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       # taz.de -- Gothic-Revival: Schmerz, schwarz und schwärzer
       
       > Verlangen düstere Zeiten nach düsterer Musik? Das schwelende Revival von
       > Gothic in Musik, Film und Mode zeigt, dass es immer noch dunkler werden
       > kann.
       
   IMG Bild: Viel Haarspray bei Harsh Symmetry
       
       Der Anfang lässt sich, wie so oft, nicht an einem konkreten Ereignis
       festmachen. Es lag etwas in der Luft, Ende der 1970er Jahre im
       krisengeschüttelten England der Thatcher-Zeit. Etwas Düsteres, das sein
       Echo in einer neuen Art von Musik fand, die zunächst noch keinen
       Genrenamen hatte.
       
       „Bela Lugosi’s Dead“, 1979 aufgenommen von der Postpunk-Band Bauhaus, wurde
       im Nachhinein als [1][Geburtsstunde des neuen Genres] bezeichnet und zum
       ersten Gothic-Song aller Zeiten erklärt. Neun Minuten dubbiges Knarzen,
       Grollen und Rattern, dazu Peter Murphys Stimme, die dämonengleich den
       Dracula-Darsteller beerdigt.
       
       „Goth und Post-Punk erlaubten es uns als Teenagern, eigene Ängste und
       Sehnsüchte, die unter der intensiven Oberfläche brodelten, zu offenbaren.“
       [2][So beschreibt Lol Tolhurst in „Goth. A History“, was den Reiz der Musik
       damals ausmachte.] In dem 2023 veröffentlichten Buch zeichnet der britische
       Gitarrist, der 1976 gemeinsam mit Sänger Robert Smith die Band The Cure
       gründete, aus seiner Perspektive die Geschichte des Genres nach. Liest man
       es heute, erscheint es etwas weniger überraschend, dass Gothic momentan so
       etwas wie ein Revival erlebt.
       
       ## The Cure sind wieder da
       
       Was soll man denn auch sonst hören, in Zeiten, in denen wieder fast jeden
       Tag neue Gründe dazukommen, an der Welt zu verzweifeln? Selbst Tolhursts
       frühere Band – er verließ The Cure bereits 1989 – [3][ließ vor Kurzem nach
       16 Jahren Pause wieder von sich hören]. Als Reaktion auf die Zustände?
       
       Die Schwermut, der sich Robert Smith auf den „Songs of a Lost World“
       hingibt, mag zwar eigentlich eher von persönlichen Schicksalsschlägen und
       weniger von Weltschmerz angesichts der politischen Gesamtlage oder des
       beklagenswerten Zustandes des Planeten genährt worden sein. Einen Nerv
       trafen die alten Herren mit ihrem Geheul dennoch.
       
       Auch die Ästhetik der Goths ist inzwischen wieder überall zu finden. Man
       muss dafür keine Sargdeckel anheben. Spätestens seit [4][Jenna Ortega 2022
       in der Netflix-Serie „Wednesday“] in Bewegungen, die sie sich – natürlich –
       von Sängerin Siouxie Sioux abgeguckt hatte, zum Song „Goo Goo Muck“ der
       US-Garagenband The Cramps tanzte und die Tiktok-Gemeinde es ihr nachmachte,
       ist die Gothic-Subkultur, deren Hochzeit in den 1980er und 90er Jahren zu
       verorten ist, von den Untoten erwacht.
       
       ## Viktorianisch hoher Kragen
       
       Momentan ist es der Hype um [5][Robert Eggers’ „Nosferatu“-Neuverfil]mung,
       der den Plot weitertreibt. Und die Mode. Balenciaga präsentierte unlängst
       so spitz zulaufende Schuhe, dass die Pikes, wie sie früher zu den
       Erkennungsmerkmalen der Grufties gehörten, im Vergleich bequem aussehen;
       außerdem noch schwarze Spitze, Samt und Leder sowie Technoversionen
       viktorianisch hoher Kragen. Tragbarere, günstigere Varianten vampiresker
       Mode gibt es bei den Fast-Fashion-Ketten. Mall-Goths nannte man das mal,
       als es noch in Einkaufszentren zum Shoppen ging.
       
       „Goth hat das Undenkbare getan. Nach Jahren des Herumlungerns in der
       kulturellen Wildnis, ist Goth, dank der zunehmend düsteren Zeiten, in denen
       wir uns derzeit befinden, gepaart mit einem noch nie dagewesenen
       Livestream-Zugang zu Kultur, wie sie sich abspielt, endlich in den
       Mainstream gestürzt.“
       
       Das behauptet zumindest Tish Weinstock, eine 34-jährige Londoner
       Beautyredakteurin, die unter anderem für die britische Vogue schreibt und
       kürzlich einen Mode- und Stilratgeber namens „How to Be a Goth: Notes on
       Undead Style“ veröffentlichte. In einer postsubkulturellen Welt, so
       argumentiert Weinstock, sei es längst nicht mehr notwendig, nur Goth-Musik
       zu hören und sich strikt in Schwarz zu kleiden: Gothic sei allgegenwärtig,
       man könne nach Belieben in die Kultur eintauchen und sie wieder verlassen.
       
       ## Nicht aus der Gruft, sondern aus Minsk
       
       Ältere Goths, die der Szene seit Jahrzehnten die Treue halten, würden
       sicher protestieren. So oder so – lange sprach nicht mehr so viel dafür,
       zum Teilzeit-Goth zu werden. Eine der interessantesten Bands gründeten Egor
       Shkutko, Roman Komogortsev und Pavel Kozlov 2017 im belarussischen Minsk:
       Molchat Doma.
       
       Ihr Debütalbum „S krysh nashikh domov / С крыш наших домов“ erschien noch
       im Selbstverlag. Ein Amalgam aus regimekritischem Sowjet-Rock der 1980er,
       Synthie-Pop, Post-Punk und Dark Wave. Eine musikalische Übersetzung der
       Postsowjet-Tristesse, der dunkelsten Flecken der belarussischen Seele, die
       über Youtube und Tiktok viral ging und so auch ein junges westliches
       Publikum erreichte – trotz oder vielleicht sogar wegen ihrer russischen
       Songtexte.
       
       ## Dystopische Dringlichkeit
       
       Seit 2020 leben Molchat Doma im US-Exil in Kalifornien. Dort
       veröffentlichten sie im September nach längerer Pause das Album „Belaya
       Polosa / Белая Полоса“ (deutscher Titel „Weiße Linie“) bei Sacred Bones
       Records. Explizit sprechen die drei Musiker es zwar nicht an, doch die
       politische Situation, mit der sie als Künstler konfrontiert sind – die
       Verhältnisse in Belarus, die Repressionen, mit denen sie dort wegen ihrer
       klaren Haltung gegen den russischen Angriffskrieg rechnen müssten, das
       Exil, die Ungewissheit – spielt mit hinein, verleiht ihrem dystopischen
       Sound noch mehr Dringlichkeit.
       
       Ob man die Songtexte nun versteht oder nicht. Überhaupt scheint die Szene
       kaum Sprachbarrieren zu kennen. Seit 2006 aktiv ist die türkischsprachige
       Gothic-Rockband She Past Away. Hochgeschätzt ist auch das isländische Trio
       Kælan Mikla aus Reykjavík, das Robert Smith einmal als seine Lieblingsband
       bezeichnet hat. Drei selbsternannte Hexen, die sphärisch über hypnotische
       Synthie-Klanglandschaften singen – auf Isländisch.
       
       Jüngere Acts kommen oft aus London oder Los Angeles. Dort lebt auch Julian
       Sharwarko, der sich Harsh Symmetry nennt. Mit seinem hochtoupierten
       platinblonden Schopf und kajalumrandeten Augen sieht er nicht nur so aus,
       als habe man ihn aus den frühen 1980ern ins Hier und Jetzt gebeamt, er
       klingt auch so.
       
       Wie New Order, The Cure oder Echo & the Bunnymen, aber eben in der
       Gen-Z-Version. Zwei Alben hat Sharwarko bereits bei Fabrika Records
       veröffentlicht und diese Anfang des Jahres um die keine 20 Minuten lange,
       selbstveröffentlichte, herrlich nostalgisch anmutende EP „On-Screen Death“
       ergänzt.
       
       ## Dämonen exorzieren
       
       In London zu Hause ist Tina Boleti, die zunächst Keyboard in verschiedenen
       lokalen Punkbands spielte. Dann kamen Covid-19 und die Lockdowns. Die
       Künstlerin nutzte die Zeit, mit elektronischer Musik zu experimentieren und
       – wie sie es ausdrückt – „ihre Dämonen zu exorzieren.“ Night in Athens
       nennt die gebürtige Griechin das Soloprojekt, das sie auf diese Weise
       heraufbeschwor.
       
       Minimalistischer Synthiepop mit Punkanleihen, frostiger noch als der Cold
       Wave der 1980er. 2021 erschien „Metropolis“, ihre Debüt-EP, 2022 folgte
       „Crime Seen“, „Wasted Reflektions“ erschien im Herbst bei Wave Records, dem
       brasilianischen Partnerlabel von Young & Cold Records aus Augsburg.
       
       Boleti liefert darauf gleich zu Beginn, auf „Pale Rose“, eine
       Kurzbeschreibung des schwarzen Lebensgefühls, vorgetragen in Grabesstimme:
       „I wrap myself / In blackest clothes / A shroud of sadness / My soul to
       froth / The world they shun me / They cast me out / But I embrace the
       shadows / Without a doubt.“
       
       ## Düstere Nichte zweiten Grades
       
       Und es gibt noch viel mehr: Ultra Sunn aus Belgien, die Cold Wave und EBM
       fusionieren; das Hamburger Dark-Dreampop-Duo Kraków Loves Adana; die
       Musikerin Rein aus Schweden, die mitunter so klingt, als sei sie Kylie
       Minogues düstere Nichte zweiten Grades; Vision Video aus den USA, die mit
       ihrem Gothic Pop sowohl die einschlägigen Clubs als auch Tiktok aufmischen.
       
       Oder Die Selektion, eine der vielen süddeutschen Bands, die im Esslinger
       Komma ihre Anfänge hatten, wo Luca Gillian, Hannes Rief und Max Rieger –
       bekannter als Sänger und Gitarrist von [6][Die Nerven] – ab Dezember 2010
       noch als Teenager probten. Mittlerweile ist Die Selektion ein vierköpfigen
       Kollektiv, das EBM mit Trompete, Synthesizer, Drum-Computer und
       deutschsprachigem Gesang mit DAF-Anklängen macht.
       
       Seit seiner Entstehungszeit hat sich Gothic in zahllose Subgenres
       atomisiert, die mal mehr, mal weniger massenkompatibel sind. Musiker und
       Autor Lol Tolhurst erklärt es in seinem Buch dennoch für „die letzte echte
       alternative Außenseiter-Subkultur“. Deren „schöne, düstere Welle der Kunst“
       – so schreibt er weiter – sei eine ideale Form von Widerstand gegen „das
       schreckliche Abgleiten unserer Welt in einen unterdrückerischen
       Autoritarismus“. Es werde „etwas Gutes“ dabei herauskommen. Gebrauchen
       könnten wir das ohne Frage.
       
       16 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
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