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       # taz.de -- Harter Lockdown in Shanghai: Chinas Corona-Epizentrum
       
       > Shanghai ist größte und wirtschaftlich bedeutendste Stadt Chinas – und
       > nun im Lockdown. Die ökonomischen und sozialen Folgen sind massiv.
       
   IMG Bild: Shanghai im Lockdown: Ganze Stadtviertel werden rigoros abgeriegelt
       
       Peking taz | Das Ohnmachtsgefühl ist bedrückend: Millionenfach teilen die
       Bewohner Shanghais ein Video in den sozialen Medien, das eine Frau zeigt,
       die vergeblich versucht, einen Rettungswagen für einen sterbenden Nachbarn
       zu ergattern. Die Hilfe für den Mann, der unter einem Asthmaanfall litt,
       kam schlussendlich viel zu spät. Der Chinese ist seiner Krankheit erlegen.
       Er ist nur eines von mehreren Opfern der brutalen Lockdown-Maßnahmen.
       
       Ausgerechnet Shanghai ist mittlerweile zu Chinas Corona-Epizentrum
       geworden. Am Donnerstag meldeten die Behörden über 5.600 Fälle. Dabei ist
       die eine Stadthälfte bereits seit Anfang der Woche abgeriegelt. Nur wenige
       Stunden hatten die Bewohner östlich des Huangpu-Flusses Zeit, um sich mit
       den nötigsten Lebensmittelvorräten einzudecken. Nun folgen die Bewohner in
       der westlichen Stadthälfte, auch sie werden für mindestens vier Tage in
       ihre Wohnungen gesperrt. Dass der Lockdown danach vollständig aufgehoben
       wird, daran glauben mittlerweile nur noch die wenigsten. Man munkelt
       bereits, er könne bis weit in den Mai dauern.
       
       Für China ist es die vielleicht schwerwiegendste epidemiologische
       Niederlage seit dem [1][Virusausbruch in Wuhan] vor über zwei Jahren. Denn
       mit über 26 Millionen Einwohnern ist Shanghai nicht nur die größte
       Metropole des Landes, sondern auch das führende Wirtschaftszentrum der
       Volksrepublik: Im Stadtgebiet werden rund vier Prozent des chinesischen
       Bruttoinlandproduktes generiert.
       
       Dementsprechend sind die ökonomischen Kosten gewaltig. Ein Forscherteam der
       Chinesischen Universität Hongkong hat anhand der vorhandenen Echtzeit-Daten
       ausgerechnet, dass die im ganzen Land angeordneten Lockdowns satte 46
       Milliarden Dollar pro Monat kosten würden. Oder, anders ausgedrückt: Sie
       haben einen Einbruch des BiP von 3,1 Prozent zur Folge. Die Hongkonger
       Ökonomen betonten, dass es sich hierbei um eine konservative Schätzung
       handele, und dass jede Verschärfung der Coronamaßnahmen die Folgekosten
       deutlich erhöhen würde.
       
       ## Chinas Wirtschaft schrumpft durch den Lockdown
       
       Wenig überraschend fielen die jüngsten Zahlen des Pekinger Statistikamtes
       vom Donnerstag miserabel aus. Der sogenannte Einkaufsmanagerindex für März
       ist sowohl in den Bereichen Dienstleistung (48,4) als auch
       Industrieproduktion (49,5) deutlich unter den Schwellenwert 50 gesunken,
       der die Trennmarke zwischen Wachstum und Schrumpfen markiert. Die Werte
       sind die schwächsten seit Februar 2020, als das damals neuartige
       Coronavirus die Volksrepublik in einen kurzfristigen, aber radikalen
       Stillstand zwang.
       
       Die „schwachen Ergebnisse“ seien allerdings „im Rahmen der Erwartungen“,
       analysiert [2][Iris Pang], Chef-Ökonomin der niederländischen ING Group, in
       einer Stellungnahme. Man erwarte, dass sich die Werte noch im Laufe des
       Aprils wieder erholen werden – vorausgesetzt natürlich, das
       Infektionsgeschehen wird bis dahin unter Kontrolle sein.
       
       Denn Chinas Staatsführung hat mehr als deutlich gemacht, dass es an seiner
       Nulltoleranzstrategie festhalten wird. Im Herbst steht mit dem 20.
       Parteikongress das vielleicht wichtigste Politereignis des gesamten
       Jahrzehnts an: Xi Jinping wird – als erstes Staatsoberhaupt seit Mao
       Tsetung – seine dritte Amtszeit ausrufen und sich damit auch formell zum
       Führer auf Lebenszeit machen. Erst danach wird Peking eine Lockerung seiner
       Coronamaßnahmen riskieren.
       
       Dabei wachsen Frust und Widerstand in der Bevölkerung. In Shanghai, dessen
       Stadtregierung bislang vor allem durch Pragmatismus und Liberalität
       aufgefallen ist, werden nun in mindestens vier Stadtbezirken [3][unzählige
       Zivilisten zur Volksmiliz] eingezogen, um beim Kampf gegen das Virus
       mitzumachen. Wie zunächst die FAZ berichtete, müssen die Unternehmen vier
       Mitarbeiter freistellen, damit diese etwa an Ausfallstraßen Temperatur
       messen oder die Logistik sicherstellen.
       
       ## Auch die deutsch-chinesischen Handelsbeziehungen leiden
       
       Auch für die heimische Wirtschaft ist die desolate Lage ein immenses
       Problem. Eine Umfrage der deutschen Handelskammer vom Donnerstag zeichnet
       ein desaströses Bild davon, wie tiefgreifend das China-Geschäft unter den
       Coronarestriktionen leidet: Rund die Hälfte der deutschen Firmen gab an,
       dass ihre Logistik und Lieferketten durch die Lockdowns vollständig
       unterbrochen oder stark beeinträchtigt werde.
       
       Nur 7 Prozent meinten hingegen, dass sie keine negativen Auswirkungen auf
       ihr Geschäft spüren. Die Umfrage der Handelskammer wurde zwischen dem 18.
       und 27. März erhoben – der nun flächendeckende Shanghai-Lockdown ist darin
       also noch gar nicht vollständig in die Auswertung eingegangen.
       
       In Shanghai setzt die Regierung auf eine radikale, aber hoffentlich kurze
       „Schockstarre“: Um die Infektionsketten zu unterbrechen, werden sämtliche
       Infizierte in riesigen Quarantänezentren untergebracht. Derzeit wird auch
       im Stadtgebiet eine Anlage mit 15.000 Betten fertiggestellt, es ist die
       wohl größte Covid-Isolationsstation weltweit. Was die chinesische
       Zentralregierung vor zwei Jahren noch als stolze Errungenschaft gepriesen
       hätte, ist nun der wahrgewordene Alptraum eines jeden Chinesen: Längst ist
       die Angst vor der Zwangsquarantäne größer als die Angst vor dem Virus
       selbst.
       
       Wie unzählige andere Anwohner schildert ein Nutzer namens „Qian Miao“ auf
       der App „Wechat“ seine Erfahrungen: Trotz nur milder Symptome (Husten und
       laufende Nase) wurde der Chinese um vier Uhr morgens in einen überfüllten
       Bus mit 30 weiteren Infizierten gesteckt, um erst nach einer elfstündigen
       Wartezeit in ein neu errichtetes Quarantänezentrum gelassen zu werden. Dort
       sind mehrere tausend Menschen praktisch auf sich allein gestellt: ohne
       heißes Wasser, medizinische Versorgung oder PCR-Tests. Und da der Fahrstuhl
       ausgefallen ist, muss „Qian Miao“ derzeit die 12 Stockwerke zur
       Essensausgabe im Hof zu Fuß zurücklegen.
       
       ## Auch die Provinz Jilin ist abgeriegelt
       
       Solche Zustände sind in Shanghai keine Ausnahme. Doch der mediale Fokus auf
       die internationale Metropole sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass
       [4][im abgelegenen Nordosten des Landes eine ganze Provinz bereits seit
       über einem Monat abgeriegelt] ist. Die Verhältnisse in Jilin sind prekärer
       denn je, auch wenn nur wenige Informationen aus der Region heraus dringen.
       
       Doch unter Kontrolle ist die Lage dort längst noch nicht. Zuletzt wurden in
       Changchun, Provinzhauptstadt von Jilin, 160 Bauarbeiter zum Errichten eines
       Quarantänezentrums beordert. Doch noch bei der Arbeit infizierten sich 90
       von ihnen mit dem Coronavirus. Sie wurden umgehend in jene Anlage
       eingewiesen, die sie just zuvor gebaut hatten.
       
       31 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nature.com/articles/d41586-022-00584-8
   DIR [2] https://twitter.com/iris_pang_china?lang=de
   DIR [3] https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/corona-lockdown-shanghai-zieht-zivilisten-fuer-volksmiliz-ein-17920778.html
   DIR [4] https://www.theguardian.com/world/2022/mar/14/china-locks-down-province-of-24m-as-new-covid-infections-rise
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Fabian Kretschmer
       
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