# taz.de -- Grenzerfahrungen
> Der Bildband „Mythos Nordpol“ behandelt 200 Jahre Expeditionsgeschichte.
> Im ewigen Eis war der Tod nah
400 Seiten in Atlasformat, Landkarten, Briefe, Fotos und vor allem
Geschichten über Tod, Verrat, Lügen und Irrtümer – der Bildband „Mythos
Nordpol“ behandelt 200 Jahre Expeditionsgeschichte. Die Eroberer auf dem
Weg zum nördlichsten Erdpunkt hießen unter anderem Peary, Rasmussen,
Franklin, Cook und Koch. Sie alle wollten zuerst ihre Fahne ins Eis bohren.
Der Suche nach einer Nord-West-Passage, dem Seeweg nach China und Indien,
gehen Wettläufe zum Pol voraus. Dabei werden 1818 auf Grönland zum ersten
Mal Polareskimos entdeckt. Kapitän John Ross beginnt den Tauschhandel mit
dem nördlichsten Volk der Erde, das ein 200 Kilometer lange Eiswüste vom
südlichen Grönland trennt.
Die Geschichten der einzelnen Expeditionen ins Eis lesen sich wie ein
Krimi. Wie etwa der Däne Lauge Koch den schwedischen Botaniker Thorild
Wulff geschwächt in der Tundra zurücklassen muss, um sich und seine
Begleiter vor dem Verhungern zu retten, und dabei ein Leben lang wütend ist
auf den Expeditionsleiter Knud Rasmussen, der sich zuvor abgeseilt hat, um
bei den Eskimos Hilfe zu holen, verrät viel über die Abgründe, die sich in
Notzeiten auftun. Die Porträts der Forscher und Abenteurer wimmeln von
menschlichem Versagen und dem Talent, immer gerade so am Ziel
vorbeizuschrammen. Der Weg zum Nordpol – ein Tummelplatz für
Grenzerfahrungen.
Und sie versuchen es immer wieder. Bis es dem Ersten gelingt, die Fahne an
den rechten Fleck zu setzen. Der US-Amerikaner Frederick Cook schwört, dass
er 1908 als Erster da war, doch später wird er der Lüge bezichtigt. Sein
Landsmann Robert E. Peary darf sich wenig später als Erster mit dem Titel
„Entdecker des Nordpols“ schmücken. Bis heute ist ungeklärt, warum wichtige
Dokumente von Cooks Expedition verschwunden sind und welchen Einfluss die
von Peary gefütterte Diffamierungskampagne der Medien in den USA gegen Cook
auf die Entscheidungsfindung, wer der Erste gewesen ist, hatte. Nach 400
Seiten Lektüre schält sich das Bild einer langen Suche heraus, an der
unzählige Eroberer beteiligt waren, von denen ein Großteil gestorben ist.
Wer wirklich als Erster die Fahne hisste, erscheint angesichts all der
Geschichten und Tragödien, die dazu beitrugen, den Pol zu finden,
letztendlich unwichtig.
CHRISTINE BERGER
Jean Malaurie: „Mythos Nordpol. 200 Jahre Expeditionsgeschichte“. 400
Seiten, National Geographic 2003, 69,95 €
29 Nov 2003
## AUTOREN
DIR CHRISTINE BERGER
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