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       # taz.de -- Gewalt in Afghanistan: Sie machen, was sie wollen
       
       > Die Taliban haben die afghanischen Außengrenzen größtenteils unter
       > Kontrolle gebracht. Die Regierung gerät zunehmend unter Druck.
       
   IMG Bild: Die Nerven bei afghanischen Soldaten in der Provinz Kandahar liegen blank
       
       Berlin taz | Die afghanische Regierung hat am 8. Juli wegen der
       zugespitzten Sicherheitslage für drei Monate [1][Abschiebungen aus Europa
       nach Afghanistan abgesagt]. Kabul muss die Annahme der Abgeschobenen und
       die Flüge genehmigen. Unterdessen bringt die Offensive der Taliban die
       Regierung von Präsident Aschraf Ghani in Kabul zunehmend in Bedrängnis.
       
       Nachdem sie seit Anfang Mai fast 180 der landesweit 388 Distrikte in ihre
       Gewalt brachten und Belagerungsringe um 17 der 34 Provinzhauptstädte zogen,
       verlegen die Taliban sich nun darauf, die Grenzübergänge zu Afghanistans
       Nachbarländern einzunehmen. Am Mittwoch fiel Spin Boldak, der
       zweitwichtigste Übergang nach Pakistan. Kabul behauptete zwar, man habe den
       Ort mit einem wichtigen Grenzbasar zurückerobert, doch örtliche Augenzeugen
       widersprechen. Am 8. Juli nahmen die Taliban Islam Kala ein, den
       wichtigsten Übergang nach Iran, der auch mit deutschen Geldern modernisiert
       worden war.
       
       Bereits Ende Juni fielen Scher Chan Bandar in der Provinz Kundus an der
       Grenze zu Tadschikistan und Hairatan in Balch an der Grenze zu Usbekistan.
       Beide befinden sich in dem Gebiet, in dem die Bundeswehr bis zu ihrem Abzug
       am 30. Juni afghanische Soldaten und Polizisten ausbildete. Der Regierung
       bleibt nur Torcham am Chaibar-Pass nach Pakistan, aber die Straße von Kabul
       dorthin wird immer wieder von Taliban beschossen oder unterbrochen.
       
       Die Aufständischen schneiden damit regionale Handelsrouten ab und entziehen
       der Regierung eine wichtige Einnahmequelle. Laut Vizefinanzminister Chaled
       Pajenda bringen Handelszölle täglich 4,2 Millionen US-Dollar. Nun können
       die Taliban diese Gelder eintreiben.
       
       ## Vormarsch ohne große Mühen
       
       Gleichzeitig [2][erhöhen die Taliban den Druck] auf das zentrale
       afghanische Hochland, in dem die Hasara-Ethnie und andere Schiiten leben.
       Das löste dort Fluchtbewegungen aus, denn die Erinnerung an Massaker, die
       die Taliban während ihrer Regierungszeit bis 2001 verübten, ist noch stark.
       In dem Gebiet sind auch von deutschen Vereinen über Jahrzehnte geförderte
       Schulprojekte bedroht.
       
       Afghanischen Analysten zufolge erzielen die Taliban ihre Geländegewinne oft
       ohne große militärische Mühe. Einer erklärte, die Kämpfer setzten eine
       Kombination aus „Einschüchterung und Überredung“ ein. Eine eigens
       eingesetzte Kommission schicke Stammesälteste zu Soldaten und
       Regierungsangestellten, um sie aufzufordern, ihre Jobs aufzugeben und dann
       amnestiert zu werden. Sie bearbeiteten sogar die Mütter der Soldaten.
       
       Gleichzeitig gab es gezielte Anschläge. Dann reichten oft nadelstichartige
       Angriffe, um die Regierungskräfte zur Aufgabe zu bewegen. Im Distrikt
       Surmat im Südosten des Landes eskortierten die Taliban auf Motorrädern die
       örtliche Armeegarnison durch die Minenfelder in die nächste
       Provinzhauptstadt.
       
       Allerdings gibt es auch Übergriffe. CNN veröffentlichte am Mittwoch ein
       Video, das zeigt, wie Taliban-Kämpfer in Daulatabad im Norden des Landes
       afghanische Kommandosoldaten erschießen, nachdem sie sich ergeben hatten.
       Experten betrachten das Video als authentisch.
       
       Mitte letzter Woche tweetete ein Sprecher der Taliban, man wolle nicht in
       den Städten kämpfen. Es folgte das Angebot einer dreimonatigen Waffenruhe
       im Austausch gegen die Freilassung von 7.000 gefangenen Taliban und die
       Aufhebung von UN-Sanktionen. Zum islamischen Opferfest erklärte ihr Chef
       Hebatullah Achunsada, „trotz der militärischen Erfolge“ strebe man eine
       „politische Lösung“ an.
       
       Die jüngste Offensive ist also bisher kein Versuch der Taliban, die Macht
       mit Gewalt zu erlangen, sondern die Regierung unter Druck zu setzen und zum
       Verhandeln zu zwingen. Am Wochenende fand tatsächlich eine [3][neue Runde
       der Gespräche in Katar] statt, die in den letzten Monaten stagniert hatten.
       
       19 Jul 2021
       
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       ## AUTOREN
       
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