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       # taz.de -- Hilfe für Gehörlose in Sicht: Dem Hören auf der Spur
       
       > Eine Studie der Universität Göttingen klärt, wie der Körper aus
       > Schallwellen Geräusche macht. Wenn das verstanden ist, kann es Gehörlosen
       > helfen.
       
   IMG Bild: Hammer, Amboss, Steigbügel, Schnecke: Im Innenohr findet sich ein komlizierter Mechanismus auf engstem Raum
       
       Göttingen taz | Hören ist der schnellste Sinn. Im Bruchteil einer
       Tausendstelsekunde verarbeitet der menschliche Körper Schallwellen. Hören
       ist zehnmal schneller als ein Wimpernschlag. Hören ist deutlich schneller
       als Schallgeschwindigkeit. Damit wir so schnell hören können, ist der
       Mechanismus, der Schall in Nervenimpulse umwandelt, filigran – und deshalb
       besonders empfindlich.
       
       Ein Team an der [1][Universität Göttingen] hat durch wichtige
       Grundlagenforschung gezeigt, was genau im Innenohr passiert, damit wir
       Musik und Vogelgezwitscher genau so gut hören können wie heranrasende
       Autos. Ihre Erkenntnisse könnten in Zukunft Menschen helfen, die gar nicht
       oder nur sehr wenig hören. Gehörlosigkeit ist die häufigste
       Sinnbehinderung.
       
       Generell funktionieren die Sinne alle ähnlich. „Jeder Sinnesvorgang braucht
       die Umwandelung eines physikalischen Stimulus in ein Nervensignal“, erklärt
       Tobias Moser. Er ist auditiver Neurologe, also Hörforscher, Professor in
       Göttingen und hat Lina María Jaime Tobón bei ihrer Doktorarbeit begleitet.
       
       Beim Sehen wird Licht durch das Gehirn verarbeitet, beim Fühlen
       interpretiert unser Gehirn aus der Reizung der Zellen in unserer Haut, ob
       wir nun gerade gestreichelt oder gepiekt werden. Um hören zu können, muss
       der Körper wiederum Schallwellen verarbeiten.
       
       ## Entscheidender Schritt unbekannt
       
       Allgemein funktioniert Hören so: Geräusche sind Schallwellen. Diese
       Schallwellen treffen auf die Ohren, das Trommelfell wandelt sie in
       Schwingungen um und der mechanische Reiz wandert weiter ins Mittelohr, wo
       sich die kleinsten Knochen des Körpers befinden – Hammer, Amboss und
       Steigbügel. Sie geben den rhythmischen Druck dann weiter an die mit
       Flüssigkeit gefüllte Hörschnecke im Innenohr.
       
       Hier wandelt sich der Schall in einen elektrischen Reiz. Was eben noch ein
       Geräusch war, zischt nun als winziger Stromschlag ins Gehirn und wird dort
       interpretiert. Eine Schallwelle wird also im Bruchteil einer Sekunde zu
       einem mechanischen Impuls, dann zu einem elektrischen und schließlich zu
       Sprache, Lärm, Musik.
       
       Im Prinzip ist diese Grundvorstellung richtig, aber Details sind weiterhin
       unklar. Zum Beispiel ist noch wenig darüber bekannt, wie der mechanische
       Reiz im Innenohr zu einem elektrischen wird. Denn das Gehirn kann den
       Schall nur als Nervenreiz verarbeiten.
       
       Genau an diesem Punkt setzt die aktuelle Untersuchung von Lina María Jaime
       Tobón und Tobias Moser von der Universität Göttingen an. „Das ist richtig
       schöne Grundlagenforschung“, sagt Tobias Moser dazu.
       
       Um herauszufinden, was genau im Körper beim Hören passiert, haben die
       Forscher*innen die Innenohren von dafür getöteten Labormäusen
       untersucht. „Wir haben die Sinneszellen unter einem Mikroskop beobachtet“,
       erklärt Tobias Moser, „Man kann sie mit Fühlern ausstatten und den Synapsen
       bei der Arbeit zusehen, indem die Bewegung der biologischen Strömungen
       sichtbar wird.“
       
       Damit wir Sinnesreize hören, müssen sie an die Schnittstellen zwischen
       verschiedenen Zellen weitergeleitet und dort übersetzt werden. In diesem
       Fall also zwischen den Sinneszellen und Nervenzellen.
       
       Im Innenohr nehmen Haarsinneszellen die Schwingungen des Trommelfells auf.
       In den Haarzellen befindet sich Glutamat, das in kleinen Bläschen,
       sogenannten Vesikeln, zum Ende der Sinneszelle schießt. Das Glutamat, das
       Hören ermöglicht, ist der gleiche Stoff, der chinesischem Essen die
       perfekte Umami-Note verleiht.
       
       Zwischen Sinnes- und Nervenzelle befindet sich die Synapse. Synapsen sind
       Schnittstellen zu Nervenzellen und verbinden auch in diesem Fall die
       Haarzellen mit Nervenzellen. Der eintreffende Schall drückt das
       eingeschlossene Glutamat gegen die Zellmembran. Dann öffnen sich
       Kalziumkanäle in der Membran der Sinneszelle.
       
       ## Glutamat als Botenstoff
       
       Kalziumkanal bedeutet, dass sie Kalziummoleküle durchlassen und nicht, dass
       sie aus Kalzium bestehen. Weil sich die Kanäle geöffnet haben, ergießt sich
       das Glutamat in den Spalt zwischen beiden Zellen. So entsteht ein
       elektrischer Impuls in der Nervenzelle.
       
       „Das ist ein komplizierter biologischer Mechanismus“, sagt Moser dazu. Beim
       [2][Hören] passiert eine Art ultraschneller Staffellauf: Schall trifft auf
       das Trommelfell, trifft auf die Haarzellen, öffnet dort Tore zur
       Nervenzelle, durch die dann eingeschlossene Glutamat-Moleküle gereicht
       werden, die auf die Nervenzelle prallen, dort einen elektrischen Impuls
       auslösen und von Nervenzelle zu Nervenzelle wandern.
       
       Zum Hören braucht es also ein Zusammenspiel aus Kalziumkanälen,
       Kalziumionen und eingeschlossenem Glutamat. Je lauter der Schall, desto
       mehr Tunnel öffnen sich. Aber Lina María Jaime Tobón und Tobias Moser haben
       gezeigt, dass ein einziger Kanal ausreicht, damit es ein Geräuschimpuls in
       die Nervenzellen schafft. Deshalb ist Hören der schnellste Sinn und der
       empfindlichste.
       
       Die neue Studie der [3][Universität Göttingen] ist aber nicht nur wichtige
       Grundlagenforschung, sondern kann in Zukunft vielleicht auch
       Patient*innen helfen, die nicht gut hören. In der menschlichen DNA gibt
       es eine Gensequenz namens OTOF. Dieses Gen übersetzt der Körper in das
       Protein Otoferlin. Es sorgt dafür, dass Reize vom Innenohr an die Nerven
       weitergegeben werden können.
       
       Damit betrifft es genau den Mechanismus, den die Studie untersucht hat.
       Wenn mehr über ihn bekannt ist, kann Gentherapie vielleicht in Zukunft
       dabei helfen, [4][gehörlos geborene Kinder zu unterstützen].
       
       16 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Erinnerung-an-die-Goettinger-Sieben/!5951365
   DIR [2] /kinder-fragen-die-taz-antwortet/!5988664
   DIR [3] https://www.uni-goettingen.de/
   DIR [4] /Barrierefreies-Musiktheater/!5998911
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Lisa Bullerdiek
       
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