegen der
       Blockade gibt, ob diese angekündigt wurde und ob für die
       Autofahrer:innen Ausweichmöglichkeiten bestehen. Faustformel: Je
       symbolischer die Blockade ist, desto eher kann sie als straflos eingestuft
       werden. Das passt aber wenig zu der von der Letzten Generation
       angekündigten „maximalen Störung der öffentlichen Ordnung“.
       
       ## Rechtfertigender Notstand?
       
       Eher zur Dramaturgie der Gruppe passt daher die Argumentation, dass ein
       „rechtfertigender Notstand“ vorliege, wie er in Paragraf 34 des
       Strafgesetzbuchs geregelt ist. Eine eigentlich strafbare Handlung ist dann
       rechtmäßig, wenn sie der Abwehr einer „nicht anders abzuwendenden“ Gefahr
       dient und das geschützte Rechtsgut wesentlich höher wiegt als das
       angegriffene Rechtsgut. Hier kann durchaus argumentiert werden, der Schutz
       des Klimas und unserer Lebensgrundlagen wiege höher als die
       Bewegungsfreiheit von Autofahrer:innen.
       
       Doch ist die Gefahr wirklich „nicht anders abwendbar“ als durch
       Straßenblockaden? Einerseits verweisen Gerichte hier auf den politischen
       Prozess, der in der Demokratie jedem offenstehe. Entscheidend ist aber,
       dass die Blockaden an sich in keiner Weise geeignet sind, die Erderwärmung
       aufzuhalten. Selbst wenn man ihre kommunikative Wirkung in Rechnung stellt,
       so ist bisher offen, ob sie die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen erhöhen
       oder eher mindern. Auch die geforderten Maßnahmen – vom Gesetz gegen
       Lebensmittelverschwendung bis zum 9-Euro-Ticket – sind weit davon entfernt,
       einen nennenswerten Beitrag zur Klimastabilität zu leisten.
       
       Der rechtfertigende Notstand ist eben kein Label, das die Justiz vergibt,
       um die Dringlichkeit von politischen Handlungen zu unterstreichen. Hier
       geht es darum, ob ein eigentlich illegales Verhalten ausnahmsweise
       rechtmäßig ist, weil man genau damit einigermaßen wahrscheinlich einen
       Schaden verhindern kann.
       
       ## Milde Urteile
       
       Die Aktivist:innen der Letzten Generation sitzen strafrechtlich also
       zwischen den Stühlen. Für einen rechtfertigenden Notstand ist ihr Handeln
       zu symbolisch. Bei der Verwerflichkeitsprüfung sind ihre Absichten nicht
       symbolisch genug. Deshalb wurden sie bisher stets verurteilt.
       
       Doch natürlich spielen die guten Absichten der Aktivist:innen vor
       Gericht eine große Rolle – allerdings erst bei der Strafzumessung. Die
       Strafen liegen bisher stets am unteren Rand dessen, was bei einer
       Verurteilung möglich ist. Die Bild-Zeitung, die sich als Stimme der
       blockierten Autofahrer:innen versteht, ist schon ganz empört: „Es
       breitet sich das Gefühl aus, als würden die Klimakleber mit Samthandschuhen
       angefasst.“
       
       17 Oct 2022
       
       ## LINKS
       
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