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       # taz.de -- Graphic Novel „Das Gutachten“: Im Schatten des Deutschen Herbstes
       
       > Süffisante Illustration der Bonner Republik: Jennifer Daniel erzählt eine
       > westdeutsche Nachkriegsgeschichte zwischen RAF, Crime und Kuriositäten.
       
   IMG Bild: 1977 steht für die Entführung und Ermordung des Unternehmers Hanns Martin Schleyer durch die RAF
       
       Miriam Becker – jung, links, alleinerziehende Mutter – [1][sympathisiert
       mit der RAF]. Wir befinden uns im Jahr 1977. Miriam ist auf dem Weg zu
       einer politischen Aktion vor dem Bonner Kanzleramt in der alten
       Bundesrepublik, als sie mit ihrem Auto auf einer Landstraße verunglückt.
       Der Unfallverursacher begeht Fahrerflucht.
       
       Miriam stirbt mitsamt ihrem kleinen Sohn. Doch auch ein alkoholisierter
       Herr Martin beobachtete den Unfall und wird zum Zeugen. Am nächsten Tag
       liegt Miriams Leiche im Rechtsmedizinischen Institut. Herr Martin,
       Fotoassistent des Chef-Forensikers, verliert bei ihrem Anblick das
       Bewusstsein.
       
       Die in Düsseldorf lebende Zeichnerin Jennifer Daniel hat sich für ihre
       zweite, beim Hamburger Carlsen Verlag erschienene Graphic Novel „Das
       Gutachten“ von alten Familienfotos aus den 1970ern inspirieren lassen. Ihr
       eigener Großvater stand Modell für ihren Protagonisten, „Herr Martin“. Die
       im Anhang des Buches abgebildeten Fotos zeigen den Großvater als
       Assistenten der Rechtsmedizin oder vor seinem Auto, einem VW Käfer.
       
       Ein weiteres Bild zeigt ihn mit dem geliehenen Porsche seines Chefs, der am
       Ende des Buches eine nicht unwichtige Rolle spielen wird. Außerdem ist da
       auch eine Ente abgelichtet, ein etwas ramponierter „2 CV“, wie ihn Miriam
       Becker im Comic fährt.
       
       ## Höhepunkt des linksextremistischen Terrors
       
       Die leicht vergilbten Fotos aus Opas Kiste gaben den Anstoß für diese
       fiktive Kriminalerzählung, den die Zeichnerin nun im Sommer 1977, am
       Vorabend [2][des „Deutschen Herbstes“] angesiedelt hat. Der
       [3][linksextremistische Terror] erreichte damals in der Bundesrepublik
       seinen Höhepunkt.
       
       1977:Dieses Jahr steht in der Geschichtsschreibung für die Entführung und
       Ermordung des Unternehmerpräsidenten Hanns Martin Schleyer durch ein
       RAF-Kommando, die Flugzeugentführung der „Landshut“ durch palästinensische
       Terroristen, die die RAF unterstützen wollten, und schließlich die
       Selbstmorde der in Stuttgart-Stammheim einsitzenden RAF-Anführer.
       
       In der Graphic Novel wollen Miriam Becker und ihre Mitstreiter mit einer
       relativ harmlosen Aktion beim Kanzlerfest auf die Freilassung der
       „politischen Gefangenen“ in Stammheim hinwirken. Im Zentrum der Erzählung
       steht nun die Frage: Wer hat den Tod der jungen Aktivistin auf dem
       Gewissen?
       
       Zunächst steht der etwas linkisch wirkende Herr Martin selbst unter
       Verdacht. Der zieht gerne, wenn er sich unbeobachtet wähnt, einen Flachmann
       aus der Jacke, um sich ein wenig zu betäuben – oder vielmehr, um zu
       vergessen. Immer wieder flackern Erinnerungen auf, die Herrn Martin
       bedrängen: Bilder vom Kriegsende, als der damals gerade 18-Jährige als
       Soldat an der Westfront eingesetzt wurde und getötet hatte.
       
       ## Nie vergessene Kriegsbilder
       
       Die traumatischen Bilder hat er nach 1945 nie vergessen können, und darüber
       zu reden, ist auch nie eine Option gewesen. Die Bilder der jungen Mutter
       und ihres toten Kindes bedrängen ihn jetzt.
       
       Herr Martin, Ende 40, führt ein damals typisches deutsches
       Biedermann-Leben. Sein Eheleben ist eher funktional und wenig zärtlich, die
       Schwiegermutter scheint ein Drachen und sein Sohn macht gerade die
       Führerscheinprüfung – einst der wichtigste Einstieg ins Erwachsenenleben.
       Doch um seine Familie sorgt sich Herr Martin eher wenig.
       
       Er versucht vielmehr, dem unfallflüchtigen Fahrer auf die Schliche zu
       kommen. Und das führt ihn in die „besseren“ Bonner Kreise. Doch da stößt er
       auf unerwartete Seilschaften, die hinter den Kulissen verhindern, dass das
       „Gutachten“ von Herrn Martins Chef, dem Professor, die Wahrheit ans Licht
       bringt.
       
       Jennifer Daniel erzählt diese vielschichtige Geschichte auch als
       Generationenkonflikt: zwischen jenen Menschen, die in Deutschland die
       Nazizeit als Erwachsene miterlebt haben (wie Herr Martin und sein
       Vorgesetzter) und der damals jungen 68er-Generation (Miriam, ihre
       Freundinnen und ein paar unbeholfene linke Aktivisten).
       
       ## Siebzigerjahre mittels zeittypischer Accessoires abgebildet
       
       Während die Selbstherrlichkeit der Älteren, für die insbesondere der
       Professor steht, recht präzise getroffen sind, erscheinen die
       Alltagsprobleme der jungen Mutter Miriam bisweilen jedoch etwas banal und
       allzu bekannt. Doch fällt das nicht zu sehr ins Gewicht, da Daniel den
       Spannungsbogen ihrer Kriminalerzählung stetig anzieht.
       
       Die grafische Gestaltung wirkt dabei überaus zeitgemäß und gelungen. Schon
       „Earth Unplugged“, das 2013 im Jaja Verlag erschienene Debüt und die
       Abschlussarbeit der 1986 in Bonn geborenen, studierten Grafikdesignerin,
       zeugte neben einer intelligenten Öko-Science-Fiction über einen totalen
       Blackout von grafischer Raffinesse wie inhaltlicher Originalität.
       
       In „Das Gutachten“ (das dieses Jahr wie ihr Debüt für den
       Max-und-Moritz-Preis des Comicsalons Erlangen nominiert war, aber nicht
       reüssierte) beschwört Jennifer Daniel die siebziger Jahre mittels
       zeittypischer Accessoires wieder herauf: historische Automarken,
       Zigaretten, Hüte, Manschettenknöpfe und nicht zuletzt der Flachmann als
       bester Freund charakterisieren ihre Figuren und dienen ebenso zur
       süffisanten Illustration einer Epoche.
       
       Obwohl im Grunde eine dichte Personenstudie, kreiert die Zeichnerin auch so
       manche „Massenszene“, um die Machtverhältnisse der alten Bonner Republik
       sichtbar zu machen. Insbesondere im Vorlesungsraum an der Uni, wo der
       autoritäre Professor es mit einer renitenten Studentin zu tun bekommt. Oder
       im Bonner Theater, wo (die sofort erkennbaren) Helmut und Loki Schmidt ihr
       Kanzlerfest für die damalige Bonner Hautevolee ausrichten.
       
       Gezeichnet ist das alles in sehr stimmigen, ausgewählten Farbflächen
       (Cordsakko-Braun und Polizeiuniform-Grün dominieren) und unter weitgehendem
       Verzicht auf Konturierungen der Figuren, Gegenstände und Architekturen. Was
       wie aquarelliert aussieht, hat die Zeichnerin komplett am Computer kreiert
       – eine Technik, die vor allem der Franzose [4][Alexandre Clérisse (u. a.
       „Ein diabolischer Sommer“)] zur Perfektion gebracht hat.
       
       Die Düsseldorferin hat jedoch durchaus ihren eigenen Stil entwickelt, der,
       durch vielfältige Illustrations- und Grafik-Design-Erfahrungen trainiert,
       auf klare, gut lesbare Bilder setzt und sich durch eine große Leichtigkeit
       auszeichnet.
       
       So gelingt Jennifer Daniel ein spannender, von subtiler Komik geprägter
       Krimi über zwei Schicksale in einer politischen Umbruchszeit. Die
       hochpolitischen siebziger Jahre stellt sie dabei wohltuend nüchtern dar,
       ohne jede romantisierende Verklärung. Mit ihrer Hauptfigur des Herrn Martin
       ist ihr ein berührendes Psychogramm eines im Gestern gefangenen
       Kriegsbeteiligten gelungen, der an seinen Erinnerungen und Gewissensbissen
       zerbricht.
       
       10 Aug 2022
       
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