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       # taz.de -- Historikerin über Zwangsarbeit im NS: „Harte Strafen für sexuellen Kontakt“
       
       > Die Gedenkstätte Sandbostel widmet sich Kindern aus Beziehungen zwischen
       > Deutschen und Zwangsarbeitenden. Diese gab es vor allem auf dem Land.
       
   IMG Bild: Eng überwacht: sowjetische Kriegsgefangene 1942 im Lager Sandbostel
       
       taz: Frau Debus, warum waren im NS-Staat Beziehungen zwischen Deutschen und
       Zwangsarbeitenden verboten? 
       
       Lucy Debus: Sowohl aus politischen als auch aus rassistischen Gründen.
       Gleich im November 1939, zwei Monate nach dem deutschen Überall auf Polen,
       verbot der NS-Staat den Umgang mit Kriegsgefangenen und kurz darauf auch
       mit [1][Zwangsarbeitenden]. Darunter fielen nicht nur sexuelle Beziehungen,
       sondern auch Freundschaften oder die Tatsache, dass man einem Menschen ein
       Butterbrot gab. Gemeint war alles, was über das für die Arbeit unbedingt
       Nötige hinausging. Besonders hart bestraft wurde sexueller Kontakt. Es
       sollte keine Kinder mit dem militärischen Feind geben. Außerdem sollten –
       der nationalsozialistischen Rassenideologie folgend – Deutsche keine Kinder
       mit als „minderwertig“ eingestuften Menschen aus Polen oder der damaligen
       Sowjetunion haben.
       
       Wie gelang es trotzdem, solche Beziehungen zu haben? 
       
       Viele der Fälle, die wir fanden, haben im ländlichen Bereich stattgefunden,
       wo Zwangsarbeitende mit auf den Höfen wohnten. Im Unterschied zur
       Zwangsarbeit etwa in Rüstungsfabriken in den Städten bestanden auf den
       Dörfern mehr Möglichkeiten, sich bei der Arbeit kennenzulernen und heimlich
       zu treffen. Wobei Beziehungen zu westeuropäischen [2][Zwangsarbeitenden]
       zwar auch nicht erwünscht waren, aber aus den erwähnten rassistischen
       Motiven weniger hart verfolgt wurden.
       
       Wie flogen „verbotene Beziehungen“, denen Ihr aktuelles [3][Projekt] gilt,
       auf? 
       
       Durch [4][Denunziation.] Das zeigt noch einmal deutlich, wie stark die
       Bevölkerung daran beteiligt war, dass Menschen vor Gericht kamen und
       verurteilt wurden. Sonst hätten die NS-Behörden gar nicht von diesen
       Beziehungen erfahren.
       
       Fand man denn die DenunziantInnen? 
       
       In den meisten Fällen, von denen wir wissen, gibt es eher Vermutungen, wer
       es gewesen sein könnte. Sicher war man nie, denn Denunziation im NS-Staat
       wurde im Westdeutschland der Nachkriegszeit weder angeklagt noch verfolgt.
       In der DDR dagegen wurden nach 1945 DenunziantInnen verfolgt und
       verurteilt, wie Gerichtsakten belegen.
       
       Warum nicht in Westdeutschland? 
       
       Zwangsarbeitende und ihre Kinder als Opfergruppe sind in Forschung und
       Erinnerungskultur relativ spät aufgekommen. Das hat viel damit zu tun, wie
       in Westdeutschland mit NS-Verbrechen umgegangen wurde: dass es keinen
       Antrieb gab, möglichst alle TäterInnen vor Gericht zu stellen.
       DenunziantInnen standen erst recht nicht im Fokus.
       
       Welche Strafen gab es, wenn ein „verbotene“ Beziehung aufflog? 
       
       Für deutsche Frauen konnte das vom Zuchthaus bis zur Deportation etwa in
       das KZ Ravensbrück reichen. Manchmal mussten sie die Strafe erst nach
       Geburt des Kindes antreten, manchmal nicht, dann kam das Kind im KZ zur
       Welt. Die ausländischen Männer wurden zu KZ-Haft oder zur [5][öffentlichen
       Hinrichtung] verurteilt, der die anderen Zwangsarbeitenden beiwohnen
       mussten.
       
       Was geschah mit den Kindern? 
       
       War die Mutter deutsch und der Vater Ausländer, blieb das Kind entweder bei
       den Eltern der Frau, oder es kam – zum Beispiel, wenn die Familie sie
       verstieß – zu Adoptiveltern. Schwangere Zwangsarbeiterinnen wiederum wurden
       bis 1943 zurück in ihre Herkunftsländer geschickt. Als man 1943
       unterstellte, Zwangsarbeiterinnen würden absichtlich schwanger, behielt man
       sie hier und gab ihre Babys in „[6][Ausländer-Kinderpflegestätten]“. Da
       sich die Mütter nicht um sie kümmern durften, starben viele Kinder an
       Vernachlässigung durch das Personal. Als wir für unser Projekt Kinder aus
       „verbotenen Beziehungen“ suchten, haben sich allerdings meist Menschen
       gemeldet, deren Mutter Deutsche war.
       
       Was verbindet diese Kinder? 
       
       Ein Thema, das sich durchzieht, ist das Schweigen. Kinder, die bei der
       Mutter aufwuchsen, erfuhren nichts über ihren Vater. Das war eine große
       Leerstelle, verbunden mit dem Gefühl, dass Nachfragen unerwünscht war. Oft
       erfuhren sie erst spät – wenn die Person heiraten wollte oder auf dem
       Sterbebett der Mutter –, wer der Vater war. Kindern, die in Pflege- oder
       Adoptivfamilien aufwuchsen, erging es ähnlich. Die gezielte Suche nach den
       Wurzeln begannen sie oft erst nach dem Tod der Adoptiveltern.
       
       Ahnten die Kinder wirklich nichts? 
       
       Doch. Wer etwa im Dorf bei der Mutter aufwuchs, die nach der Haftstrafe
       zurückgekehrt war, wurde oft gehänselt. Eine Projektteilnehmerin erzählte,
       dass sie in der Schule als „Russenkind“ beschimpft wurde. Als sie zu Hause
       nachfragte, bekam sie keine Antwort. Sie sagt, da habe sie gewusst, dass es
       stimmte. Dass es da irgendeine Geschichte gab um diesen Vater. Aber sie
       wusste nicht, welche und spürte: Ich darf das nicht ansprechen.
       
       Entstanden manche solcher Kinder durch Vergewaltigung? 
       
       Ja. Das ist ein wichtiger Punkt, denn man muss aufpassen, dass man nicht
       eine romantische Geschichte von „verbotener Liebe“ erzählt. Die gab es
       sicherlich, aber es gab auch Fälle sexualisierter Gewalt.
       
       Wie gingen die Kinder, mit denen Sie sprachen, mit dem Wissen um ihre
       Herkunft um? 
       
       Die Erkenntnis kam ja nicht immer plötzlich. Einige haben irgendwann
       zufällig ihre Geburtsurkunde bei den Pflegeeltern gefunden und die daraus
       resultierende Verwirrung lange für sich behalten. Manche sind, nachdem sie
       es wussten, in die jeweiligen Länder gefahren und haben ihre Väter gesucht.
       
       Mit Erfolg? 
       
       Ja, in mehreren Fällen. Ein Projektteilnehmer hat seinen Vater, einen
       ehemaligen griechischen Zwangsarbeiter, gefunden und während dessen letzten
       Lebensjahren oft getroffen. Manchmal allerdings reagierten die Mütter oder
       Väter nicht positiv darauf, gefunden worden zu sein. Und immer wieder gibt
       es Fälle, wo sich Kinder gegen eine Kontaktaufnahme entscheiden, um die
       Familie, die der Vater inzwischen in seinem Herkunftsland gegründet hatte,
       nicht zu stören.
       
       Haben einige Betroffene im Zuge Ihres Projekts erstmals über das Thema
       gesprochen? 
       
       Ja. Einige hatten bis dato nur mit Nahestehenden, nicht aber in einem
       größeren Forum darüber gesprochen. Im Laufe eines dreitägigen Seminars, das
       auch der Vernetzung dieser Menschen galt, die wir über die Medien gefunden
       hatten, waren alle erleichtert zu sehen, dass sie nicht die Einzigen sind.
       Dass es eine Gruppe von Menschen gibt, die – trotz aller individuellen
       Unterschiede – diese Erfahrungen teilen.
       
       19 May 2024
       
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