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       # taz.de -- Hamas in Gaza: Wer kontrolliert die Trümmer?
       
       > Im Gazastreifen versuchen bewaffnete Gruppen, der Hamas die Kontrolle
       > abzuringen. Manche werden von Israel unterstützt – eine fragwürdige
       > Strategie.
       
   IMG Bild: Ein Hamas-Kämpfer steht Wache
       
       In den Trümmern des östlichen Rafah halten bewaffnete Männer
       Hilfslieferungen mit vorgehaltener Waffe auf. Ihr Anführer ist Yasser Abu
       Shabab, ein analphabetischer ehemaliger Drogenhändler, der aus dem
       Hamas-Gefängnis floh, als Israel es bombardierte. Am 16. November 2024
       überfielen seine sogenannten „Volksstreitkräfte“ 109 Hilfs-Lkw der
       Vereinten Nationen und plünderten 98 davon – während israelische
       Streitkräfte aus nur 500 Meter Entfernung zusahen.
       
       In Khan Yunis patrouillierte eine andere Miliz unter der Führung von Hussam
       Al-Astal, einem Mann, den die Hamas einst zum Tode verurteilt hatte.
       Al-Astal ist ein 50-jähriger ehemaliger Beamter der Palästinensischen
       Autonomiebehörde. Seine Miliz entstand erst im August 2025 und nennt sich
       „Counterterrorism Strike Force“ (CST). Ihr in einem [1][Facebook-Post]
       erklärtes Ziel: Die Herrschaft der Hamas zu beenden.
       
       Im Norden, in den Ruinen von Jabalia und Beit Lahia, kontrollierte Ashraf
       Al-Mansis mit seiner „Volksarmee“ das Gebiet – und warnt Hamas, sich von
       „ihren“ Gebieten fernzuhalten. Ihr Hauptquartier befindet sich innerhalb
       des von Israel weiterhin besetzten Randgebiets des Gazastreifens.
       
       Wie viele Kämpfer in diesen Anti-Hamas-Milizen organisiert sind, ist
       unklar. Das Long War Journal geht von 500 bis 700 Kräften in der
       Abu-Shabab-Miliz aus, bei der CST von etwa 40 Mitgliedern.
       
       So sieht Gaza mittlerweile aus: ein Flickenteppich aus konkurrierenden
       Milizen und kriminellen Banden, die zu „Sicherheitskräften“ geworden sind.
       Diese Fragmentierung dient Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. Um
       diese Haltung der israelischen Regierung gegenüber den in Gaza operierenden
       Milizen zu verstehen, muss man in die Vergangenheit zurückblicken.
       
       ## Strategische Unterstützung der Hamas
       
       Netanjahu kam nach den Osloer Verträgen in den 1990er Jahren – aus denen
       Frieden zwischen Israel und Palästinensern folgen sollte – als Gegner
       dieser Verträge an die Macht. Er behauptete stets, sie gefährdeten die
       Sicherheit Israels.
       
       Später, nach der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen 2007, erlaubte
       Israel unter Premierminister Netanjahu Katar, Millionen US-Dollar an die
       Hamas-Regierung in Gaza zu transferieren. Die Begründung: Das würde „Gaza
       stabilisieren“ und „die Ruhe bewahren“.
       
       Im Jahr 2018 begann Israel, erneut unter Netanjahu, offiziell monatliche
       Geldtransfers aus Katar an die Hamas in Höhe von bis zu 30 US-Millionen
       Dollar pro Monat zuzulassen, die in Koffern über den Grenzübergang Erez in
       Israel geliefert wurden. Diese Politik wurde [2][vom damaligen
       Verteidiungsminister Avigdor Liberman] als „Kapitulation vor dem
       Terrorismus“ bezeichnet.
       
       Auf einer Sitzung der Likud-Partei im März 2019 sagte Netanjahu den
       Parteimitgliedern: „Jeder, der die Gründung eines palästinensischen Staates
       verhindern will, muss die Stärkung der Hamas unterstützen … Das ist Teil
       unserer Strategie – Gaza vom Westjordanland zu isolieren.“
       
       ## Ein fataler Fehler
       
       Das Muster war klar: Netanjahu glaubte, er könne die Hamas unterstützen, um
       die Palästinensische Autonomiebehörde zu untergraben und damit die Idee
       eines palästinensischen Staates zu begraben.
       
       Diese Politik erwies sich spätestens am 7. Oktober 2023 als fatale
       Fehlkalkulation, als die Hamas in israelisches Gebiet einfiel, über 1.200
       Israelis massakrierte und über 250 entführte. Das Geld, von dem Netanjahu
       glaubte, es könne Ruhe seitens der Hamas erkaufen, wurde in Wirklichkeit in
       ein riesiges Tunnelsystem, Tausende von Raketen, Ausbildung und Gehälter
       für die Kämpfer der Hamas investiert.
       
       Dennoch betreibt er weiter eine Politik der Fragmentierung: Am 5. Juni 2025
       bestätigte Premierminister Netanjahu in einem auf X geposteten Video die
       Berichte über die Bildung von Anti-Hamas-Milizen und erklärte: „Auf Anraten
       von Sicherheitsbeamten haben wir Clans in Gaza aktiviert, die sich gegen
       die Hamas stellen. Was ist daran falsch? Es ist nur gut. Es rettet das
       Leben von IDF-Soldaten.“
       
       Die Bewaffnung dieser Milizen durch israelische Streitkräfte begann
       Berichten zufolge im Mai 2024 mit dem Beginn der israelischen Offensive auf
       die Stadt Rafah, angefangen mit den „Volkskräften“ in Ost-Rafah unter der
       Führung von Yasser Abu Shabab.
       
       Diese Milizen untergraben die Hamas – so das Argument, das Netanjahu auch
       für seine Unterstützung der Hamas verwendete: „die Untergrabung der
       Palästinensischen Autonomiebehörde, um einen palästinensischen Staat zu
       verhindern“.
       
       Netanjahu und seine rechtsextreme Koalition glauben wohl, dass ein
       palästinensischer Staat für die Sicherheit Israels gefährlicher wäre als
       unkontrollierbare bewaffnete Milizen mit einer zumindest teilweise
       kriminellen Vergangenheit.
       
       Bezalel Smotrich, heute Israels Finanzminister, sagte 2015: „Die
       Palästinensische Autonomiebehörde ist eine Belastung und die Hamas ein
       Gewinn.“ Diese Annahme hat bereits schlimme Folgen gehabt – für
       Palästinenser wie auch für Israelis.
       
       ## Kein Staat ohne Machtmonopol
       
       Das derzeitige Machtvakuum im Gazastreifen könnte in Zukunft zu einer
       weiteren Katastrophe führen. Man muss sich nicht auf den deutschen
       Philosophen Max Weber berufen, um das zu erkennen. Aber Webers Ideen können
       helfen zu verstehen, was ein Staat eigentlich ist – und wie sich ein
       Machtvakuum auswirkt. Laut Weber macht „das Monopol der legitimen Anwendung
       physischer Gewalt innerhalb eines Territoriums“ einen Staat aus.
       
       Diese Annahme ist zu einem Grundpfeiler der Politikwissenschaft geworden:
       Ohne monopolistische Kontrolle gibt es nicht etwa einen schwachen Staat,
       sondern gar keinen Staat.
       
       Die Unterstützung von Milizen kann kurzfristig von Vorteil sein, indem sie
       Gegner spaltet und eine Rechtfertigung für die eigene Politik schafft. Aber
       langfristig können diese zur nächsten Katastrophe werden.
       
       Dieser Text erschien in einer längeren Version zuerst bei Middle East
       Uncovered.
       
       20 Oct 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=pfbid0ig1tKZZAMokjuKsd5JcpKa3AR9xR18Ry6Xwufwy8FQRY7PK2JWfp3xXbiQ6G2DMEl&id=61579430047354&rdid=1VLdIFZIGeVw4XHc
   DIR [2] https://www.jpost.com/israel-news/liberman-i-left-because-netanyahu-is-paying-protection-money-to-hamas-596909
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hamza Howidy
       
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