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       # taz.de -- Grünen-Geschäftsführerin über Wahlkampf: „Waren nicht gut genug aufgestellt“
       
       > Die Kanzlerkandidatur per Urwahl soll laut Grünen-Geschäftsführerin
       > Büning die Chancen auf das Amt erhöhen. Das ist eine der Lehren aus dem
       > Wahlkampf 2021.
       
   IMG Bild: Die Grünen wollen sich für die nächste Bundestagswahl besser aufstellen
       
       taz: Frau Büning, der Grünen-Vorstand hat am Montag beschlossen, den
       nächsten Kanzlerkandidaten oder die nächste Kanzlerkandidatin per Urwahl zu
       bestimmen. Warum sollen die Mitglieder entscheiden?
       
       [1][Emily Büning]: Wir haben in der Vergangenheit unterschiedliche Wege
       gewählt. Für 2025 halten wir eine Urwahl für die richtige Methode. Sollten
       wir in der Situation sein, einen Wahlkampf ums Kanzleramt zu führen, und
       mehrere aussichtsreiche Bewerber*innen haben, können wir so alle
       mitnehmen: Wir bringen die Partei geschlossen hinter den Prozess, unsere
       Mitglieder und die Menschen in Deutschland haben ausreichend Zeit, die
       Kandidatinnen und Kandidaten samt ihrer programmatischen Schwerpunkte
       kennenzulernen – und wir können frühzeitig die Kampagne planen.
       
       Infrage kommen Annalena Baerbock und Robert Habeck. 2021 verzichtete
       Habeck zugunsten seiner damaligen Co-Vorsitzenden auf die Kandidatur. Haben
       Sie insgeheim die Hoffnung, dass sich die beiden auch beim nächsten Mal
       wieder untereinander einigen und die [2][Urwahl] obsolet wird? 
       
       Annalena Baerbock und Robert Habeck haben in der Regierung gerade anderes
       zu tun, als sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Wenn eine Kandidatur
       2025 für beide infrage kommt, werden wir einen guten Umgang damit finden.
       Nichts anderes ist Sinn und Zweck der Urwahl.
       
       Haben Sie schon einen Zeitplan? 2021 fiel die Entscheidung für Baerbock
       erst im Jahr der Wahl. Die SPD war mit Olaf Scholz acht Monate früher dran. 
       
       Der richtige Zeitpunkt ist entscheidend. Wir wollen den Schritt frühzeitig
       gehen – gerade auch, um die Kampagne gezielt ausrichten und auf die Person
       zuspitzen zu können.
       
       Was heißt frühzeitig? 
       
       Bis 2024 werden Sie sich auf jeden Fall gedulden müssen.
       
       Kommt es wirklich zur Urwahl, müssten Ihre zwei wichtigsten
       Kabinettsmitglieder schon zwei Jahre vor der Bundestagswahl einen Wahlkampf
       gegeneinander führen. Erschwert das nicht das Regieren? 
       
       Ich glaube, unsere Ministerinnen und Minister haben in den letzten Wochen
       und Monaten gezeigt, dass sie ihrer Verantwortung für das Land gerecht
       werden. Daran wird sich nichts ändern.
       
       Die Entscheidung für die Urwahl ist Teil einer Evaluation des Wahlkampfs
       2021, die Sie in den letzten Monaten durchgeführt haben. Wie sind Sie
       vorgegangen? 
       
       Schon der vorherige Bundesvorstand hat im letzten Jahr eine Umfrage zum
       Wahlkampf durchgeführt, an der über 10.000 Mitglieder teilgenommen haben.
       Als neuer Vorstand haben wir mit allen Landesverbänden gesprochen. Wir
       haben Fokusgruppen mit verschiedenen Kreisverbänden gebildet – größere und
       kleinere, städtische und ländliche. Wir haben die Strukturen in der
       Bundesgeschäftsstelle mithilfe einer externen Beratungsfirma evaluiert und
       hier einen Umbauprozess gestartet. Ich selbst habe eine Reihe qualitativer
       Interviews mit Mitgliedern des engeren Wahlkampfteams geführt. Alles mit
       dem Fokus: Was können wir für 2024/2025 lernen?
       
       Wo kann man den Evaluationsbericht nachlesen? 
       
       Die Analysen und Learnings richten sich in erster Linie an unsere
       Mitglieder und die Parteistrukturen. Ich werde deshalb mit den
       unterschiedlichen Ebenen und Gremien der Partei in den direkten Austausch
       treten. In unserer täglichen Arbeit als Regierungspartei konzentrieren wir
       uns derweil darauf, das Land gut durch den Herbst und Winter zu führen. Es
       wird deshalb keinen schriftlichen Evaluationsbericht geben.
       
       Um nicht diejenigen zu beschädigen, die die Verantwortung für Fehler im
       Wahlkampf trugen, jetzt aber schwer beschäftigt sind – Annalena Baerbock
       als Außenministerin und Michael Kellner, Ihr Vorgänger in der
       Parteizentrale, als Staatssekretär im Wirtschaftsministerium? 
       
       Da müssen wir keine Rücksicht nehmen. Annalena Baerbock, Robert Habeck und
       auch Michael Kellner haben die Partei überhaupt erst in die Lage versetzt,
       das beste Bundestagswahlergebnis unserer Geschichte zu erreichen – auch
       wenn wir uns bei der letzten Bundestagswahl mehr gewünscht hätten.
       
       Jenseits der späten Festlegung auf die Kanzlerkandidatin: Warum haben die
       Grünen Ihrer Evaluation zufolge die Wahl nicht gewonnen? 
       
       Zentral war sicherlich, dass wir es nicht vermocht haben, noch breiter in
       neue Milieus vorzudringen. Wir haben uns bisweilen in die Rolle einer
       Ein-Thema-Partei drängen lassen, die wir nie waren. Wir hatten zwar in
       allen Politikbereichen programmatische Antworten, sind damit aber nicht
       ausreichend durchgedrungen. Aktuell sehen wir in Erhebungen, dass sich das
       ändert: Unsere Regierungsarbeit führt etwa in der Außen- und Sozialpolitik
       zu höheren Kompetenzzuschreibungen. Aber das ist natürlich ein
       langfristiger Prozess.
       
       Wie wollen Sie dabei vorgehen? 
       
       Vor allem, indem wir unsere Arbeit machen. Beispiel soziale Gerechtigkeit:
       In den Gesprächen zum dritten Entlastungspaket haben wir sehr deutlich
       gemacht, dass wir Entlastungen vor allem für Menschen mit geringem und
       mittlerem Einkommen erwarten – und entsprechend verhandelt. Zugleich gehen
       wir in die Vernetzung. Wir reden mit Wirtschaftsverbänden, kleinen und
       mittleren Unternehmen, Gewerkschaften. Das ist die Idee einer
       Bündnispartei, die wir weitertragen werden. Viele, die uns früher noch mit
       Skepsis beäugt haben, hören uns nun zu. Und wir ihnen.
       
       Da kommt es aber zu Zielkonflikten, aktuell zum Beispiel, wenn sich die
       Handwerkslobby darüber beschwert, dass Sie in der Ampel die
       [3][Hartz-IV-Regelsätze] erhöhen. 
       
       Natürlich vertreten unterschiedliche Interessenverbände auch
       unterschiedliche Interessen. Da ist es Aufgabe der Politik, nach Antworten
       zu suchen, die beide Seiten mitnehmen. Manchmal bleibt auch der Dissens
       stehen, auch das ist Demokratie. Entscheidend ist, dass wir offen
       miteinander reden.
       
       Heißt „breiter werden“ mit Blick auf Wahlkämpfe auch: 2021 war der
       Werbespot falsch, in dem Annalena Baerbock in einem sterbenden Wald
       stehend vor der Klimakatastrophe warnte – und der Werbespot richtig, in der
       sich Menschen aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen am Volkslied „Kein
       schöner Land“ versuchten? 
       
       Bei Wahlwerbespots scheiden sich die Geister. Immer. Aber natürlich werden
       wir schauen müssen: Welche Zielgruppen sind für uns erreichbar, wie wollen
       wir sie ansprechen? Welche Zielgruppe kann sich inzwischen vorstellen, uns
       zu wählen, hat es 2021 aber nicht gemacht? Solche Fragen spielen aktuell
       und in der Regierungsarbeit keine Rolle, für eine gute Wahlkampagne sind
       sie aber durchaus entscheidend.
       
       Haben Sie schon eine Vermutung, in welchen Gruppen Sie noch Potenzial
       haben? 
       
       Der Prozess läuft fortwährend und würde hier den Rahmen sprengen. Aber
       natürlich gibt es offensichtliche Tendenzen. In den ländlichen Räumen etwa
       haben wir noch erhebliches Ausbaupotenzial. Die Frage, was grüne Politik
       auf dem Dorf heißt, beantworten wir tagtäglich in kommunaler Verantwortung
       – aber werden wir auch wahrgenommen? Daran arbeiten wir.
       
       Vielleicht passen Ihre Inhalte einfach besser zur Großstadt. Wer den
       Autoverkehr reduzieren will, kommt auf dem Land schlecht an. 
       
       Darum geht es ja gerade: um passgenaue Lösungen für verschiedene
       Lebensrealitäten – und die entsprechende Kommunikation dazu. Beim ÖPNV in
       den ländlichen Räumen ist noch viel zu tun. Wie kriegen wir das hin? Haben
       wir eigentlich einen Arzt auf dem Dorf? Eine Hebamme? Was ist mit der
       Schule? Wenn Sie mich fragen, haben wir da überzeugende Antworten, werden
       uns aber so aufstellen müssen, dass wir damit besser durchdringen.
       
       Müssen Sie dafür auch an die Parteistruktur ran? 
       
       Ja. Kreisverbände mit vielen Mitgliedern in den Städten nehmen mehr
       Mitgliedsbeiträge ein – und sind entsprechend besser ausgestattet als
       Kreisverbände in ländlichen Räumen, gerade im Osten. Über einen
       Strukturfonds verteilen wir Mittel dorthin um, um auch in der Fläche mehr
       hauptamtliche Strukturen aufzubauen. Seit 2016 haben wir unsere
       Mitgliederzahl verdoppelt. Nun gilt es, dafür zu sorgen, dass die
       Strukturen flächendeckend von unten nachwachsen.
       
       Wenn es um die Bundestagswahl 2021 geht, müssen wir auch über Fehlerkultur
       sprechen. Wie verhindern Sie in Zukunft Pannen in Lebensläufen oder
       Plagiate in Büchern? 
       
       Da gibt es nicht die eine Pauschalantwort. Aber: Wir werden etwa beim
       Personal frühzeitig aufstocken, um rechtzeitig für ausreichend Kapazitäten
       in der Bundesgeschäftsstelle zu sorgen.
       
       Sie hatten beim letzten Mal zu wenig Personal, um die Kandidatin richtig zu
       durchleuchten? 
       
       Mindestens waren wir nicht gut genug aufgestellt, um den massiven Angriffen
       zu begegnen, die auch aus unseren eigenen Fehlern folgten. Wenn wir ehrlich
       sind, hatten wir nicht erwartet, dass es so krass wird. Das passiert uns
       nicht noch mal.
       
       Klopfen Sie die möglichen Kandidat*innen für 2025 schon jetzt auf
       Angriffsflächen ab? 
       
       Sie können sich sicher sein, dass wir das auf dem Schirm haben.
       
       2021 haben die Grünen die ersten Plagiatsvorwürfe empört von sich gewiesen,
       anstatt Fehler im Buch von Annalena Baerbock einzugestehen. Das hing ihnen
       lange nach. Wie wollen Sie in Zukunft den Spagat schaffen, auf der einen
       Seite unfaire Angriffe abzuwehren, auf der anderen Seite aber souveräner
       mit eigenen Fehlern umzugehen? 
       
       Es geht um genau das, was Sie ansprechen: Wo ist ein Angriff
       ungerechtfertigt? Wo steckt mehr dahinter, wo nicht? Und wo müssen wir auch
       mal in der eigenen Kommunikation umsteuern? Das erfordert die richtige
       Balance. Und an der arbeiten wir.
       
       Aktuell ist der Höhenflug der Grünen zum ersten Mal seit Monaten wieder
       gebremst. [4][Gasumlage], Maischberger, Atomkraft: Robert Habeck ist in der
       Kritik, Umfragewerte sinken. Was bedeuten die Ergebnisse Ihrer Evaluation
       für den Umgang mit dieser Minikrise? 
       
       Robert Habeck hat in den letzten Monaten bewiesen, dass sein Fokus darauf
       liegt, das Land gut durch diese Krise zu führen. Natürlich kommt es in
       derart schwierigen Zeiten auch zu Kritik und Angriffen. Erstere nehmen wir
       sehr ernst, Letztere werden uns nicht von einer sachbezogenen
       Regierungspolitik abbringen. Auch dann nicht, wenn sie bisweilen innerhalb
       der Koalition erfolgen.
       
       Sie stören sich an Attacken auf Habeck aus der Ampel? 
       
       Natürlich muss jeder für sich entscheiden, auf welcher Grundlage eine gute
       Zusammenarbeit erfolgen kann. Und natürlich kann es zwischen
       Regierungsparteien auch mal lauter werden. Die Menschen erwarten aber zu
       Recht, dass wir als Koalition das Land bestmöglich durch die Krise führen.
       Dazu gehört ein angemessener Umgang untereinander. Die Zeiten sind zu ernst
       für öffentliche Profilierung.
       
       14 Sep 2022
       
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