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       # taz.de -- Highlight Veneto: „Made in Italy“?
       
       > Die Leder verarbeitende Industrie: eine Kernmarke Italiens. Sie stand
       > immer für Erfahrung, hohe Qualität, modische Kreativität. Was blieb
       > davon?
       
   IMG Bild: Das Handwerk ist ein Kapital, das ausstirbt, auch im Hinterland von Venedig.
       
       Eine hastige Bewegung fährt durch die Gruppe. Auf dem Boden ausgebreitete
       Tücher werden zusammengerafft, Handtaschen und Geldbörsen in Sporttaschen
       gestopft. Kontrollgang der Finanzpolizei. Die Straßenhändler entschwinden
       mit ihren Bündeln in alle Richtungen, der kleine Platz an der Strada Nuova
       wirkt plötzlich verlassen, obwohl Touristen und Einheimische weiter ihrem
       Tagesgeschäft nachgehen.
       
       Auf Venedigs Straßen sind es in der Regel afrikanische Händler, die
       gefälschte Taschen der Nobelmarken anbieten. In den Geschäften verkaufen
       dagegen oft Chinesen venezianische Masken, Muranoglas oder Lederwaren. Ob
       Straße oder Laden, das meiste der feilgebotenen Artikel ist made in China,
       auch wenn „Made in Italy“ draufsteht.
       
       Manche Geschäfte werben sogar damit, dass sie „garantiert keine in China
       hergestellten Produkte“ verkaufen. Doch längst haben die Chinesen, längst
       hat die Globalisierung Venedig und andere Teile Italiens im Griff. Und es
       trägt selbst dazu bei.
       
       ## Chinesische Läden zur Geldwäsche
       
       Etwa 20 Prozent der venezianischen Geschäfte dürften sich in chinesischer
       Hand befinden, schätzt Roberto Zuttion, der nahe der Piazza San Marco das
       Lederwarengeschäft Kalimala betreibt. Bei ihm findet man keine eleganten
       Pumps, sondern flache Schuhe, solide gearbeitet.
       
       Die Läden der Chinesen dienten vorwiegend der Geldwäsche, meint er, denn
       die 4.000 bis 5.000 Euro Miete, die ein kleiner Laden im Durchschnitt
       monatlich koste, könnten sich sonst gar nicht amortisieren. Nach Farben und
       Größen sortiert liegen sie dort: Handschuhe oder Handtaschen, mehr oder
       weniger gleichen Zuschnitts, in Orange, Grün, Blau, große Taschen, kleine
       Taschen, Handyetui oder Geldbörse farblich passend dazu. Ein Überangebot,
       billig und von Laden zu Laden gleich.
       
       „Es wurde in der Vergangenheit viel zu wenig für den Schutz des Labels
       ,Made in Italy‘ getan“, sagt Zuttion. Er gehört zu den Venezianern, die dem
       Ausverkauf der Stadt etwas entgegensetzen wollen und sich im Kulturzirkel
       ARCI engagiert. Er ist ein Handwerker neuen Typs, gut ausgebildet, gut
       vernetzt.
       
       Auch die großen Firmen und Namen hätten das Spiel mitgespielt. Sie lassen
       in großen Teilen in Asien produzieren. „Es reicht, am Ende in Italien den
       Henkel oder das Label anzubringen, dann darfst du deine Tasche als ’Made in
       Italy‘ bezeichnen“, erklärt Zuttion. Inzwischen gebe es zwar Kontrollen der
       Finanzpolizei, „aber die kontrollieren ja nur die armen Straßenverkäufer“.
       
       Trotzdem. Roberto Zuttion, der das Lederhandwerk an der berühmten Scuola
       del Cuoio in Florenz gelernt hat, kommt mit seinem Laden über die Runden.
       „In Venedig haben wir ja Glück, hier kann man wenigstens noch etwas
       machen“, sagt auch Anna Gerotto, eine Venezianerin, die gerade mit
       Venicefactory.com einen Internethandel für lokal hergestelltes
       Kunsthandwerk auf die Beine zu stellen versucht. Das Glück – das sind die
       Russen, die Chinesen, die Koreaner, die nach Venedig kommen, Geld haben und
       ausgeben. „In den Dörfern und Städten der Umgebung bricht dagegen alles
       zusammen“, sagt Gerotto. Gerade weil es in Italien traditionell viele
       kleine Familienunternehmen gebe, „diese Struktur trägt nicht mehr, ganze
       Branchen brechen weg“.
       
       ## Venetien Zentrum der Lederverarbeitung
       
       Italiens Lederfabrikation ist weltberühmt. Taschen, Schuhe, italienischer
       Schick. Neben der Toskana ist Venetien das Zentrum der Lederverarbeitung.
       20 Millionen Touristen kommen im Jahr nach Venedig, doch nur ein Bruchteil
       davon steigt an der Stazione Santa Lucia in einen Regionalzug, um für
       lächerlich wenig Geld nach Treviso oder Vicenza zu fahren. Ein beachtliches
       Gefälle zwischen der Stadt Venedig und ihrem Hinterland, der Region Veneto
       mit ihren sieben Provinzen.
       
       Während an der Riviera del Brenta, einer weiteren Provinz Venetiens, seit
       Dogen Gedenken Damen- und Herrenschuhe hergestellt werden, geht es im
       Städtchen Montebelluno in der Provinz Treviso rustikal zu. Bergstiefel,
       Wander- und Sportschuhe sind das Markenzeichen der Region. Und das Mekka
       der Sportwelt außerdem, denn mittlerweile werden hier auch Skier und
       Skischuhe produziert. Eine kleine Erfolgsgeschichte, die mit Leder begann
       und sich längst davon gelöst hat.
       
       „Schuhe waren eine Anschaffung fürs Leben“, erklärt Aldo Durante, der seit
       1984 das Museo dello Scarpone e della Calzatura Sportiva leitet. Das
       Museum, in einer Villa auf einem Hügel außerhalb von Montebelluna
       untergebracht, zeugt vom bäuerlichen Ursprung der Schuhe und des
       Schuhmacherhandwerks. Modelle, die schwer am Menschen gehangen haben
       dürften; Utensilien des Schuhmacherhandwerks; auch der Übergang vom Leder
       zum Plastik in der Welt des Sportschuhs wird gebührend gewürdigt. „Plastik
       lebt“, sagt Durante und zeigt auf die zerbröselte Sohle eines Laufschuhs
       aus den 70er Jahren. „Leder dagegen stabilisiert sich. Schuhe aus Leder
       sind auch in 20 Jahren noch da.“
       
       ## Die Villen von Andrea Palladio
       
       Die Skischuhe, die das Unternehmen Nordica herstellt, kommen heute ganz
       ohne Leder aus. „Es gab zur richtigen Zeit eine Intuition des Wandels“,
       stellt Marketingchef Antonio Lauro rückblickend fest, früh erkannte man,
       dass der Sport- und Outdoorsektor ein wachsender Markt war. Mittlerweile
       gehören zur Unternehmensgruppe Tecnica nicht nur Nordica und Dolomite,
       sondern auch international bekannte Namen wie Bladerunner, Moon Boot und
       Lowa. Neben der Schuhfirma Geoxx ist Tecnica der größte Arbeitgeber der
       Region. Seine Ski- und Wanderschuhe lässt das Unternehmen in Osteuropa
       produzieren, nur Soft- und Fitnessschuhe werden in Asien hergestellt.
       
       „Vor 20 Jahren waren wir die Schweiz Italiens“, sagt Enrico Tirindelli. Vom
       großen Boom in Venetien zeugen hier und da protzige Neubauten, die den
       Übergang von der Stadt aufs Land verunstalten. Der Mittdreißiger hat sich
       als Natur- und Wanderführer der Provinz Treviso selbstständig gemacht.
       „Hier gibt es noch viel zu entdecken“, sagt er. „Wir haben alle Zutaten,
       man muss sie nur zusammenbringen.“ Das hügelige Land ist grün, hier wächst
       der berühmte rote Radicchio von Treviso, ist die Prosecco-Rebe Glera zu
       Hause.
       
       Tirindelli bietet Radtouren zu den Villen Andrea Palladios an. Die Bauten
       des Renaissance-Architekten thronen in der Landschaft, als seien sie einem
       Renaissance-Gemälde entsprungen. Die Villen, die Palladio den
       Patrizierfamilien entwarf, waren Landsitz und Wirtschaftsbetrieb,
       repräsentativ und funktional: Vom Hauptgebäude aus gehen Fenster in alle
       Himmelsrichtungen, sodass sich einerseits die Landschaft bewundern und
       andererseits die links und rechts abgehenden flacheren Wirtschaftstrakte
       mit der Arbeiterschaft beaufsichtigen ließen.
       
       Andrea Palladio hat Dutzende dieser Privathäuser entworfen, die meisten
       stehen in den Veneto-Provinzen Brenta, Treviso und Vicenza. Vicenza ist die
       Stadt Palladios, hier hat er lange gelebt, viel gebaut. Die dominante
       Basilica an der großen Piazza; Stadthäuser, das Teatro Olimpico.
       
       In der Altstadt liegt das Büro des Designers Cleto Munari. Seit Kurzem
       entwirft auch er Handtaschen – „ein interessanter Markt“, meint er. „Ich
       entwerfe ohne Rücksicht auf den Markt, ich bin eh an der Grenze zur Kunst“,
       sagt der jugendlich wirkende 82-Jährige, der eine geblümte Samthose und
       eine auffällige Brille zu seinen kurzen weißen Haaren trägt. Sein
       Markenzeichen sind geografische Muster à la Mondrian, bei seinen
       Handtaschen ist es die Schnalle, ein Auge. „Das Wichtigste sind die
       Details“, sagt Munari. Heutzutage sei eine Handtasche ein Statussymbol.
       „Frauen geben dafür richtig Geld aus“, sagt Munari.
       
       ## Zukunft im Luxussegment
       
       Er schätzt die lokale Tradition des italienischen Lederhandwerks. Die
       Besten der Besten, sagt er. Die großen Firmen ließen hier produzieren,
       „weil es Techniken gibt, die man woanders nicht kennt“. Als verhielte es
       sich heute nicht umgekehrt, als ließen die großen Firmen nicht in Übersee
       produzieren, weil es dort viel billiger ist. Es sei denn, man besetzt – wie
       Cleto Munari – den Luxussektor.
       
       Auch die Geschwister – Fratelli – Nuti haben sich in diesem Segment
       spezialisiert. In einem Vorort von Vicenza haben Ilaria und Federico Nuti
       ihr Outlet und Büro. Die Firma stammt noch vom Großvater. Heute gibt es
       keine Angestellten mehr. Die Geschwister arbeiten mit kleinen lokalen
       Handwerksbetrieben zusammen. Davon gibt es immer weniger. „Die Leidenschaft
       schwindet“, sagt Ilaria Nuti.
       
       Seit 2005 macht sie mit ihrem Bruder ihre „eigene Sache“, ganz ohne Hilfe –
       „das Internet hilft“. „Wir haben eine Nische besetzt: Luxus“, sagt die
       dunkelhaarige Frau, die selbst wie ein edles Geschöpf aussieht. Fratelli
       Nuti arbeiten ausschließlich mit exotischen Materialien: Kroko, Strauß,
       Leguan und Python. Selbst im Outlet kostet eine Nuti-Tasche immer noch
       stolze 1.700 Euro. „Auch im Trainingsanzug muss sich eine Frau mit einer
       Handtasche gut angezogen fühlen“, gibt Ilaria Nuti zu bedenken.
       
       ## Die Häute kommen aus aller Welt
       
       Fratelli Nuti ist ein hochklassiger Zweileutebetrieb, der auf Exklusivität
       setzt. Oscar Sport in Montebelluna ist das popelige Gegenteil, einer dieser
       kleinen Betriebe, deren mögliches Verschwinden Ilaria Nuti so bedauert.
       Früher gab es dort 800 kleiner Betriebe (jetzt sind es noch 300), die auf
       Leder und Lederverarbeitung spezialisiert waren. Oscar Sport stellt
       Fellschuhe her, im Büro steht das Modell „Dopo-Ski“ (Après-Ski“), das in
       Osteuropa sicher gut ankäme und etwas aus der Zeit gefallen wirkt. Nicht
       ganz: Kate Middleton führte in diesem Frühjahr das Oscar-Modell Giada aus.
       
       Oscar Breda hat das Geschäft vom Vater Franco übernommen; der Alte
       schneidet zu, der Jüngere sucht bei den Gerbern die Felle aus. „Mein Vater
       hat zu viel Mitleid“, sagt Oscar Breda, „wir wollen ja so wenig wie möglich
       wegschmeißen.“ Jedes Fell besitzt eine andere Färbung, einen anderen
       Strich. Franco Breda sitzt da, in der Werkhalle bei den Arbeitern, die wie
       er alles von Hand machen. Zuschneiden, nähen, pressen, kleben. 22
       Angestellte hat die Firma noch, früher waren es mal an die 60.
       
       Die Qualität des Leders steht und fällt mit der Gerberei, sagen die Bredas.
       Arzignano, etwa 20 Kilometer außerhalb von Vicenza, ist der historische
       Gerberdistrikt Venetiens. Etwa 90 Prozent der italienischen Produktion
       findet hier statt – 482 Gerbereien gibt es in der Region. Ein Handwerk mit
       Industriecharakter, und ein dreckiges und stinkendes noch dazu. Eins der
       größten Unternehmen ist die Rino-Mastrotto-Gruppe.
       
       Die Häute kämen aus aller Welt, erklärt Manager Albert Atrofini bei einer
       Werksführung, die besten stammten aber aus Europa und die schönsten aus dem
       Piemont.
       
       Nach ihrer Ankunft werden die Rohhäute mit Chromsalz gewaschen – dadurch
       nehmen sie eine bläuliche Färbung an. Je nach Verwendungszweck wird es
       entsprechend behandelt, gefärbt, imprägniert. Naturfarben? „Es gibt nur
       natürliche Effekte“, sagt Atrofini. Die Tannine seien zu teuer. „Aber man
       kann alles imitieren. Je natürlicher das Leder aussieht, umso empfindlicher
       ist es und desto haltbarer muss ich es machen.“
       
       Marktführer in der Lederbranche ist weltweit längst China, auch wenn
       Italien mit etwa 60 Prozent Marktanteil EU-intern führt. Wer in diesen
       Zeiten überleben will, setzt auf Luxus oder gute Handarbeit. Wie Paolo
       Brocca. Ein Einzelgänger, Handwerker alten Schlags. Seit vierzig Jahren
       führt er die Bottega Artigianale di Pelleteria e Rettile im Corso Fogazzaro
       in Vicenza. „Es gibt kaum noch solche wie mich“, sagt er. Die Preise seiner
       Handtaschen verhandelt Paolo Brocca. „Ich arrangier mich“, sagt er
       sibyllinisch. Zwischen 100 und 200 Euro kosten seine Taschen, schlichte
       Stücke, mehr Handwerk als Kunst. Sein Laden ist zugleich sein Atelier.
       „Dort sind meine Leder“, sagt er, „und dort meine Maschine. Das ist alles,
       was ich brauche. Es gibt kein Geheimnis.“ Und bald keine Läden mehr wie die
       von Signore Brocca.
       
       31 Aug 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Sabine Seifert
       
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