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       # taz.de -- Graphic Novel von Adam Green: Die Mutter aller Verschwörungen
       
       > Mit Künstlerkollegen hat der New Yorker Popstar Adam Green eine
       > Sci-Fi-Graphic Novel ersonnen: „Krieg und Paradies“ gibt es nun auf
       > Deutsch.
       
   IMG Bild: Ein Mix aus Historienerzählung, Videospiel, tibetischer Jenseitsvorstellung und US-Konsumkultur
       
       Nichts ist unangenehmer als die Kunstpause des Comedians nach dem Gag.
       „Krieg und Paradies“ folgt dem exakt gegenteiligen Prinzip: Keine Pointe
       ist so gut, dass sie nicht gleich von der nächsten schon wieder
       überschrieben werden könnte. Auf Entfaltung beim Publikum wird nicht
       gewartet.
       
       So stürmt man auch über Kalauer lässig hinweg, denn im nächsten Bild könnte
       schon wieder die nächste Erkenntnis oder zumindest eine lustige Beobachtung
       lauern. „Eine Seele ist so urig. Ein rustikales Ding, Streitsache der
       Nerven“, charakterisiert der einfühlsame Sexroboter da zum Beispiel die
       menschlichen Wesen; und später, durchaus anschlussfähig an aktuelle
       Diskurse: „Wenn wir sprechen, unterdrücken wir die Stimmen aller anderen.“
       
       [1][Der New Yorker Musiker Adam Green], Willy Wonka der DIY-Art, hat nun
       nach diversen Alben, Filmen, Malereien und Zeichnungen auch einen Comicband
       herausgebracht. Die Erzählung schrieb er selbst, stellenweise im
       Zwiegespräch mit seiner Frau Yasmin, die bei Google künstliche
       Intelligenzen fürs Aufspüren von Propaganda und Hasskommentaren trainiert
       und die als Storyline-Autorin genannt wird.
       
       Zwei Zeichner hat sich Green außerdem an die Seite geholt: [2][Toby
       Goodshank], mit dem er seinerzeit schon bei der Antifolkband Moldy Peaches
       auf der Bühne stand und später gemeinsam mit dem Schauspieler Macaulay
       Culkin das temporäre Künstler-Trio Three Man and a Baby bestritt. Als
       später Tom Bayne hinzustieß, nannte man sich Four Men and a God.
       
       ## Über vieles lässt sich auf Englisch einfacher schreiben
       
       Ende 2019 wurde das Werk in den USA veröffentlicht, jetzt ist eine
       deutschsprachige Übersetzung erschienen. Für die zeichnete [3][die
       Schriftstellerin Ann Cotten] verantwortlich, die für das Buch außerdem ein
       Interview mit den drei Künstlern führte. Und obwohl wirklich gut übersetzt,
       bleibt das eine ungewohnte Angelegenheit: Über vieles lässt sich halt immer
       noch einfacher auf Englisch singen oder hier schreiben.
       
       Cottens „polnisches Gendering“, das sie auch in eigenen Texten als
       experimentelle Form des Genderns verwendet, verleiht dem englischsprachigen
       Original aber eine zusätzlich kapriziös-versponnene Note, die dann wieder
       sehr treffend erscheint – so kommen hier „alle für alle Geschlechter
       nötigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende“.
       
       „Krieg und Paradies“ ist fest verankert im Green’schen Universum. Ein
       kausal subjektives Konglomerat aus großer Historienerzählung, Videospiel,
       russischer Literatur, tibetischer Jenseitsvorstellung und US-Konsumkultur.
       Ein Prequel gewissermaßen zu [4][„Aladdin“, dem 2016 produzierten Film] mit
       seinen komplett selbstgebauten Pappmaschee-Kulissen (für die seinerzeit
       übrigens Toby Goodshank verantwortlich zeichnete).
       
       In den Hauptrollen agieren unter anderem Pausanias, Regreta, die schöne
       Königin und Napoleon, „der emphatischste Insex der Welt“; man begegnet
       einem Rabbi, einem Kriegsheer natürlich und schließlich gar Gott. Es geht
       um Zeitdehner-Pillen, interspeziestische Begegnungen mit den Insex (gute
       Liebhaber, aber ohne Liebe), Gangbangs, Krieg, Kunst und Immobilienhandel.
       
       ## Fliegende NFTs und Genitalien
       
       Eine Göttliche Komödie mit den Mitteln des Comics, ausstaffiert wie ein
       Computerspiel der Neuzeit, in dem Bitcoin-Channel, Genitalien, NFTs und
       allerlei anderer Schabernack herumfliegen. Wie der Versuch, das Internet
       abzuzeichnen und sich einen eigenen Reim drauf zu machen, so sieht das
       streckenweise aus.
       
       Zwischen Üblichewelt und Jenseits werden Trans- und Posthumanismus,
       künstliche Intelligenzen, politische und religiöse Ideologien, Kriegs- und
       Paradiesvorstellungen durchdekliniert. Dabei schafft es Green meist, auch
       die zeitgenössischsten Phänomene angenehm ihrer Zeitlichkeit zu entledigen.
       
       Ein wenig Jewish Utopia gibt es obendrein noch mit. Mal geht’s in die
       Jüdische Wildnis, mal zu Rabbi Bagelheart, dem zweitweisesten Mann der
       Welt, der das namengebende Gebäck als Amulett um den Hals trägt. Natürlich
       ist alles, wie man das auch in Greens Zeichnungen kennt, streng
       fragmentiert. Comic-Gliedmaßen aus „Asterix & Obelix“, der US-Fassung von
       „Sesamstraße“, Super Mario und Garfield treffen auf Geschlechtsteile en
       masse, die aus Wolken baumeln oder wie Fern- und Sprachrohre aus allerlei
       Ecken lugen.
       
       Die Handlung schlägt regelmäßig Haken, die Handelnden changieren zwischen
       Ego und Selbstauflösung. Und so ist, wie Goodshank anmerkt, jeder Liebende
       am Ende immer ein ganz anderer Mensch als der, mit dem man ursprünglich
       zusammentraf. „Krieg und Paradies“ hat eine gute, nervöse Grundspannung.
       Das dürfte nicht nur an Greens gewohnt assoziativer Erzählweise liegen, die
       der schlafwandlerischen Selbstverständlichkeit einer Traumlogik gleicht. 
       
       ## Gezeichnet im DIY-Stil
       
       Sondern auch an den zahlreichen Sollbruchstellen, die sich durch
       künstlerische oder schlicht pragmatische Entscheidungen ergeben haben:
       Gezeichnet wurde mit Bleistiften aus Opa Green’s Staedler-Sammlung
       (mehrere Kisten Stifte haben die Künstler für das Werk verbraucht), sie
       verleihen den Szenen und Figuren eine handschriftliche, softe DIY-Qualität.
       
       Coloriert wurde dann aber digital – aufwändig genug war das Unterfangen
       ohnehin, wie die drei Macher im Interview zum Schluss berichten. Wenngleich
       die handkolorierte Probezeichnung natürlich viel schöner ausschaute.
       
       Schließlich dürfte auch die künstlerische Kollaboration von Green,
       Goodshank und Bayne einiges gewolltes Knirschen in die Sache gebracht
       haben. Die handwerklichen Skills des Trios sind nämlich durchaus
       unterschiedlich gelagert, was man, wenn man beispielsweise Goodshanks
       Arbeiten kennt, leicht erraten kann: Wo viel Liebe zum Detail gepflegt
       wird, war er vermutlich am Werk; die „koksigeren“ Zeichnungen, wie Adam
       Green das selbst nennt, stammen aus seiner Feder.
       
       Bayne schließlich brachte seine Erfahrungen aus Werbe- und Animationsfilm
       mit ein. Er fertigte die Storyboards der einzelnen Comicpanels und lachte
       über den übermäßigen Detailreichtum, mit dem einzelne Figuren ausgestattet
       wurden. Das würde so niemals in einer professionellen Produktion
       durchgehen, erklärt Bayne, viel zu aufwändig. Aber wenn ein Schritt einmal
       getan war, ging das Trio nicht mehr zurück, sondern vertraute auf den
       eigenen Prozess.
       
       ## Leitmotiv Verschwörungstheorie
       
       Das Endresultat sieht ergo überhaupt nicht wie aus einem Guss aus und
       scheint im Kern zugleich von einer großen Kraft im Kern zusammengehalten zu
       werden. Damit folgt das Werk auch ästhetisch dem Leitmotiv, um das es auf
       der Metaebene ein bisschen kreist: der Verschwörungstheorie. Man weiß, wie
       viele Biegungen und Dehnungen der Geist mithin unternehmen muss, um da
       bisweilen mitzukommen.
       
       Welche Paradoxien er schlucken oder in neuen Auswüchsen als Ausnahmen
       begründen muss. Kurzum, Verschwörungsglaube ist eigentlich eine ganz schön
       kreative Angelegenheit – und aus dieser mentalen Eigenleistung wird auch
       ihre unangreifbare Attraktivität fast schon zwingend. „Krieg und Paradies“
       exerziert den Wahnsinn als Methode und vielleicht gar als Urzustand der
       Conditio humana.
       
       Es wäre vermessen, hieraus allzu tagesaktuelle Dinge ableiten zu wollen.
       Der Titel triggert diesen Wunsch verständlicher Weise. [5][Der brutale
       Angriffskrieg in der Ukraine ist echt], Greens Groteske ist es nicht und
       Kunst kein Ersatz für Politik. Allenfalls könnte man noch die Formel
       bemühen, dass die Realität wieder einmal die Fiktion eingeholt habe.
       
       Man könnte über Cyberwar und ähnliche Schlagworte sprechen, die Green
       allerdings vor allem ästhetisch interessieren. Aber da verwässern auch
       schon die Begriffe und Vorstellungen, da lauern die Plattitüden, und so
       würde man weder den Menschen, deren Lebensräume in diesen Minuten ganz
       analog zerbombt werden, gerecht noch dem immerhin bereits 2019 erschienenen
       Kunstwerk, das ja in seinen drastischen Szenen purer
       Bewältigungsmechanismus der Welten Schrecken ist.
       
       ## Zu lernen gibt es nichts
       
       Zu lernen gibt es in „Krieg und Paradies“ konsequent nichts, mindestens
       nicht in einem didaktisch-anwendbaren oder gar politisch akuten Sinne, aber
       auf eine Art von Happy End in fetten Regenbogenfarben wird nach den
       kapriziösen Abenteuern keineswegs verzichtet.
       
       Tröstlich ist daran also vielleicht gerade, dass es sich um eine so
       konsequent künstlerische Angelegenheit handelt – der vielleicht tauglichste
       Versuch, irgendwie die Oberhand in dem ganzen Schlamassel zu behalten, ohne
       anderen Menschen zu schaden. „Gott ist die Mutter aller
       Verschwörungstheorien“, lässt der Künstler auf dem Buchdeckel noch wissen.
       Wir lassen das mal so stehen.
       
       21 Mar 2022
       
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