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       # taz.de -- Gleichberechtigung verboten: Der Kampf, Mensch zu sein
       
       > In München erinnert eine Ausstellung an Simone de Beauvoir. Im Iran und
       > in Afghanistan werden Frauen ihre Rechte mit Gewalt genommen.
       
   IMG Bild: Simone de Beauvoir 1945
       
       Man wird nicht als Frau geboren, man wird zur Frau gemacht, schrieb Simone
       de Beauvoir 1949 in [1][„Das andere Geschlecht“]. Man wird nicht als Frau
       geboren, aber man stirbt daran, steht 2022 auf Transparenten in Teheran.
       
       Die Zeilen von Simone de Beauvoir habe ich zum ersten Mal im Original
       gelesen, während ein Bus vom Place de la Victoire in Bordeaux stadtauswärts
       auf den Uni-Campus nach Pessac rumpelte. Der Weg durch den Stau zur Uni
       dauerte eine Stunde, Zeit zum Lesen. Einmal stand neben mir Justine, sie
       wohnte im selben Haus und verstand Beauvoir. Bald tranken wir nachts Wein
       aus Pappbechern, mit Anfang zwanzig konnten wir zu Frauen werden, die frei
       reisen, studieren, trinken, denken konnten. Das haben viele heute nicht.
       
       Das Münchner Literaturhaus holt passenderweise Ende 2022 Simone de Beauvoir
       nach Bayern mit einer Ausstellung und Lesung. Die Autorin Julia Korbik ist
       angereist, die Beauvoir versteht und darüber schreibt.
       
       Das „andere Geschlecht“ benannte eine inakzeptable „Condition feminine“:
       Frauen würden definiert und definierten sich mitunter selbst in Hinblick
       auf ein Subjekt, den Mann. Die Frau bliebe so die Rippe Adams, ein
       Fragment. Da aber die Essenz der Existenz vorausgehe, sei die Zuschreibung
       nicht legitim: Geschlecht ist nicht das Wesen des Menschen, glaubte
       Beauvoir, vielmehr sozial verordnet. Aber: „Solange sie (die Frau) darum
       kämpfen muss, Mensch zu sein, ist sie außerstande, eine Schöpferin zu
       sein.“
       
       Neben dem Stern von 1973, auf dessen Cover Prominente Abtreibungen
       bekannten, liegt im Literaturhaus der Nouvel Observateur von 1971 – und
       erinnert daran, dass Beauvoir diese Kampagne angestoßen hatte. Beide
       Magazine sind schon lange vergilbt. Doch erst im Juni 2022 – 50 Jahre
       später – entschied die Bundesregierung, zumindest den Paragrafen 219a zu
       streichen, das Verbot, über Abtreibungen zu informieren.
       
       Ebenfalls 2022 folgte die zweite Runde der [2][Act-out-Kampagne], in der
       185 Schauspieler*innen, die sich ein Jahr zuvor als homosexuell, bisexuell,
       trans*, inter, queer, nichtbinär geoutet hatten, berichteten, was sich
       seither getan hat.
       
       An Weihnachten wird die Pandemie von führenden Epidemiologen als
       überstanden bezeichnet – noch aber tobt eine RSV-Welle, die meist Mütter
       erneut aus den Büros verbannt. Erstmals liegt Ende 2022 ein [3][Vorschlag
       für Vaterschaftsurlaub] vor – der wegen neuer Lebenswirklichkeiten nicht
       „Vaterschafts…“ heißen wird –, immerhin.
       
       Der abgewandelte Slogan „On ne naît pas femme, on en meurt“ wird seit
       Jahren von Protestierenden verwendet, wo patriarchale Gewalt FLINTA
       bedroht. 2022 wurde er weltweit neu bebildert: In Europa, als im März in
       der Ukraine eine Geburtsklinik bombardiert und Vergewaltigungen zur
       Kriegswaffe wurden (im Dezember nennt ein ukrainischer Anwalt eine
       fünfstellige Opferzahl).
       
       Im Iran, als die Spitzensportlerin [4][Elnaz Rekabi] verschleppt und
       Protestierende durch Gummigeschosse geblendet oder nach Schauprozessen
       erhängt wurden.
       
       In Afghanistan, als die Taliban in den letzten Dezembertagen Studentinnen
       aus Universitäten warfen und [5][Angestellte von Hilfsorganisationen] nicht
       mehr arbeiten konnten.
       
       Die Münchner U4 schaukelt derweil zum Literaturhaus und den Theatern.
       Kulturinteressierte besteigen – wieder maskenlos – den Nahverkehr.
       Besonders die Bühnen haben jetzt die Möglichkeit, unmittelbarer als andere
       Kunstinstitutionen auf diese Zäsuren zu reagieren. Die, die spielen, die
       schreiben, die lesen sind noch da – und haben die Aufgabe vor sich, im
       kommenden Jahr eine Sprache für die Geschehnisse von 2022 zu finden.
       
       30 Dec 2022
       
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