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       # taz.de -- Gesetz zur Arbeitsmigration: Willkommen in Deutschland
       
       > Vor 65 Jahren begann das CDU-regierte Deutschland, Arbeitskräfte aus dem
       > Ausland zu holen. Jetzt erst tritt ein mutloses Einwanderungsgesetz in
       > Kraft.
       
   IMG Bild: Türkische Gastarbeiter im BMW-Motorradwerk in den 1970er Jahren in West-Berlin
       
       Der Schriftzug klebte im Seitenfenster wie eine fette schwarze Spinne.
       „Diesen Bus steuert ein Deutscher Fahrer“, in Runenschrift, das „deutscher“
       mit großem D. Kurz vor Weihnachten 2019 hatte ein Fahrer der Linie 90 der
       Dresdner Verkehrsbetriebe (DVB) ihn ins Fester geklebt. Es gab wütende
       Reaktionen. „Ich war erleichtert, dass das keiner von uns war“, sagt heute
       Kristin Grund, die Personalchefin der DVB. Der Mann arbeitete bei einem
       Subunternehmen.
       
       Er hatte offenbar gelesen, was außerhalb Dresdens kaum jemand wusste: Ein
       Arbeitsvermittler hatte Grund 20 Fahrer aus Serbien angeboten, mit
       langjähriger Berufserfahrung bei den Verkehrsbetrieben in Belgrad.
       „Berufskraftfahrer ist ein Mangelberuf, auch in Sachsen“, sagt sie. Dass
       keine Wehrpflichtigen mehr den Busschein machen, hat dieses Problem
       verschärft, ebenso die Verrentung geburtenstarker Jahrgänge. 2030 werden
       doppelt so viele DVB-MitarbeiterInnen in Rente gehen wie heute. Grund
       fehlen schon jetzt 30 neue FahrerInnen.
       
       Es war absehbar, dass sie sie in Sachsen nicht finden würde. Einst hatten
       die DVB nur FahrerInnen mit entsprechendem Schein angestellt. Aber weil es
       immer schwieriger wird, überhaupt Arbeitskräfte zu finden, hat Grund getan,
       was Arbeitgeber heute im ganzen Land tun: flexibler werden, Anreize
       schaffen. Heute stellen die DVB auch BewerberInnen ohne Busschein ein – und
       finanzieren die 6.000 Euro teure Ausbildung. Und seit 2015 helfen die DVB
       Flüchtlingen auf dem Weg in den Beruf.
       
       Doch auch das brachte nicht genug Nachschub. Grund mochte deshalb nicht auf
       die Serben verzichten, obwohl Serbien „einen Riesenmangel an Busfahrern“
       hat. Mitarbeiter der DVB reisten dennoch nach Belgrad, trafen die
       Kandidaten. „Wir wollten denen eine Perspektive geben“, sagt Grund, die in
       Dresden Jura studiert hat und seit 2002 bei den DVB arbeitet. „Die sollen
       Dresdner werden.“ Alle Fahrer wollten auf Dauer nach Dresden kommen. „Viele
       wollen die Familie nachholen, den Kinder eine gute Ausbildung ermöglichen.“
       
       [1][Etwa 1,4 Millionen Arbeitskräfte werden heute in Deutschland gesucht].
       64 Prozent aller Arbeitgeber haben Schwierigkeiten, Fachkräfte zu finden.
       2018 waren es erst 51 Prozent. „Der Arbeitsmarkt wird zunehmend zu einem
       Bewerbermarkt, auf dem sich die Fachkräfte ihren Arbeitgeber aussuchen
       können“, heißt es in einer neuen Studie des Instituts der deutschen
       Wirtschaft (IW). 2010 war jede vierte Stelle in „Engpassberufen“ – etwa
       Elektriker, Pflegekräfte, Monteure – ausgeschrieben. Heute sind es vier von
       fünf.
       
       „Das Handwerk leidet doppelt, denn die Industrie zahlt mehr“, sagt Lydia
       Malin vom IW. Betriebe müssen Aufträge ablehnen. Und selbst wenn mehr
       Frauen arbeiten als heute, Teilzeitbeschäftigte aufstocken und viele später
       in Rente gehen, rechnet die Bundesregierung bis 2030 mit 1,7 Millionen
       Erwerbspersonen weniger als heute.
       
       ## Das Gesetz ist zu restriktiv
       
       Eigentlich soll das bald alles anders werden. Am 1. März tritt [2][das
       Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft], das die Einwanderung von außerhalb
       der EU ermöglichen soll. „Wir kriegen jetzt endlich, nach über 30 Jahren
       Debatte in diesem Land, ein modernes Einwanderungsgesetz“, sagte
       Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Innenminister Horst Seehofer (CSU)
       sprach von einer „historischen Weichenstellung“. Doch schon jetzt ist klar,
       [3][dass das Gesetz zu restriktiv ist]. „Man hat nur das Bestehende etwas
       weiterentwickelt“, sagt Herbert Brücker vom Institut für empirische
       Integrations- und Migrationsforschung. „Die zu erwartenden Effekte sind
       relativ gering.“
       
       Das hat auch Kristin Grund erfahren. Mit dem neuen Gesetz hätte sie ihre 20
       serbischen Busfahrer nicht nach Deutschland holen können. Im Sommer gab sie
       ihnen Arbeitsverträge, um bei der deutschen Botschaft Visa zu beantragen.
       Das Verfahren dauert meist ein Jahr. „Da kann man als Unternehmen auch
       nichts beschleunigen“, sagt Grund. Dass ihre Anträge überhaupt bearbeitet
       werden, liegt daran, dass sie dem neuen Gesetz zuvorgekommen ist. Denn laut
       diesem kann eine ausgebildete Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis für die
       Arbeit erhalten, „zu der sie ihre erworbene Qualifikation befähigt“.
       
       Was plausibel klingt, schließt viele aus: „Menschen können nur einwandern,
       wenn ihre Ausbildung gegenüber deutschen Abschlüssen als gleichwertig
       anerkannt wird. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Migranten genauso
       sein müssten wie deutsche Arbeitnehmer“, sagt der Forscher Brücker.
       
       Das sind sie aber nicht: „In Serbien darf man Bus fahren, ohne
       ausgebildeter Kraftfahrer zu sein“, sagt Grund. „Nach dem neuen Gesetz wäre
       es gar nicht möglich gewesen, die Busfahrer herzuholen.“ Diese kommen auf
       Grundlage einer Ausnahmeregelung für die Westbalkanstaaten, die Ende 2020
       ausläuft. Eine neue Sonderregelung für Busfahrer ist allerdings in Planung.
       
       Dass es in vielen Ländern kaum formalisierte Qualifikationen gibt, ist nur
       eine der Hürden, die auch künftig den Weg auf den deutschen Arbeitsmarkt
       versperren. Die Bundesagentur für Arbeit warnt deshalb vor „überzogenen
       Erwartungen“. Die Hoffnung der Bundesregierung, dass mit dem Gesetz künftig
       über 25.000 neue Fachkräfte pro Jahr nach Deutschland kommen, sei „ein
       ambitioniertes Ziel“, sagte der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit,
       Daniel Terzenbach, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. 25.000 pro Jahr –
       das ist etwa ein Zehntel dessen, was nötig ist, damit die Zahl der
       Arbeitskräfte im Land nicht immer weiter schrumpft. Und nicht mal dafür
       dürfte es reichen. Wenn die Not der Wirtschaft aber so groß ist – warum ist
       das neue Gesetz dann so restriktiv?
       
       ## Die Lebenslüge der alten Bundesrepublik
       
       Ein wichtiger Teil der Antwort hat mit der Union zu tun. CDU und CSU haben
       sich unendlich schwer damit getan, sich von der Lebenslüge der alten
       Bundesrepublik zu lösen: Dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei. Die
       schlichte Erkenntnis, dass dauerhafter Wohlstand ohne Migration nicht zu
       haben ist, mochte die Union viele Jahre weder sich noch ihren WählerInnen
       zumuten. Der Prozess, sich von dieser Haltung zu lösen, war lang – und ist
       bis heute nicht endgültig vollzogen.
       
       Das ist Ausdruck davon und gleichzeitig einer der Gründe dafür, dass es bis
       heute, bis in die Tage [4][nach dem Anschlag von Hanau], eine innere
       Spaltung der Gesellschaft gibt: In die, die dazugehören und jene, denen das
       abgesprochen wird. Wie sehr die Union noch mit der Einwanderungsfrage
       hadert, lässt sich an der Mutlosigkeit des Arbeitskräftegesetzes ablesen.
       Selbst für Menschen, die schon im Land sind, sind kaum großzügige
       Regelungen enthalten. Das Einwanderungsgesetz, auf das die Union sich
       letztlich eingelassen hat, ist weniger eine „historische Weichenstellung“
       als vielmehr ein ungewolltes Kind.
       
       „Einwanderung war tabuisiert“, [5][sagt Rita Süssmuth] über die Jahre, in
       denen CDU und CSU einst anfingen, über diese Fragen zu sprechen. An einem
       Februarnachmittag sitzt die Ex-Bundestagspräsidentin in einem roten Blazer
       im obersten Stockwerk eines Hauses in der Nähe des Brandenburger Tors. Ihr
       Assistent ist ein junger schwarzer Mann. Sie wolle „das Interview unbedingt
       machen“, hatte Süssmuths Büroleiterin gesagt. Das Thema sei ihr wichtig.
       
       Das Wachstum der 1950er und 1960er Jahre wurde „nicht allein von uns
       geleistet“, sagt Süssmuth. „Wer hat denn die Gastarbeiter ins Land
       geholt?“, fragt sie. Es war ihre Partei. 13 Millionen Menschen wurden ab
       1955 angeworben, die meisten zu Zeiten der CDU-Kanzler Adenauer, Erhard und
       Kiesinger. „Wir brauchten sie für die Industrie, für die Kohle, den Stahl,
       die Autos. Das war die Realität“, sagt Süssmuth. Etwa 2,5 Millionen davon
       blieben nach dem „Anwerbestopp“ 1973 im Land – und holten ihre Familien
       nach. „Trotzdem ging man davon aus: Wir sind kein Einwanderungsland.“ Und
       entsprechend habe man sich auch „nicht um die Langzeitprobleme der
       Integration gekümmert.“
       
       ## „Die gehen auch noch nach Hause“
       
       1994, Süssmuth war Bundestagspräsidentin, wies sie auf diesen
       offensichtlichen Widerspruch hin. Für ein Buch ließ sie sich von Kai
       Diekmann, damals Politikchef der Bild, interviewen und forderte darin ein
       Einwanderungsgesetz. „Ich wurde daraufhin vom Fraktionsvorstand
       einbestellt“, erinnert sich Süssmuth. Das war damals Wolfgang Schäuble,
       „Ehrenvorsitzender“ war der 2002 gestorbene Hesse Alfred Dregger.
       
       „So ein Gesetz brauchen wir überhaupt nicht“, habe Dregger ihr gesagt.
       
       Süssmuth habe geantwortet: „Aber wir haben doch die Migranten im Land.“
       
       Darauf Dregger: „Die gehen auch noch nach Hause.“
       
       „Wann denn?“, habe Süssmuth gefragt.
       
       „Das werden Sie schon noch sehen“, habe Dregger gesagt.
       
       Migration als Unfall: Wenn Menschen im Land blieben, war etwas
       schiefgegangen und musste korrigiert werden. Das war der Sound in dieser
       Zeit. Die CDU, das war damals in weiten Teilen die
       Keine-Einwanderung-Partei. So sah sie sich, und dafür wurde sie gewählt. Es
       kommt nicht von ungefähr, dass der Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg
       Maaßen kürzlich sagte: „Ich bin vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten,
       damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen.“
       
       Die rot-grüne Koalition 1998 hingegen versprach eine Wende: Ein modernes
       Staatsbürgerrecht, besserer Flüchtlingsschutz, Zugangsmöglichkeiten zum
       deutschen Arbeitsmarkt.
       
       Im hessischen Landtagswahlkampf 1999 sammelte der CDUler Roland Koch
       Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Manfred Kanther, ein
       Vertrauter Dreggers, sagte im Bundestag, ein Einwanderungsgesetz sei
       „entweder ein Fehler oder ein Etikettenschwindel“. Edmund Stoiber, zu der
       Zeit Ministerpräsident Bayerns, sagte, Erleichterungen bei der Einwanderung
       seien „gegen den Willen von 70 Prozent der Bevölkerung“. Er werde „alles
       tun, sie zu verhindern“.
       
       ## Ein hohes Maß an geistiger Verwirrung
       
       Heiner Geißler hat seine Erinnerung an eine Sitzung des Fraktionsvorstands
       von CDU/CSU aufgeschrieben. Bei der brachte er das Grundgesetz ins Spiel,
       um für die doppelte Staatsbürgerschaft zu werben. Daraufhin sei Kanther
       aufgestanden und sagte: „Die Verfassung ist fünfzig Jahre alt. Das deutsche
       Volk ist tausend Jahre alt.“ Daran, so Geißler später, könne man sehen,
       „welch hohes Maß an geistiger Verwirrung herrschte, als es um die Bewertung
       der Ausländer- und Einwanderungspolitik ging“.
       
       2000 öffnete Rot-Grün den Arbeitsmarkt per „Green Card“ für
       ProgrammiererInnen. In Nordrhein-Westfalen forderte der CDU-Spitzenkandidat
       Jürgen Rüttgers daraufhin, statt „Inder an die Computer müssen unsere
       Kinder an die Computer“. Selbst die stockseriöse Agentur AFP schrieb am 31.
       Juli 2000 vom „ersten Computer-Inder“, Harianto Wijaya. Bei dem handelte
       es sich allerdings um einen 25-jährigen Indonesier mit deutscher Ausbildung
       und „Traumnote 1,0“: „Er lächelt schüchtern, als Arbeitsminister Walter
       Riester ihm strahlend eine Green Card überreicht.“ Bayerns
       CSU-Innenminister Günther Beckstein sagte zur Green Card, er wolle, dass
       „weniger kommen, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen“.
       
       Doch Rot-Grün wollte mehr: ein Einwanderungsgesetz. Und das brauchte
       Akzeptanz, vor allem im CDU-dominierten Bundesrat. Es war Innenminister
       Otto Schilys Idee, dafür eine überparteiliche „Unabhängige Kommission
       ‚Zuwanderung‘ “ einzusetzen, die das Gesetz vorbereiten sollte. Am 12.
       September 2000 nahm diese unter dem Vorsitz Rita Süssmuths ihre Arbeit auf.
       
       „Angela Merkel, die damals Parteivorsitzende war, hat mich bedrängt, diese
       Kommission nicht zu übernehmen“, erinnert Süssmuth sich. „Das kann ich
       nicht verantworten, es geht um unser Land“, habe sie gesagt. Schilys
       Kommission war nicht gewollt in der Union. Also setzte diese ein eigenes
       Gremium ein: Die „Präsidiumskommission ‚Zuwanderung und Integration‘ “,
       geleitet von Saarlands Ministerpräsident Peter Müller und dem
       Innenpolitiker Wolfgang Bosbach. „Die sollte für die Partei die
       Gegenargumente aufbauen“, sagt Süssmuth.
       
       Ein Mitglied dieser CDU-Kommission war der Adenauer-Stipendiat Bülent
       Arslan, damals Mitglied des „Deutsch-Türkischen Forums“ in der CDU. „In der
       Partei und im Präsidium herrschte die Ansicht vor, dass wir kein
       klassisches Einwanderungsland sind“, sagt er heute. Das Gremium habe sich
       vor allem mit „Integration“ beschäftigt: „Es ging um die, die schon da
       waren, nicht darum, neue zu holen.“
       
       ## Süssmuth suchte das Gespräch
       
       Süssmuth ließ sich nicht beirren. „Denkt an die Akzeptanz, die wir
       brauchen, für das Parlament und die Gesellschaft“, habe sie den Mitgliedern
       gesagt. „Die Frage war: Wie viel Konsens können wir erreichen?“ Dabei hatte
       helfen sollen, dass auch Kritiker wie der Freiburger Jurist Kay Hailbronner
       von Schily in die Kommission berufen worden waren.
       
       Was Süssmuth hingegen vermisste: MigrantInnen. Schily war „der Meinung,
       dass es nichts bringt, die Kernprobleme der Zuwanderung mit Migranten zu
       verhandeln“, sagt Süssmuth. „Er glaubte, sie hätten ganz andere Interessen,
       sie würden primär einen Job wollen und ansonsten ihr eigenes Land
       hochhalten“, sagt Süssmuth. „Glücklicherweise hatten wir Geld für
       Anhörungen, so dass wir wenigstens auf diesem Weg Migranten einladen
       konnten.“ Und sie suchte das Gespräch mit MigrantInnen, etwa in
       Schrebergärten. „Ich wollte sehen, was sie da tun, welche Pflanzen sie
       anbauen, was sie kochen“, sagt Süssmuth. Vor allem wollte sie erfahren, was
       fehlte, damit sie sich in diesem Land wirklich zu Hause fühlen können.
       
       Am 4. Juli 2001 übergab sie ihren Bericht an Schily. „Es ist ein sehr
       ausbalancierter Bericht geworden, die Empfehlungen waren sehr sorgfältig
       erarbeitet und ausgeführt worden“, sagt sie heute.
       
       Die Kommission empfahl, dass zunächst mindestens 50.000 Menschen pro Jahr
       zur Aus- und Fortbildung nach Deutschland zuwandern sollten. Davon sollten
       20.000 qualifizierte AusländerInnen nach einem Punktesystem ausgewählt
       werden. Weitere 20.000 sollten Branchen mit Arbeitskräftemangel selbst
       anwerben. Für 10.000 von diesen hätten die ArbeitgeberInnen eine Gebühr für
       Qualifizierungsmaßnahmen an den Staat zahlen sollen. Außerdem sollten
       10.000 junge Menschen für eine Ausbildung kommen können. „Wir wollten
       einmal Erfahrungen sammeln. Damals gab es ja die ‚Willkommenskultur‘ noch
       nicht“, sagt Süssmuth.
       
       SPD und Grüne waren zufrieden, die CDU war es nicht: Bosbach war
       „überrascht, wie groß die Unterschiede des Süssmuth-Berichts im Vergleich
       zu den Vorstellungen der Union“ seien. Einen Konsens könne er sich „nicht
       vorstellen“. Parteichefin Angela Merkel war „sehr skeptisch“. Zuwanderung
       dürfe „keine Antwort auf die demografischen Probleme sein“, so die spätere
       Bundeskanzlerin.
       
       ## Eine Gefahr für die „christliche Nation“
       
       Viele, auch ParteifreundInnen, hätten befürchtet, dies „gefährde die
       christliche Nation“, sagt Süssmuth. „Wenn wir eine ‚christliche Nation‘
       wirklich leben, werden wir sie auch verteidigen, wenn wir das
       Zuwanderungsrecht öffnen“, sagte sie. Ihre KritikerInnen hätten geglaubt,
       dass sich die weltweiten Migrationsbewegungen stoppen ließen. Sie ging
       schon damals nicht davon aus.
       
       In den folgenden Jahren reiste sie als Bundestagspräsidentin a. D. ins
       Ausland, sprach im Rahmen der UN-Migrationskommission über das Thema, etwa
       2005 in Ägypten. „Die Ägypter sagten da schon: ‚Wenn ihr nicht bald
       Regelungen schafft, dann werden die Menschen so kommen, die warten nicht
       mehr lange.‘ “ Auch Kofi Annan, der UN-Generalsekretär, sagte Süssmuth:
       „Schafft Win-win-Situationen“ – für Deutschland und MigrantInnen.
       
       Eben darauf zielten die Empfehlungen ihrer Kommission. Doch: „Die wurden
       leider nicht umgesetzt, sondern verworfen“, sagt Süssmuth. 2005 trat zwar
       das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“ in Kraft. Doch
       von den rot-grünen Ideen, die wiederum viel von Süssmuths Empfehlungen
       aufgenommen hatten, ließ die Union im Bundesrat nur wenig stehen. „Es waren
       nur wenige Elemente dessen enthalten, was unsere Kommission empfohlen hat“,
       sagt Süssmuth. Und trotzdem: „Wir haben dazu beigetragen, dass sich die
       Position, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, als abwegig erwies.“
       
       Aber erst einmal blieb vieles beim Alten. Es gab einige Sonderregelungen,
       etwa die „Blaue Karte EU“ für Hochqualifizierte, für „Engpassberufe“, oder
       eben die temporäre Westbalkanregelung. Doch insgesamt kamen im Schnitt der
       Jahre 2009 bis 2018 jedes Jahr rund 28.000 Fachkräfte und etwa 14.000
       Geringqualifizierte zum Arbeiten aus Drittstaaten nach Deutschland – in den
       letzten Jahren war das nur noch ein Tropfen auf den heißen Stein.
       
       ## Tauber wollte es so nicht weitergehen lassen
       
       Es war der damalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der – genau wie 20
       Jahre zuvor Süssmuth – es so nicht weitergehen lassen wollte. Am 8. Januar
       2015 erschien ein langes Interview mit ihm in der Welt: „Wenn wir eine
       Zuwanderung wollen, die nicht nur arbeitsmarktoptimiert ist, nicht nur
       temporär, dann müssen wir auch über ein Einwanderungsgesetz reden“, steht
       darin.
       
       Der etwas umständliche, aber vorsichtige Satz provozierte exakt die gleiche
       Reaktion wie die Äußerung Süssmuths 1994: „Ich bin von Bosbach bei der
       nächsten Fraktionssitzung in der Luft zerrissen worden“, sagt Tauber. „Nach
       dem alten Mantra ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland.‘ “ Dabei dachte
       Tauber, er hätte eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen.
       
       „Mein Vorstoß wäre ja durchaus im konservativen Sinne zu wenden gewesen:
       Als Versuch zu klären, wer da eigentlich kommt. Wir bestimmen dafür die
       Regeln und entscheiden: Wer passt?“, sagt er. Nach dem Anwerbestopp habe
       keiner gesagt: „Wenn die bleiben, müssen wir uns anders darum kümmern“,
       sagt Tauber. Stattdessen habe seine Partei „an dem Bild des ethnisch
       homogenen Deutschlands festgehalten. Das wurde mit der Fraktionssitzung
       schlagartig klar.“
       
       [6][Auch 2015 mochten weite Teile der Union ihre Haltung nicht überdenken].
       Die Partei habe „nie akzeptiert, dass sie es war, die massiv dafür gesorgt
       hat, dass der Ausländeranteil stark gestiegen ist“, sagt Tauber. Viele
       scheuten das Bekenntnis und die Abkehr von dieser Schizophrenie. Und viele
       fragten sich: War das nur Tauber, der da laut gedacht hatte? „Es wurde
       gemutmaßt, dass es eine Idee der Kanzlerin war.“ War es aber nicht: „Ich
       hatte das nicht mit Merkel abgestimmt. Aber sie hat es laufen lassen.“
       
       ## Druck der Wirtschaft wuchs
       
       Das dürfte damit zu tun gehabt haben, dass der Druck aus der Wirtschaft
       wuchs. Als 2015 klar war, dass etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland
       gekommen waren, nannte der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David
       Folkerts-Landau, dies „das Beste, was 2015 passiert ist“. Die
       Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände forderte, noch mehr
       Zuwanderung zu ermöglichen.
       
       „Der Druck der Wirtschaft war massiv“, sagt Tauber. „Arbeitgeberverbände,
       Fachverbände, Handwerk, alle haben gesagt: Bitte macht das.“ Tauber sagt,
       ihm sei es nicht nur um den Zugang zum Arbeitsmarkt gegangen. „Die Frage
       war nicht nur: Wie leicht ist das eigentlich für einen Mittelständler,
       nicht nur für Siemens oder Bayer, jemanden aus dem Ausland einzustellen?
       Mir ging es darum: Wie macht man aus den Arbeitskräften neue Landsleute?“
       
       Bald darauf musste die Partei ihr Programm für die Bundestagswahl 2017
       schreiben. „Es war hochumstritten, ob es reinkommt“, sagt Tauber. Lange
       Zeit sei nicht einmal über den Begriff Einigkeit herzustellen gewesen – ob
       es „Ein-“ oder „Zuwanderung“ heißt. „Zuwanderung bedeutet, Neue kommen dazu
       und müssen sich assimilieren. Einwanderung heißt: Sie können alles
       mitbringen und müssen nicht einfach so werden wie alle anderen“, sagt
       Tauber.
       
       Am Ende stand im Wahlprogramm, Deutschland brauche ein „Regelwerk zur
       Steuerung von Einwanderung in den Arbeitsmarkt“. Ein solches
       „Fachkräftezuwanderungsgesetz“ werde die bestehenden Regelungen
       zusammenfassen. Ein Kompromiss zwischen den Flügeln der Partei. „Der
       gordische Knoten wurde zerschlagen“, sagt Tauber. Die CDU habe sich „mit
       dem Thema schon schwergetan“.
       
       Wie sehr war sie eingeklemmt zwischen ihrem Anspruch, Wirtschaftswachstum
       zu sichern – und einem konservativen Flügel, der eine restriktive
       Innenpolitik will? „Es mag diesen Zielkonflikt bei einigen gegeben haben“,
       sagt Tauber. Er selbst sehe den Konflikt nicht. „Wenn wir wollen, dass
       Menschen nach Deutschland kommen, die gern hierher kommen, um ihren Kindern
       eine gute Zukunft zu sichern, sind das bürgerliche Tugenden.“ Das Einzige,
       wovon seine Partei sich dafür lösen müsse, sei „die Idee eines ethnisch
       homogenen Staatsvolkes“.
       
       Tauber sagt, es werde heute oft vergessen, dass „nicht die halbe Welt in
       Deutschland Arbeit suchen will“. „Das ist Quatsch, deutsche Hybris. Wir
       müssen dafür werben, dass Leute kommen wollen.“ Dieses „gute Marketing“
       könne man aber nicht per Gesetz anordnen.
       
       Rita Süssmuth sieht es genauso. „Wir sind nicht mehr das Land, das am
       begehrtesten ist.“ Deutschland steht heute auf Platz 12 der beliebtesten
       Ziele für Fachkräfte. Staaten wie Australien oder Schweden, „Länder, die
       beweglicher sind“, liegen vorn. „Dass wir Arbeitskräfte brauchen, weil hier
       nicht genug Menschen geboren werden, das wissen wir lange genug.“ Man müsse
       die Einwanderung – „ich bin froh, dass ich diesen Begriff heute benutzen
       kann“ – viel mehr „vom Miteinander her denken“, sagt Süssmuth. Das sei das
       Hauptanliegen der Kommission gewesen. „Die Öffnung zur Einwanderung ist
       heute erfolgt“, sagt sie. Eine der wichtigsten Fragen bleibe, wie „dieses
       Miteinander so organisiert werden kann, dass Massenflucht verringert, und
       Herkunfts- und Aufnahmeländer sich wechselseitig unterstützen können“.
       
       ## Eine sehr vorsichtige Öffnung
       
       2018 einigten sich Union und SPD auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wer
       eine Stelle in einem Beruf vorweisen kann, für den er formal qualifiziert
       ist, darf kommen. Die Beschränkung auf sogenannte Engpassberufe entfällt,
       ebenso die „Vorrangprüfung“ – bislang musste immer erst geprüft werden, ob
       nicht ein deutscher Bewerber für einen Job infrage kommt. Ausländische
       Fachkräfte mit Berufsausbildung und HochschulabsolventInnen sollen künftig
       für sechs Monate nach Deutschland kommen können, um sich hier einen Job zu
       suchen. Sozialleistungen sollen sie in dieser Zeit nicht beziehen können.
       Die Jobsuchenden müssen schon vorher so gut Deutsch sprechen, wie es für
       eine Tätigkeit ihrer Qualifikation erforderlich ist. Vor der Einreise muss
       nachgewiesen werden, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist.
       
       Es ist eine sehr vorsichtige Öffnung, in die weiter viele Hürden eingebaut
       sind. Auch die 20 Busfahrer, die Kristin Grund, die Dresdner
       Personalchefin, nach Deutschland bringt, bekommen diese Hemmnisse zu
       spüren. „Erst einmal bekommen sie nur ein Visum für zwei Jahre“, sagt sie.
       Wer trotzdem seine Familie mitbringen wolle, habe weitere Schwierigkeiten:
       „Wenn die Ehefrau zufällig Krankenschwester ist, bekommt sie bevorzugt ein
       Visum“, sagt Grund. „Sind die Angehörigen nicht in einem Mangelberuf
       qualifiziert, ist es schwer.“ Die Fahrer müssen dann etwa eine ausreichend
       große Wohnung und Einkommen nachweisen.
       
       Im Moment lernen die Fahrer in Belgrad Deutsch, auf Kosten der DVB. „Wir
       werden den Deutschkurs hier weiterführen, das ist den Dresdnern unheimlich
       wichtig.“ Wenn die Visa da sind, bekommen sie eine „Tarif- und
       Linienschulung“, Einweisung in die Fahrzeuge, müssen ortskundig werden.
       „Sie müssen lernen, wie sie mit der Leitstelle kommunizieren und wie sie
       sich in Unfallsituationen verhalten müssen“, sagt Grund. Sie hat eine
       Mitarbeiterin als „Integrationsberaterin“ abgestellt. Die soll auch bei der
       Wohnungssuche helfen. „Die sollen wirklich hier ankommen“, sagt Grund. Wann
       das sein wird, weiß sie noch nicht. „Ich hätte sie gern im Februar hier
       gehabt. Aber die Arbeit läuft nicht weg.“
       
       29 Feb 2020
       
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