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       # taz.de -- Götz Alys „Wie konnte das geschehen?“: Die Mitte machte mit
       
       > Götz Alys neues Buch sammelt die Erkenntnisse seiner Forschung zum
       > Nationalsozialismus. Es sucht Antworten auf die Frage: „Wie konnte das
       > geschehen?“
       
   IMG Bild: Viele Deutsche hatten neue Zuversicht. Viele Jugendliche wollten Utopie statt Kompromisse. Deutsche Mädel fahren in die Ferien
       
       Wie konnte das geschehen? Das fragt sich Götz Aly in seinem neuen Buch, in
       dem er die Erkenntnisse seiner Forschungen seit den 1980ern zusammengefasst
       und in Teilen neu akzentuiert hat. „Wie konnte das geschehen?“ darf man als
       Summa dieses Gelehrten bezeichnen, dessen Bücher immer wieder überrascht
       und [1][Widerspruch erregt] haben. Was es mit diesem „Das“ auf sich hat,
       ist nicht so selbstverständlich. Viele wollten es nach 1945 auch gar nicht
       so genau wissen, zu sehr waren sie darin verstrickt gewesen.
       
       Obwohl die Geschichtswissenschaft immer gründlicher „alle möglichen
       Teilprobleme“ ausleuchte, sei die „zentrale Frage aller deutschen Fragen“ –
       wie es dazu kommen konnte – in Vergessenheit geraten, meint Aly. Sich mit
       ihr zu befassen, sei von seiner Tochter bei einem Besuch der
       KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen angestoßen worden: „Sag’ mal, und bei all dem
       war Opa irgendwie dabei?“ Ja, lautet die Antwort Alys. Sein Vater wurde
       1937 Heimbau-Referent der Gaujugendführung in der Saarpfalz, war als Soldat
       in Frankreich und an der Ostfront, wurde schwer verwundet und leitete von
       Anfang 1944 bis Kriegsende die Kinderlandverschickung im Sudetenland. Er
       habe seine Aufgaben mit Schwung und Erfolg erledigt, schreibt sein Sohn.
       „Mit Morden und Kriegsverbrechen hatte er nichts zu tun, mehrfach davon
       gehört sehr wohl.“ Zweifellos habe auch der Vater eine der vielen kleinen
       Stützen Hitlerdeutschlands gebildet.
       
       Diese vielen kleinen Stützen, aber auch die Skeptiker, wurden von der
       modernen, multimedialen Propaganda aus dem Ministerium von Joseph Goebbels,
       von Hitlers pokernder Politik, von Annexionen und Blitzkriegen in ständige
       Spannung, Angst, Atemlosigkeit und immer nur kurze Erleichterung versetzt.
       Es galt, wie Aly anschaulich zeigt, ein hohes Tempo vorzulegen, die Leute
       nicht zur Ruhe und zum Nachdenken kommen zu lassen.
       
       Goebbels spannte die hochentwickelte deutsche Unterhaltungsindustrie für
       seine Zwecke ein und beschäftigte die besten Regisseure,
       Schauspielerinnen, Komponisten und Sängerinnen. Ob die schwul oder aus der
       linken Kulturelite der Weimarer Republik stammten, war dem
       Propagandaminister egal. Die „Kulturschaffenden“ machten gern mit, sie
       wurden gut bezahlt.
       
       ## Die Jugend strebt nach oben
       
       Aly blickt auf die Interdependenzen zwischen Führung und Volk: Wer Macht
       ausüben will, tut auch in einer Diktatur gut daran, sich des Wohlwollens
       und des Mitmachens einer Mehrheit, in Hitlers Worten: „der Masse der
       Mitte“, zu versichern. Aly zeigt anhand vieler Biografien, Tagebucheinträge
       und Briefe ganz normaler Deutscher, vom BdM-Mädel bis zum Professor, wie
       Hitlers Regime die Gesellschaft in Begeisterung versetzte, atomisierte,
       aktivierte, ihren Bedürfnissen entgegenkam, sie in die eigenen Verbrechen
       verwickelte, etwa durch das Ersteigern jüdischen Hausrats. Schließlich
       drohte man den Deutschen mit der Beteiligung an diesen Verbrechen:
       Mitgefangen, mitgehangen. Im Falle einer Niederlage werde es den Deutschen
       nicht anders ergehen als ihren Opfern, bleuten Goebbels und Hitler den
       Deutschen seit 1942 ein.
       
       Wie konnte das also geschehen? Für Aly gibt es nicht eine, sondern mehrere
       Antworten, die je nach Phase – im Frieden, in der erfolgreichen ersten und
       in der von der absehbaren Niederlage bestimmten zweiten Hälfte des Kriegs –
       unterschiedlich ausfallen. Die geburtenstarken Jahrgänge einer laut Thomas
       Mann so aufmüpfigen wie autoritären Jugend strebten nach oben. Sie hatten
       „Lust, Klassengrenzen zu überschreiten“ und nahmen die Angebote des Regimes
       zur Teilhabe genauso gern an wie die durch den Ausschluss der Juden aus der
       Volksgemeinschaft frei gewordenen Stellen.
       
       ## Die evangelische Kirche liebt den Führer
       
       Die Protestanten gehörten zur Kernklientel der NSDAP. Führende Vertreter
       der Evangelischen Kirche (die Bekennende Kirche keineswegs ausgenommen)
       bejubelten Hitlers „Machtergreifung“ als „Geschenk und Wunder Gottes“.
       
       Man kann sich nur einmal mehr darüber wundern, wie es dieser Kirche nach
       1945 gelungen ist, so zu tun, als hätte sie gegen das Regime gekämpft. Auch
       Gewerkschaften setzten mancherorts einiges daran, den Mythos ihrer
       Zerschlagung aufrechtzuerhalten, obwohl sie sich im Großen und Ganzen
       relativ geschmeidig gleichschalten ließen. Das hatte mit den
       Gerechtigkeitsversprechen der Nazis zu tun, die sie durch sozialpolitische
       Wohltaten auch einlösten.
       
       1933 votierte nur die SPD gegen das Ermächtigungsgesetz. Die anderen vier
       Parteien der Mitte stimmten zu, auch das katholische Zentrum. Allerdings
       war es der katholische Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen,
       der im Sommer 1941 in drei Predigten gegen das Euthanasieprogramm wetterte,
       mit dem das Morden begann. Aly stellt die berechtigte Frage, was passiert
       wäre, wenn Galen früher seine Stimme erhoben und wenn er vor allem nicht
       allein auf weiter Flur geblieben wäre.
       
       ## Die blutigste Konkursverschleppung der Weltgeschichte
       
       Im Zentrum der Analyse steht – wenig überraschend, das hat er bereits
       anderswo dargelegt – Alys Charakterisierung der Hitlerschen Politik als
       „hochkriminell durchorganisierte, blutigste Konkursverschleppung der
       Weltgeschichte“. Die Aufrüstung der Wehrmacht war nur durch massive
       Staatsverschuldung möglich, was den Krieg unausweichlich machte, der die
       Verschuldung weiter erhöhte. So wurden die deutschen Juden enteignet, die
       besetzten Länder ausgeraubt und diesen nahegelegt, ebenfalls ihre Juden zu
       enteignen. Wurden die Lebensmittel in Deutschland knapp, plante man das
       Verhungernlassen ganzer Städte in der Sowjetunion.
       
       „Die staatlich organisierte Expropriation der Juden entlastete die als
       arisch definierte deutsche Mehrheit bis zum letzten Kriegstag und darüber
       hinaus“, schreibt Aly. Nicht nur darüber wurde auch lange nach Kriegsende
       geschwiegen. Noch unter der Regierung Helmut Schmidt wurden die Akten der
       Reichsbankkommissare in den besetzten Ländern vernichtet. „Hätten die
       Nachfolgestaaten Hitlerdeutschlands das Geraubte zurückerstatten und für
       die Zerstörungen, Verletzten und Toten, für die Waffen und Bomben, die
       aufgewendet werden mussten, um die hitlerdeutschen Aggressoren zu besiegen,
       bezahlen müssen, wäre jeder wirtschaftliche Neuanfang unmöglich geworden.“
       
       Viele Deutsche, die bei diesen Verbrechen mitwirkten, waren keine
       NSDAP-Mitglieder, sie kamen „aus der Mitte der Gesellschaft“. Die
       Regierung, die Staat und Gesellschaft zusehends verschmolz, konnte „auf
       Millionen von aktiven Unterstützern, von gleichgültigen, fungiblen
       Mitläufern und mehreren Hunderttausend an den Schreibtischen, in der
       Logistik und der Verwaltung sowie in den Stätten zur Menschenvernichtung
       tätigen Exekutoren“ bauen. Weshalb Aly bevorzugt, von Hitlerdeutschland und
       den Deutschen, nicht von „den Nationalsozialisten“ zu sprechen.
       
       Auch die ersten Opfer des Regimes, das sich durch hohe innere Pluralität
       auszeichnete, waren Deutsche, die als politische Gegner exemplarisch
       verhaftet wurden. Seit 1934 richtete sich die Gewalt gegen „Inländer, die
       von der gesellschaftlichen Mehrheit als unliebsame, das kerndeutsche
       Miteinander beeinträchtigende Randgruppen angesehen wurden“, schreibt Aly.
       „Vorneweg zählten dazu die Juden, die knapp ein Prozent der Bevölkerung
       ausmachten, es folgten Menschen, die ‚zigeunerisch‘ umherzogen,
       Kleinkriminelle, Arbeitsscheue, Obdachlose, Landstreicher, Behinderte,
       psychisch Auffällige. Am Ende fanden Wissenschaftler den Sammelbegriff
       ‚Gemeinschaftsfremde‘.“
       
       ## Die Deutschen, nicht die Nationalsozialisten
       
       Aly wendet sich dagegen, diesen „auf das aktive oder passive Mittun der
       Volksmassen gestützten Schurkenstaat“ unter dem allgemeinen, sehr
       unterschiedliche Regime beschreibenden Begriff „Faschismus“ zu subsumieren.
       Die Adjektive „nationalsozialistisch“ und „völkisch“ erscheinen ihm hohl,
       auch wenn man sie mit dem inhaltlich entleerten Schimpfwort „Ideologie“
       kombiniere.
       
       Der Holocaust habe auf dem Antisemitismus basiert, „hätte jedoch ohne einen
       insgesamt mörderisch geführten, allein von Deutschland zu verantwortenden
       Großkrieg nicht ins Werk gesetzt werden können“. Aly versucht zu zeigen,
       dass es das Scheitern des Kriegs war, das Hitler im Winter 1941 zum
       Entschluss brachte, das von seinen SS-Generälen, Besatzungs- und
       Umvolkungsmanagern begonnene Mordprogramm auf die Gesamtheit der
       europäischen Juden auszuweiten, um das Volk auf den „Endsieg“ einschwören
       zu können. Ein rechtsradikaler deutscher Theoretiker hatte allerdings
       bereits 1923 aus dem Genozid an den Armeniern geschlossen, „dass die
       Reinigung eines Volkes im größten Stil von Fremdkörpern jeder Art sehr wohl
       möglich ist“, worauf Aly am Anfang seines Buches hinweist.
       
       Die Ermordung der Juden, von Menschen mit Behinderung, von sowjetischen und
       polnischen Zivilisten und Kriegsgefangenen erzeugten laut Aly die mafiose
       Schweige-Gemeinschaft von Volk und Führung, die das Weitermachen bis zum
       Schluss ermöglichte.
       
       Er betont jedoch, dass es erstens die Nazi-Ideologie nicht gab, sondern
       situativ der Lage angepasste Programme, und zweitens sich der Mord an den
       Juden nicht ausschließlich aus antisemitischem Hass, Irrationalismus oder
       „Wahn“ erklären lässt. Er weist aber selbst darauf hin, dass das Regime
       politisch umsetzte, was etwa am ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene an der
       Münchener LMU oder am Berliner Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie,
       menschliche Erblehre und Eugenik, wo Dr. Dr. Josef Mengele studierte,
       vorgedacht wurde. Alys barsche Zurückweisung des Begriffs der Ideologie
       liest sich daher arg polemisch. Werden Menschen erst als „lebensunwert“
       oder „Untermenschen“ gezeichnet, ist ihre potenzielle Vernichtung
       mitgedacht.
       
       ## Bessere Menschen, denen die Zukunft gehörte
       
       Wo aber fing das Übel an? Aufstieg und Machtübernahme der NSDAP könnten
       nicht allein dem rechten Lager zur Last gelegt werden, die Weimarer
       Republik sei nicht nur am verlorenen Krieg, dem Versailler Diktat,
       Wirtschaftskrisen, rechten Beamten, Richtern und Militärs gescheitert,
       argumentiert Aly. Die Kommunisten hatten die Republik genauso vehement
       bekämpft wie die Nazis. Der Historiker richtet den Blick auf die vielen
       jungen und protestantischen Wählerinnen und Wähler, die bei zwei Wahlen im
       Jahr 1932 die NSDAP zur stärksten Fraktion im Reichstag machten. Bei beiden
       Wahlen errangen Parteien, die ein Ende der Republik anstrebten, über 50
       Prozent der Stimmen.
       
       Bald habe sich der Nationalsozialismus als identitäre Massenbewegung
       präsentiert, „die für das Ende erlittener Demütigungen eintrat, Denkmäler
       stürzte, Straßen umbenannte und ihre Anhänger als per se bessere Menschen
       qualifizierte, denen die Zukunft gehörte“. Das erscheint Aly „nicht
       unaktuell“.
       
       Eine der Lehren, die sich seiner Meinung nach aus dieser Analyse ziehen
       ließen, lautet, „dass ähnlich agierende, auf ständigen Aktionismus und
       Daueraggression setzende politische Regime frühzeitig in ihren
       Bewegungsmöglichkeiten gestoppt, zumindest deutlich abgebremst werden
       müssen“. [2][Wenn man sich derzeit in der Welt umsieht], scheint das
       allerdings leichter gesagt als getan. Allen, die aber verstehen wollen,
       „wie das geschehen konnte“, weil es wieder geschehen kann, sei Alys Buch
       zur Lektüre empfohlen.
       
       2 Sep 2025
       
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