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       # taz.de -- Gewalt in türkischen Kurdengebieten: Panzerfäuste im Hinterhof
       
       > Der Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat eskaliert weiter.
       > Zur bisher blutigsten Konfrontation kam es im Basak-Viertel der Stadt
       > Silopi.
       
   IMG Bild: Die Auseinandersetzungen zwischen PKK und türkischen Sicherheitskräften haben in Silopi ihre Spuren hinterlassen.
       
       Silopi taz | Der Mutter stehen ihre widersprüchlichen Gefühle ins Gesicht
       geschrieben: die Trauer um den siebzehnjährigen Sohn, der um neun Uhr
       morgens erschossen wurde, als er auf der Türschwelle saß; die
       Beileidsbekundungen der Menschen im Hof fünf Tage nach den tödlichen
       Unruhen; und die Vorsicht gegenüber dem ausländischen Journalisten.
       
       Zeynep Tamboga wohnt in einem bescheidenen zweistöckigen Haus im
       Başak-Viertel von Silopi. Der Stadtteil geriet am 7. August in die
       Schlagzeilen, als junge Einwohner stundenlang ein Eindringen der Polizei
       verhinderten.
       
       Das Büro des Provinzgouverneurs wirft den jungen Leuten vor, Mitglieder der
       verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Sie hätten die
       Sicherheitskräfte mit „Gewehren und Panzerfäusten“ von Barrikaden und
       Gräben aus angegriffen, die sie zuvor gegraben hatten. Drei Personen seien
       getötet und sieben verletzt worden, darunter zwei Polizisten.
       
       Seit ein Selbstmordattentäter, der vermutlich dem „Islamischen Staat“ (IS)
       angehörte, in der Stadt Suruç am 20. Juli 33 Personen tötete, ist die ganze
       Türkei zum Schauplatz von Auseinandersetzungen geworden. Aber nirgendwo
       sonst kam es zu einer solchen Konfrontation wie in Başak, einem armen
       Vorort, dessen Wände voll sind von mit Schablonen gesprühten Gesichtern des
       inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan.
       
       Die Schlacht von Başak und eine zweistündige Schießerei zwischen Polizei
       und PKK im Istanbuler Viertel Sultanbey am 10. August hat die Menschen im
       Westen der Türkei alarmiert. Derartige Zusammenstöße erinnern am die
       Zustände während der späten 1970er Jahre, eine Periode, die mit dem
       Militärputsch von 1980 endete.
       
       Am 10. August schaffte es Başak erneut in die Nachrichten, als angebliche
       PKK-Kämpfer eine Bombe zündeten, die ein paramilitärisches Fahrzeug traf.
       Dabei wurden vier Polizisten getötet, einer wurde verletzt. Als die Polizei
       am Ort des Geschehens eintraf, fing sie nach Angaben von Augenzeugen an,
       aus Wut oder Panik wild um sich zu schießen.
       
       ## Der Samowar ging zu Bruch
       
       Seyhan, die in Başak lebt und nicht möchte, dass ihr Nachname
       veröffentlicht wird, bittet in ihr Haus, um dem Reporter die Spuren
       heftigen Maschinengewehrfeuers an den Wänden zu zeigen, die vermutlich von
       dem Geschützturm eines gepanzerten Fahrzeugs der Polizei aus abgegeben
       wurden. Der Samowar der Familie ging zu Bruch, eine Kugel durchdrang den
       Anzug ihres Vaters. 27 Einschusslöcher sprenkeln die Fassade. Sieben Häuser
       in der Umgebung weisen ähnliche Spuren auf.
       
       Einige Minuten nachdem die Schießerei begann, kamen Polizisten zu Seyhans
       Haus. Da die Tür verschlossen war, schlugen sie mit einer Spitzhacke ein
       Loch in die Wand. Seyhan zeigt auf den frischen Zement, mit dem die Öffnung
       repariert wurde. Sie sagte, die Polizisten hätten nach Männern gesucht,
       aber an diesem Tag um halb zehn Uhr morgens seien nur Frauen und ein Kind
       im Haus gewesen.
       
       Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan forderte, die PKK müsse ihre
       Waffen niederlegen. Der Kampf gegen die kurdischen Kämpfer werde
       weitergehen, „bis kein einziger Terrorist übrig geblieben ist“, drohte er.
       „Wir glauben Erdogan nicht,“ kommentiert Seyhan. „Er hat oft gelogen. Wenn
       die PKK ihre Waffen niederlegt, könnte die Polizei unsre Leute wieder
       töten.“ Über vieles von dem, was in der Provinz Sirnak, zu der Sipoli
       gehört, geschieht, wird in den großen türkischen Medien nicht berichtet,
       möglicherweise weil es meist keine Toten gibt.
       
       Am vergangenen Dienstag stoppten Kämpfer, deren Gesichter mit PKK-Fahnen
       maskiert waren, zwei Lastwagen zwischen Silopi und Harbur, dem
       Grenzübergang zur Türkei. Sie zwangen die Fahrer auszusteigen, übergossen
       die Kabinen mit Benzin und zündeten sie an. Die Laster waren mit
       Alluminiumröhren beladen, die sich durch das Feuer schwarz färbten – aber
       nicht zerstört wurden. Die Fahrerkabine und der Motor dagegen brannten
       völlig aus.
       
       Ein Fahrer sagte gegenüber der taz, die Kämpfer hätten ihm nichts getan,
       aber er sei schockiert, dass türkische Bürger gegenseitig ihr Eigentum
       zerstören. Ein junger Mann, der zuhörte, wies den Fahrer zurecht, weil er
       „der PKK die Schuld gibt“. Der Fahrer schwächte seine Aussagen ab und
       wollte sich nicht dazu äußern, warum er dachte, die Kämpfer hätten seinen
       Wagen verbrannt. Ein türkischer Zollbeamter am Grenzübergang Habur, der die
       Lastwagen gesehen hat, sagte: „Sie haben das getan, um zu zeigen, dass der
       Staat keine Autorität hat.“ Auch er will seinen Namen nicht in der Zeitung
       lesen.
       
       ## „Das hat man gemacht, um den Leuten Angst einzujagen“
       
       Bei einem anderen Vorfall, über den in den türkischen Medien nicht
       berichtet wurde, explodierte am vergangenen Montagabend um halb acht in der
       Hauptstraße von Sirnak eine Bombe in einer unterirdischen Anlage zur
       Grundwasseranreicherung und zerstörte die Schaufenster von fünf Geschäften.
       Verletzt wurde niemand, da die meisten Läden um diese Zeit bereits
       geschlossen und die Bürgersteige verlassen waren.
       
       „Das hat man gemacht, um den Leuten Angst einzujagen,“ sagt Yilmaz Tatar.
       Er schätzt, dass es ihn umgerechnet fast 5.000 Euro kosten wird, sein
       Schaufenster zu reparieren und die Mobiltelefone zu ersetzen, die er dort
       ausgestellt hatte. Der Grund für die zunehmende Gewalt ist das Ende des
       Friedensprozesses zwischen der Regierung und den Kurden, die etwa 20
       Prozent der 75 Millionen Bürger der Türkei ausmachen.
       
       Zwei Tage nach dem Anschlag von Suruç schlichen sich PKK-Mörder in die
       Wohnung zweier Polizisten in Ceylanpınar, einer Stadt an der Grenze zu
       Syrien, und töteten die Beamten in ihren Betten. Die PKK sagte, sie hätte
       das getan, um die Kollaboration der Regierung mit dem Islamischen Staat zu
       rächen. Das gab der Regierung den Anlass, PKK-Stellungen mit
       F-16-Kampfflugzeugen anzugreifen und zahlreiche kurdische Aktivisten
       festzunehmen.
       
       Der stellvertretende türkische Regierungschef Bülent Arinç legte dem
       Parlament in Ankara Zahlen vor, aus denen hervorging, dass sechsmal so
       viele PKK-Verdächtige festgenommen wurden wie mutmaßliche Mitglieder des
       Islamischen Staates. Die PKK erklärte den Waffenstillstand vom März 2013
       für beendet. In den vergangenen vier Wochen hat die kurdische Guerilla 39
       Polizisten und Soldaten getötet. Der Konflikt hat alte Spannungen in der
       Türkei wieder aufleben lassen und zwingt die Kurden dazu, sich zwischen den
       Verpflichtungen ihrem Staat gegenüber und ihren Gefühlen, die sie für ihre
       Leute hegen, zu entscheiden.
       
       In dem schattigen Hof der Familie Tamboga in Başak beschreibt die
       25-jährige Tochter Kezban ihr Dilemma. „Einer meiner Brüder dient in der
       Armee, und ein anderer wurde auf der Straße als Terrorist getötet.“ Auf die
       Frage, wie der kurdisch-türkische Konflikt beigelegt werden könnte,
       entgegnet sie: „Die Regierung hat diesen Kreislauf der Gewalt in Gang
       gesetzt, und es ist die Regierung, die ihn beenden kann.“
       
       Sie besteht darauf, dass die Leute auf der Straße nicht bewaffnet waren,
       als ihr Bruder getötet wurde. Er habe dem Spektakel zugeschaut und sei von
       einer Kugel der Polizei aus etwa 200 Meter Entfernung getroffen worden.
       Aber einige der jungen Leute in Başak müssen bewaffnet gewesen sein. Zwei
       Polizisten wurden verletzt, die Randalierer setzten einen Bulldozer in
       Brand, der eingesetzt wurde, um die Gräben und Barrikaden zu beseitigen.
       
       Der Abgeordnete von Silopi, Faisal Sarıyıldız von der prokurdischen
       Demokratischen Volkspartei (HDP), gibt zu, dass die Kämpfer in Başak
       bewaffnet waren. Und dass, genau wie die Barrikaden und Gräben, auch die
       Waffen noch da sind. Wie fühlt er sich mit einem Arsenal von Gewehren und
       Panzerfäusten im Hinterhof seines Wahlkreises? „Seit meiner Kinderzeit habe
       ich in einer solchen Umgebung gelebt“, antwortet er und fügt hinzu: „Die
       Polizei hat viel mehr Waffen als die jungen Leute.“ Befürchtet er, dass
       Silopi zu einem neuen Kobani wird, der Stadt in Nordsyrien, die vier Monate
       lang zwischen dem IS und den Kurden umkämpft war? „Wenn die Regierung ihren
       Kontrollwahn nicht aufgibt: ja,“ sagt Sarıyıldız.
       
       ## Ungewöhnlich ausgewogen
       
       Ein Hoffnungsschimmer in diesem Morast aus Blut, Anschuldigungen und
       Gegenanschuldigungen ist der kurdische Geschäftsmann Shahismail
       Bedirhanoglu. Er besitzt ein bekanntes Hotel in Diyarbakır, der
       inoffiziellen Hauptstadt von Türkisch-Kurdistan, und ist der Vorsitzende
       der Vereinigung von Industriellen und Geschäftsleuten im Südosten, die sich
       mit dem Regierungschef getroffen und sich für politische Veränderungen
       eingesetzt hat.
       
       Bedirhanoglu ist ungewöhnlich ausgewogen, wenn es um Schuldzuweisungen
       geht. Er verurteilt die Morde der PKK an den Polizisten in Ceyhanpinar als
       eine Gräueltat, die dem „schadet, was die Kurden gewonnen haben“. Der
       Regierung wirft er vor, dass sie den Friedensprozess nicht mit
       demokratischen Reformen untermauert hat, die die Kurden im Gegenzug für
       ihren Waffenstillstand erwartet hatten.
       
       „Die Regierung hat die Kurden getäuscht,“ sagt er gegenüber der taz. Um die
       Sackgasse zu überwinden, müssten die Kurden und die Regierung „die
       Verhandlungen an der Stelle wieder aufnehmen, wo sie abgebrochen sind“. Um
       das zu erreichen, müssten Zivilgesellschaft und Wirtschaft Druck ausüben –
       auf beide Seiten.
       
       Übersetzung aus dem Englischen: Beate Seel
       
       17 Aug 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jasper Mortimer
       
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