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       # taz.de -- Geschichte rückwärts erzählt
       
       > Für ihren Roman, der fast hundert Jahre, fünf Generationen, das Leben
       > dreier Familien und den ganzen gesellschaftlichen Kosmos einer Insel
       > umfasst, erhielt Inger-Maria Mahlke den Deutschen Buchpreis 2018
       
       Von Dirk Knipphals
       
       Ein Roman, der fast hundert Jahre, fünf Generationen, das Leben dreier
       Familien, Honoratioren, Gegenspieler, Hausangestellten und den ganzen
       gesellschaftlichen Kosmos einer ja nun nicht kleinen Insel umfasst, mag man
       sich als breites, ausufernd erzähltes Epos vorstellen. Aber so ist
       „Archipel“ von Inger-Maria Mahlke eben gar nicht. Das Buch hat eher etwas
       Kleinteiliges. Es ist aus vielen kleinen Puzzlesteinen zusammengesetzt, das
       kann ein Blick sein, ein Versäumnis der Gastgeberin auf einem Bankett, die
       Eidechsen, die immer wieder durch dieses Buch huschen.
       
       Teneriffa also. Ganz konkret die vergangenen hundert Jahre auf dieser Insel
       (auf der Inger-Maria Mahlke Verwandtschaft hat und auf der sie schon als
       Kind häufig war), aber natürlich auch als Brennglas europäischer Geschichte
       und menschlicher Schicksale. Es sind schon die großen, auch historisch
       bedeutsamen Dinge, die in diesem Roman verwandelt werden. Der Putsch
       Francos kommt vor, die Entkolonialisierung der Westsahara und die
       allmähliche Umgestaltung Teneriffas zur Urlaubsinsel und damit zum
       Herrschaftsraum der Bettenburgen aus Beton. Auch innerhalb der Figuren gibt
       es das große Drama, Liebe, Scheitern, Absterben aller Ambitionen, ein
       besonderes Leben zu führen. Aber vieles von dem ist indirekt erzählt,
       selbst zentral Wichtiges wie der Tod einer Mutter.
       
       Zusammen mit dem einschneidenden dramaturgischen Kniff, die Geschichte
       rückwärts zu beschreiben, sie im Jahr 2015 beginnen zu lassen und dann in
       vielen Schritten jeweils die Vorgeschichte aufleben zu lassen, bis die
       Handlung im Jahr 1919 endet (beziehungsweise anfängt), ergibt das einen
       eigenwilligen Effekt. Die Handlung, obwohl sie doch feststeht, hat nichts
       Zwangsläufiges. Immer wieder leuchten plötzlich Details auf, mit denen man
       nicht gerechnet hat. Die Vergangenheit – und damit die Lebensgeschichte der
       Figuren – scheint sich auch immer wieder neu zusammenzusetzen, je nachdem,
       von welcher Warte aus sie geschildert wird. Die einzelnen Episoden werden
       von Inger-Maria Mahlke im Präsenz erzählt, in einer Perspektive, die
       direkte Anteilnahme, aber auch die Enge von Unausweichlichkeit vermittelt.
       In die Vergangenheit hinein aber tun sich in diesem Buch Räume auf. Es
       hätte immer auch anders kommen können.
       
       „Archipel“ öffnet sich einem zunächst nicht ganz bereitwillig. Grade am
       Anfang muss man sich als Leser, als Leserin seinen Weg durch ein Dickicht
       aus Details bahnen. Man muss sich diesen Roman sowieso teilweise
       erarbeiten, mal vor- oder zurückblättern, in das Glossar schauen, in dem
       spanische Besonderheiten oder historische Details erläutert werden. Je
       tiefer man dabei in seinem Lesen geht, desto mehr spürt man die Disziplin
       und die Sorgfalt, mit der Inger-Maria Mahlke ihre Geschichten erzählt hat.
       Und man wird mit Aha-Erlebnissen und vielen wunderbar direkten
       Situationsschilderungen belohnt. Toll zum Beispiel, wie die Autorin in
       knappen Sätzen Regen aufkommen lassen kann oder wie sie durch kleine,
       gezielte Umstellungen in ihren Sätzen Effekte erzielt: „Nachts, die
       Schmerzen kommen nachts, egal, wo sie sich hinlegt.“
       
       Man kann sich auch deshalb über diesen Deutschen Buchpreis des Jahres 2018
       freuen, weil damit ein Autorinnenleben gewürdigt wird, das in schönster
       Eigensinnigkeit und offenbar jenseits literarischer Moden voranschreitet.
       Inger-Maria Mahlke, 1977 geboren, begann mit Geschichten aus dem – damals
       noch ziemlich abgerockten – Berliner Bezirk Neukölln, in dem sie auch
       selbst lebt. Das ließ sich noch unter Berlin-Roman verbuchen, hatte er
       bereits eine eigene Kälte in den Beobachtungen. In „Wie ihr wollt“
       schilderte sie vor vier Jahren das Schicksal der historisch verbürgten Mary
       Grey, einer kleinwüchsigen Cousine Elisabeths I., in den wilden
       Elisabethanischen Zeiten als zähes Warten auf ein freies Leben. Und nun ein
       rückwärts erzähltes Geschichtspanorama auf Teneriffa also. Offensichtlich
       hat sich diese Autorin vorgenommen, bei jedem Buch etwas ganz anderes zu
       machen. Ein Darling des Betriebs ist sie ganz gewiss nicht.
       
       Bei der Entgegennahme des Buchpreises dankte sie ausdrücklich ihrer
       Verlegerin Barbara Laugwitz, die nun nicht mehr ihre Verlegerin sein soll.
       Die Vorgänge beim Rowohlt Verlag haben Inger-Maria Mahlke getroffen, wohl
       auch empört, was sie am Montagabend im Frankfurter Römer in das schön
       schräge Bild brachte, dass Literatur kein Joghurt sei, den man beliebig
       herstellen kann. Die offenen Briefe vieler Rowohlt-AutorInnen an den
       Holtzbrinck-Geschäftsführer Joerg Pfuhl, der Laugwitz durch Florian Illies
       ersetzen will, hatte Mahlke in den vergangenen Wochen aus Überzeugung
       unterschrieben. In ihrer kleinen, wohl improvisierten Dankesrede würdigte
       sie vor allem den Arbeitseinsatz und das Engagement ihrer Ex-Verlegerin.
       Dass Barbara Laugwitz in vielem auch ein glückliches Händchen hatte, wie
       diese Auszeichnung ja nun auch zeigt, konnte Mahlke selbst ja nicht
       aussprechen.
       
       10 Oct 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Dirk Knipphals
       
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