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       # taz.de -- Halle-Attentäter erneut vor Gericht: Geständnis und Fragen
       
       > Der Täter von Halle steht vor Gericht – trotz rechtsgültiger
       > Höchststrafe. Dieses Mal geht es um einen versuchten Gefängnisausbruch
       > mit Geiselnahme 2022.
       
   IMG Bild: Magdeburg, 25. Januar 2024: Justizbeamte führen den Angeklagten in den Gerichtssaal
       
       Magdeburg taz | „Lebenslänglich“ mit anschließender Sicherheitsverwahrung –
       so lautete am 20. Dezember 2020 das Urteil für den Attentäter von Halle. Er
       hatte am 9. Oktober 2019 mit selbstgebauten Waffen [1][die Synagoge in
       Halle] und [2][den nahegelegenen Kiez-Döner] angegriffen [3][und dabei zwei
       Menschen ermordet.] Laut Urteil hat er es in 51 weiteren Fällen versucht.
       
       Gut drei Jahre nachdem die Höchststrafe verhängt wurde, steht er diesen
       Mittwoch wieder vor Gericht, wieder im Saal C24 des Landgerichts Magdeburg,
       dort, wo bereits der Prozess zum Attentat stattfand.
       
       Und wieder geht es um eine selbstgebaute Waffe. Der Angeklagte soll sie
       genutzt haben, um aus dem Hochsicherheitstrakt der JVA Burg zu entkommen.
       Die Anklage lautet: Geiselnahme und Verstoß gegen das Waffengesetz. Bei
       Verurteilung bedeutet dies eine Freiheitsstrafe von 5 bis 15 Jahren.
       
       Eingangs wird der Tathergang geschildert: Am Montag, den 12. Dezember 2022,
       um 21 Uhr, zur Nachtschließzeit, habe der Angeklagte hinter seiner
       Zellentür einem Beamten aufgelauert, ihn mit einer selbstgebastelten Waffe
       zur Geisel genommen und mit ihm den Weg aus der Anstalt angetreten. Er
       scheiterte an der Hauptschleuse der JVA, feuerte einen Warnschuss ab. Die
       umstehenden Beamten nutzten den Moment und beendeten den versuchten
       Ausbruch nach 34 Minuten.
       
       ## Bezug auf andere Rechtsextreme?
       
       Als die Vorsitzende Richterin Simone Henze-von Staden den Angeklagten
       fragt, ob er etwas zu sagen habe, gesteht dieser die Tat umgehend. Er
       spricht sogar von der „Geisel“ und behauptet, die Waffe sei „tödlich“
       gewesen. Zusätzlich gibt es zahlreiche Zeugen, und das Vorgehen ist auf so
       vielen Videokameras festgehalten, dass das Abspielen bereits ausgewählter
       Aufzeichnungen mehr als zwei Stunden dieses Prozesstags einnimmt. Auf den
       ersten Blick scheint alles klar zu sein. Worum geht es hier also?
       
       Bereits am ersten Prozesstag zeichnet sich ab, dass das Motiv nicht
       ausreichend geklärt ist. Aus dem Gefängnis fliehen – aber was danach? Auf
       die Frage weicht der Angeklagte aus. Im Prozess zum Attentat war er durch
       sein gefestigtes rechtsextremes Weltbild und der vollen Überzeugung von
       seinen Taten aufgefallen. Ein Schriftstück bewies, dass er sich am Attentat
       von Christchurch orientiert habe.
       
       Der Angeklagte gibt an, er habe den Plan etwa eine Woche vor der Tat
       gefasst. Anlass sei gewesen, dass er aus der Zeitung von der bundesweiten
       Razzia und Festnahmen von Reichsbürgern um Prinz Reuß erfahren habe. Über
       das folgende Wochenende habe er die Tatwaffe gebaut.
       
       Es scheint sich auf ein Neues zu bewahrheiten, wovor Beobachter*innen
       der rechtsextremen Szene seit Jahren warnen: (Mutmaßliche) rechtsextreme
       Attentäter sehen einander, sie beziehen sich in ihren Taten aufeinander,
       ihre Taten haben immer auch das Motiv, weitere Taten auszulösen. Die Frage
       ist, welche Rolle dieser Fakt im Prozessverlauf spielen wird.
       
       ## Weiter Fluchtgefahr möglich
       
       Eine zweite Frage ist, ob der Angeklagte einen weiteren Ausbruchsversuch in
       Erwägung zieht. Der verhandelte Ausbruchsversuch war schließlich nicht sein
       erster. Bereits im Mai 2020 hatte er versucht, aus der JVA Halle zu
       entkommen, nachdem seine Haftbedingungen gelockert wurden.
       
       Schließlich bleibt bisher offen, wie sehr mögliches Behördenversagen zum
       Gegenstand dieser Verhandlung werden wird. Denn diese eine Frage hängt über
       dem Raum: Wie kann es sein, dass ein verurteilter Straftäter diesen Profils
       auch in der JVA Burg nicht ausreichend gesichert war und offenbar ein
       Wochenende lang unbeobachtet eine Waffe anfertigen konnte?
       
       Laut [4][einer Pressemitteilung] der Soligruppe 9. Oktober und dem Tekiez
       sagt die Überlebende des Attentats Naomi Henkel-Gümbel in Hinblick auf den
       Prozess: „Es ist an der Zeit, die tief verwurzelten Kontinuitäten
       strukturellen Behördenversagens aufzuarbeiten. Nur so können wir eine
       Gesellschaft schaffen, die wachsam gegenüber menschenfeindlichen Ideologien
       ist und die Perspektiven der Betroffenen ernst nimmt.“
       
       Und auch der Überlebende İsmet Tekin sagt: „Für mich persönlich ist es
       wieder eine große Schande und Enttäuschung, ich habe noch mehr Misstrauen
       in die deutschen Behörden.“
       
       Klar ist: Auch dieser Prozess um den Attentäter von Halle sendet Signale,
       die Frage ist nur, wie bewusst sich das Gericht dessen ist. Bisher sind
       sieben weitere Verhandlungstage geplant. In den kommenden Prozesstagen
       werden Zeugen zu Wort kommen.
       
       25 Jan 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Antisemitischer-Anschlag-von-Halle/!5803902
   DIR [2] /Anschlagsopfer-von-Halle-geben-auf/!5853569
   DIR [3] /Vierter-Jahrestag-des-Halle-Anschlags/!5965543
   DIR [4] https://www.mobile-opferberatung.de/kontinuitaeten-strukturellen-behoerdenversagens-aufarbeiten/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Pia Stendera
       
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