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       # taz.de -- Historiker über das Mittelmeer: Eine Utopie der Vielfalt
       
       > Das Mittelmeer zeigt, wie Unterschiede uns voranbringen und uns Grenzen
       > überwinden lassen. Auf lange Sicht muss Europa also die Vielfalt fördern
       > und zulassen.
       
   IMG Bild: Muss wieder zum Zentrum werden: Das Mittelmeer (hier bei Vernazza, Italien)
       
       Das Mittelmeer ist derzeit zerrissen, zerstückelt und zerbrochen. Dabei war
       das Wesen des Mittelmeers in den vergangenen Jahrhunderten, ja
       Jahrtausenden die meiste Zeit ein anderes, ein integratives. Nur in den,
       historisch betrachtet, seltenen Phasen des Ausschlusses, bedingt durch
       politische und ökonomische Spannungen, verlor es seinen integrativen
       Charakter.
       
       Auf der Suche nach einer Lösung ihrer ökonomischen Probleme schauen die
       Länder an den nördlichen Küsten des Mittelmeers heute auf Brüssel oder
       Berlin. Sie kehren ihrem Meer den Rücken zu und damit ihrer Berufung, die
       mindestens so sehr im Mittelmeer liegt wie in Europa. Es ist also Zeit,
       diesem Meer seine historische Rolle zurückzugeben: als Ort im Zentrum der
       globalen Ökonomie, Politik und Kultur.
       
       Das Mittelmeer hatte in seiner ganzen Geschichte immer ein großes
       ökonomisches Potenzial. In den integrativen Zeiten war und ist die Summe
       seiner Teile beeindruckend. So erreichten die antiken Römer etwas, das
       weder vorher noch nachher jemals gelang: die politische Kontrolle über das
       gesamte Mittelmeer.
       
       Zwischen den Küsten herrschte reger Verkehr, was dazu führte, dass sich
       ethnische, religiöse und soziale Grenzen auflösten, vor allem in Alexandria
       oder Rom. Auch in späteren Jahrhunderten waren die Städte an den Rändern
       des Mittelmeers Orte, in denen Menschen verschiedener ethnischer und
       religiöser Identitäten zusammenlebten – Juden, Christen und Muslime.
       
       ## Geteilt mit der Dekolonisierung
       
       Im 19. Jahrhundert schuf die Kolonisierung der südlichen Küsten durch die
       Europäer ein sehr enges, aber sehr unsymmetrisches Verhältnis zwischen dem
       Norden und dem Süden. Doch mit der Dekolonisierung wurden die Probleme
       nicht gelöst, mit denen sich die daraus entstandenen neuen Länder
       konfrontiert sahen. Das Mittelmeer war von nun an in nördliche und südliche
       Zonen geteilt, die weitgehend getrennt voneinander agierten.
       
       Keinesfalls sollen mit dieser Feststellung die Taten der Kolonisatoren
       verteidigt werden, die besonders in Algerien äußerst brutal und
       kontraproduktiv waren. Ein rabiater Nationalismus hatte bereits im frühen
       20. Jahrhundert mit der Zerstörung des Mittelmeers begonnen. Jene Orte, die
       einst für die Begegnung der Kulturen, Religion und Menschen gefeiert
       wurden, degradierten zu monochromen Städten, die ausschließlich von der
       Mehrheitsbevölkerung des Hinterlandes bewohnt wurden.
       
       Mit dem Bevölkerungsaustausch der 1920er Jahre zwischen Griechen, Türken
       und Armeniern begannen ethnische Gruppen ihre Reviere abzustecken, um die
       herum Menschen und religiöse Gruppen rangiert wurden. Ein Prozess, der
       anhält. Heute beobachten wir ihn in Syrien als Auswanderung von Christen.
       
       ## Instabilität auch im Norden
       
       Der Kampf um Stabilität, Wohlstand und Demokratie im islamischen Mittelmeer
       wird langwierig sein. Aber Algerien, Tunesien und Libyen besitzen
       ausreichend Ressourcen, um ihre Städte und das Leben ihrer Bewohner so
       transformieren zu können, wie es auch die Golfstaaten getan haben.
       Unmöglich, den Ausgang des Arabischen Frühlings vorherzusagen. Hoffen kann
       man nur, dass eine bessere Zukunft am Mittelmeer ohne den massenhaften Bau
       von Shopping-Malls wie in den Golfstaaten bewerkstelligt wird.
       
       Instabil aber sind nicht nur die südlichen Mittelmeeranrainer. Weil immer
       mehr Flüchtlinge vor Verfolgung oder aus ökonomischer Not fliehen und an
       den Küsten Italiens, Spaniens und anderer EU-Länder stranden, wirkt sich
       diese Instabilität auch auf die nördlichen Anrainer aus. Auf lange Sicht
       kann Europa also gar nicht anders, als wieder jene gemischten
       Gesellschaften des alten Mittelmeers zu fördern und zuzulassen, auf die man
       historisch so stolz sein kann. Städte wie Barcelona und Marseille lernen
       längst, wie eine urbane Gemeinschaft Menschen mit verschiedensten
       Hintergründen integriert und organisiert.
       
       Bedauerlich ist, dass Angst und Vorurteile diesem neuerlichen Prozess der
       kulturellen Integration im Wege stehen. Diese Vorurteile finden sich unter
       einer Minderheit der Europäer, die die Vielfalt fürchtet, und unter der
       Minderheit der Migranten, die sich im religiösen Fundamentalismus
       einmauern. Eine Utopie des Mittelmeers besteht aber darin, die Differenz
       als Wert zu schätzen, von ihr zu lernen.
       
       ## Es fehlt ein Konzept
       
       In all der Differenz gibt es dringende Fragen, die von allen mediterranen
       Nationen gemeinsam gestellt werden, insbesondere was Migration und die
       Förderung des Handels zwischen EU und Nicht-EU-Ländern betrifft.
       
       Wahr ist, dass es Versuche gab, die Länder des Mittelmeers in einem losen
       Staatenbund zusammenzubinden. Ungeachtet der politischen Differenzen sollen
       in der „Mittelmeerunion“ gemeinsame Probleme angegangen werden. Diese Idee
       von der „Mittelmeerunion“ ist allerdings in ihrem jetzigen Zustand
       tatsächlich mehr eine Idee, mehr eine Wunschvorstellung als ein
       ausgearbeitetes Konzept, das so praktizierbar wäre.
       
       Ein weiteres Element in einer Utopie vom Mittelmeer wäre tatsächlich ein
       runder Tisch, an dem Israel, die Palästinenser und die arabischen Staaten
       sitzen und ihre gemeinsamen Probleme ernsthaft und konstruktiv diskutieren.
       Die Grundlage aber für eine solche Utopie ist das Vertrauen – ob zwischen
       Israel und den Palästinensern oder zwischen Türken und Griechen auf Zypern.
       In einem utopischen Mittelmeer würden sich diese Spannungen auflösen, auch
       wenn es alles andere als leicht fällt, bei diesem Gedanken optimistisch zu
       sein.
       
       ## Die Umwelt muss geschützt werden
       
       Um die Utopie lebbar zu machen, gibt es noch eine Bedingung: den Schutz der
       maritimen Umwelt.
       
       Wenn das Mittelmeer weiter als grenzenlose Lebensmittel-Ressource und
       gleichzeitig als riesengroße Müllhalde behandelt wird, geht es verloren.
       Schon jetzt erlebt es einen katastrophalen Wandel durch Überfischung, dem
       Einleiten von Abwasser und den riesigen Mengen an Plastik, an denen das
       Meer und die Tiere ersticken. Die Nahrungskette wurde unterbrochen und wir
       sehen das Ergebnis in den kleinen Mengen Fisch, die das Mittelmeer nur noch
       hergibt.
       
       Als größtenteils geschlossener Raum ist dieses Meer von dem globalen
       Missbrauch der Meere am heftigsten betroffen. Will man die Utopie vom
       Mittelmeer erhalten, wird man die Bedürfnisse künftiger Generationen achten
       und dem Meer und seinen Einwohnern Zeit geben müssen, sich von dem Schaden
       zu erholen, den wir ihnen angetan haben.
       
       Die Zukunft des Mittelmeers liegt also in den Händen der Leute, die an
       seinen Küsten und auf seinen Inseln leben, aber auch in den Händen unser
       aller, die sich um die Zerstörung des Mittelmeers Sorgen machen. Und es
       gibt nur einen Weg, diese Zerstörung aufzuhalten: die verlorene Utopie des
       Mittelmeers wiederherzustellen. Das bedeutet, dem Mediterranen wieder
       seinen historischen Platz zurückzugeben, als Treffpunkt von Kulturen und
       Menschen, als Zentrum der Geschichte der Menschheit.
       
       Aus dem Englischen übersetzt von Doris Akrap
       
       29 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
   DIR David Abulafia
       
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