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       # taz.de -- Herbst der Reformen und Bürgergeld: Wie teuer Merz’ Sparpläne sind
       
       > Der Kanzler kündigt den Herbst der Reformen an und nimmt
       > Bürgergeldberechtigte ins Visier. Ihnen sollen weniger Wohnkosten
       > erstattet werden. Geht das?
       
   IMG Bild: In einem Wohnheim für Frauen und Kinder in Hannover: nach dem Ordnungsrecht müssen Kommunen dafür sorgen, dass jeder Mensch eine Unterkunft hat
       
       Bundeskanzler Friedrich Merz will sparen. Aber nicht da, wo Geld ist, also
       bei den Reichen, sondern bei denjenigen, die am Existenzminimum leben. In
       zwei Schritten soll das Bürgergeld reformiert werden. Neben härteren
       Sanktionen sollen die Jobcenter künftig weniger Wohnkosten für
       Bürgergeldberechtigte übernehmen. Geht das? Die taz hat sich bei den
       Sozialrechtsanwält*innen Anne Naumburger und Rechtsanwalt Julian
       Hoelzel aus Berlin erkundigt. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
       
       Der Kanzler will Pauschalen für Wohnkosten einführen. Was gilt bisher? 
       
       Bisher erhalten Bürgergeldberechtigte Zuschüsse für Unterkunft und Heizung
       (KdU), die sich danach richten, was Behörden im Einzelfall für „angemessen“
       betrachten. Dabei werden sowohl die Verfügbarkeit als auch die Preise von
       Wohnraum berücksichtigt. Das unterscheidet sich regional sehr stark: In
       Gera sind Wohnungen zum Beispiel viel günstiger als in Frankfurt am Main,
       die Zuschüsse also unterschiedlich hoch. Das will Merz ändern, indem er
       bundesweite Pauschalen einführen will.
       
       Merz will auch die sogenannten Angemessenheitsgrenzen absenken. Was heißt
       das? 
       
       Unter Angemessenheitsgrenzen versteht man die Obergrenze der Kosten für
       Unterkunft und Heizung, die der Staat übernimmt. Bisher orientieren sich
       die Kommunen dabei an der Höhe der Mieten sowie dem verfügbaren Wohnraum in
       der Region.
       
       Sind diese Vorschläge verfassungskonform? 
       
       Beim Festlegen der Angemessenheitsgrenzen verlangt das
       Bundesverfassungsgericht von den Kommunen, dass sie die soziale
       Wirklichkeit erfassen und den Anspruch „zeit- und realitätsgerecht“
       bestimmen. Weil die Mieten real steigen, würde eine Absenkung der
       Angemessenheitsgrenzen dieser Vorgabe widersprechen. Und auch die
       Pauschalen würden die Sozialgerichte voraussichtlich kippen.
       
       Merz will auch die sogenannte Karenzzeit abschaffen. Was ist das? 
       
       Wenn Menschen neu Bürgergeld erhalten und ihre Miete aus Behördensicht
       eigentlich zu hoch ist, müssen sie Dank der Karenzzeit-Regelung nicht
       sofort in eine günstigere Wohnung umziehen. Das soll zum einen das
       Grundbedürfnis nach Wohnen erfüllen. Zum anderen soll es dazu beitragen,
       dass die Leute sich auf die Suche nach einer neuen Arbeit konzentrieren
       können, statt dabei durch die parallele Wohnungssuche behindert zu werden.
       Die Berechtigten stehen so nicht vor dem Dilemma, die Differenz zwischen
       ihren tatsächlichen und den von den Behörden für angemessen erachteten
       Kosten alleine stemmen oder umziehen zu müssen. Zudem sind viele nur
       vorrübergehend arbeitslos, für wenige Monate umzuziehen, ist nicht
       sinnvoll. Die Karenzzeit soll auch die Verwaltung vereinfachen und die
       gerichtlichen Streitigkeiten verringern. Selbst wenn die Karenzzeit
       gestrichen würde, müsste der Staat die Kosten zunächst trotzdem tragen,
       zumindest für die ersten 6 Monate. Wirksame Einsparungen würde das also
       nicht bringen.
       
       Eine [1][Kleine Anfrage der Linken] zeigt: 8,8 Prozent aller
       Bedarfsgemeinschaften bekamen 2024 nicht die tatsächlichen Ausgaben für die
       Unterkunft erstattet und mussten Geld aus dem Regelsatz drauflegen – also
       Geld, das eigentlich für Essen und andere Dinge gedacht ist. Ist das
       rechtlich okay?
       
       Im Bürgergeldgesetz (§ 1 SGB II) steht – im Sinne des Sozialstaatsprinzips:
       Das Bürgergeld soll helfen, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern. Wenn
       aber ein beachtlicher Teil des Regelbedarfs für die Unterkunft eingesetzt
       werden muss, gefährdet das die Existenzsicherung. Geld an anderer Stelle
       einzusparen, ist angesichts des sowieso schon sehr niedrigen Regelsatzes
       nahezu unmöglich.
       
       Was passiert, wenn Merz' Pläne umgesetzt werden? 
       
       Streitigkeiten vor Gericht würden drastisch zunehmen. Wenn die Lücke
       zwischen den tatsächlichen und den anerkannten Unterkunftskosten sich
       vergrößert, und Menschen diese nicht mehr durch Einsparungen aus dem
       Regelbedarf ausgleichen können, führt dies zwangsläufig zu Mietschulden.
       Diese übernimmt das Jobcenter allerdings nicht, wenn die Mieten nicht als
       angemessen angesehen werden. Findet sich nicht sofort eine alternative,
       also „angemessene“ Wohnung – was auf dem aktuellen Wohnungsmarkt
       unwahrscheinlich ist –, verlieren die Menschen ihre Wohnungen.
       [2][Wohnungslosigkeit würde zunehmen.]
       
       Wie teuer wären Merz' Sparpläne? 
       
       Nach dem Ordnungsrecht sind Städte und Kommunen verpflichtet, dafür Sorge
       zu tragen, dass jeder Mensch eine Unterkunft hat. Verlieren Menschen ihre
       Wohnung, müssen sie in Wohnheimen untergebracht werden. Das verursacht neue
       Kosten für die öffentliche Hand – und zwar weitaus höhere als die
       bisherigen: Pro Person liegt der Tagessatz in Berlin zum Beispiel bei 37
       bis 38 Euro für ein Mehrbettzimmer. Bei Doppel- oder Einzelzimmern kann der
       Tagessatz auch bei über 50 Euro liegen. Da kommt schnell eine Summe
       zusammen, die Mieten übersteigt. Hinzu kommt: Die Plätze in Wohnheimen sind
       schon jetzt nahezu ausgeschöpft.
       
       Außerdem entstehen durch Wohnungsverlust weitere Kosten: für Einlagerung,
       Umzugskosten, die ebenfalls vom Jobcenter getragen werden müssten. Weil
       Einlagerungen meist nur eine bestimmte Zeit lang übernommen werden, muss
       dann Mobiliar entsorgt werden, was bedeutet: Beim späteren Neubezug einer
       Wohnung entstehen wiederum Kosten für die Erstausstattung, die die
       Jobcenter übernehmen müssen.
       
       Welche Maßnahmen wären rechtlich machbar? 
       
       Merz' Pläne ändern nichts am wachsenden Problem, dass immer weniger
       Wohnraum zu angemessenen Preisen verfügbar ist. Rechtlich möglich und
       sinnvoll wären Maßnahmen, die das weitere Steigen von Mieten begrenzen,
       [3][etwa eine Mietpreisbremse] und sozialer Wohnungsbau.
       
       Wären [4][mehr Sozialwohnungen] eine Lösung?
       
       Das allein reicht nicht. Um eine Sozialwohnung zu erhalten, müssen Menschen
       die Voraussetzungen für einen Wohnungsberechtigungsschein (WBS) erfüllen.
       Das zu überprüfen bedeutet einen hohen Verwaltungsaufwand. Trotzdem kann
       dieser eine Fehlbelegung nicht verhindern: Der WBS muss in der Regel nur zu
       Beginn des Mietvertrags vorgelegt werden, doch die Bedürftigkeit von
       Menschen verändert sich im Laufe der Zeit. Dieses System ermöglicht
       langfristig keine bedarfsgerechte Förderung. Es sollte dringend hinterfragt
       werden, warum Wohnraum allein nach individuellen Kriterien, statt
       gesamtgesellschaftlichen gefördert wird.
       
       Ein weiteres Problem an Sozialwohnungen ist, dass nach einer Weile die
       Preisbindung entfällt. Dann fallen die Wohnungen dann doch wieder in den
       regulären Wohnungsmarkt, werden also teurer. So werden die Bedürfnisse von
       Mietenden nicht erfüllt. Diese bestehen nicht nur darin, ein Dach über dem
       Kopf zu haben, sondern auch darin, langfristig in einer Wohnung bleiben zu
       können, statt faktisch durch sogenannte Markteffekte verdrängt zu werden.
       Das Bundesverfassungsgericht hat die existentielle und personale Bedeutung
       der Wohnung für das Leben der Einzelnen schon mehrfach als „Ausfluss der
       Eigentumsfreiheit“ herausgestellt. Und auch [5][in der Rechtswissenschaft]
       wurde schon mehrfach betont: Wohnen ist ein Persönlichkeitsrecht. Der Staat
       sollte es erfüllen.
       
       26 Sep 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.dielinkebt.de/themen/nachrichten/detail/wohnkostenluecke-buergergeldbetroffene-zahlen-500-mio-euro-aus-eigener-tasche/
   DIR [2] /Wohnungslosigkeit-in-Berlin-/!6111647
   DIR [3] /Verlaengerung-der-Mietpreisbremse/!6093248
   DIR [4] /Wohnkostendebatte-beim-Buergergeld/!6098371
   DIR [5] https://www.nomos-elibrary.de/de/document/view/detail/uuid/a61e839c-09e4-3b7e-bdd9-814b9350e4f8
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lotte Laloire
       
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