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       # taz.de -- Historischer Gerichtstermin: Israel vor turbulentem Herbst
       
       > Ab Dienstag berät das Oberste Gericht, ob es einen Teil der Justizreform
       > aufhebt. Zehntausende Gegner der Reform gingen am Samstag auf die Straße.
       
   IMG Bild: Alles blickt auf nächste Woche: Demonstrierende am Samstag in Tel Aviv
       
       Jerusalem taz | „Die Verfassungskrise ist längst da“, ruft der ehemalige
       Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Yuval Diskin, am
       Samstagabend von der Bühne in Tel Aviv. Er spricht eine Angst aus, die
       viele der gut einhunderttausend Demonstranten auf der Kaplan-Straße
       umtreibt, wenn sie an die kommende Woche denken.
       
       Ab Dienstag will Israels Oberstes Gericht über seine eigene Entmachtung
       beraten, die das Parlament Ende Juli per Gesetz mit der Abschaffung der
       sogenannten Angemessenheitsklausel beschlossen hat.
       
       „Ich hoffe, dass es das Gesetz für ungültig erklärt“, sagt der 35-jährige
       Alon. Wie viele hier sei er seit neun Monaten fast jeden Samstag bei den
       Protesten gewesen. „Aber was, wenn die Regierung sich daran nicht hält?“
       Israel würde damit in eine Verfassungskrise steuern, deren weitere
       Entwicklung kaum jemand vorherzusagen vermag.
       
       Die [1][Aufhebung der Angemessenheitsklausel] ist ein Kernelement der
       umstrittenen Justizreform der rechtsreligiösen Regierung. Sie nimmt den
       Richterinnen und Richtern die Möglichkeit, Entscheidungen und Gesetze als
       „unangemessen“ und damit für ungültig zu erklären. Gegen die Aufhebung
       liegen dem Obersten Gericht zahlreiche Petitionen vor. Wann das Gericht
       entscheidet, ist bislang offen.
       
       Wird Netanjahu auf das Gericht hören? 
       
       Die Fronten haben sich in den letzten Wochen verhärtet: Israels
       Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, eine der prominentesten
       Gegnerinnen der Reform, erklärte, die Position der Regierung nicht vor
       Gericht mitzutragen und forderte die Richter auf, das Gesetz für ungültig
       zu erklären.
       
       Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu hat bisher nicht klar geäußert,
       ob er sich an die Entscheidung des Gerichts halten werde. Am Mittwoch
       teilte er jedoch eine Rede von Parlamentspräsident Amir Ohana auf X
       (ehemals Twitter), in der dieser erklärt, das Parlament werde „nicht auf
       sich herumtrampeln lassen“. Eine Aufhebung des Gesetzes werde Israel „in
       den Abgrund stürzen“. In einer Erklärung am Freitag warnte die Regierung
       das Gericht zudem vor „Anarchie“, sollte es an dem Gesetz rütteln.
       
       Da Israel weder über eine Verfassung noch über eine starke Legislative
       verfügt, kommt dem [2][Obersten Gericht eine wichtige Rolle bei der Wahrung
       der Rechtsstaatlichkeit und der Gewaltenteilung] zu. Kritiker warnen vor
       einer Schwächung der Demokratie und einer Begünstigung von Korruption, etwa
       durch willkürliche Besetzung entscheidender Positionen im Staat.
       
       Historischer Gerichtstermin am Dienstag 
       
       Die Anhörung am Dienstag ist gleich in mehrerlei Hinsicht historisch: Die
       Regierung hatte die Reform am 24. Juli als sogenanntes Grundgesetz
       beschlossen. In Israel haben diese Grundgesetze bis dato
       Verfassungscharakter, auch wenn sie in der Regel wie jedes andere Gesetz
       mit einfachen Mehrheiten beschlossen werden.
       
       Würde das Gericht gegen das Gesetz zu seiner Einschränkung vorgehen, wäre
       [3][es das erste Mal, dass es ein Grundgesetz aufhebt]. Auch deshalb tagt
       es erstmals in seiner Geschichte mit allen 15 Richterinnen und Richtern.
       
       Unterstützer der Reform werfen dem Gericht vor, übermäßig Einfluss auf
       politische Entscheidungen genommen zu haben. Dagegen habe es laut dem
       [4][Israel Democracy Institute] die Prüfung auf „Angemessenheit“ bisher
       eher zurückhaltend eingesetzt. In aller Regel würden die Richter Petitionen
       gegen Gesetze oder Personalien auch in kontroversen Fällen ablehnen.
       Sollten sie doch Handlungsbedarf sehen, würden die fraglichen Institutionen
       meist aufgefordert, ihre Entscheidungen zu prüfen. Aufhebungen wegen
       „Unangemessenheit“ seien die Ausnahme.
       
       Turbulenter Herbst 
       
       Unabhängig davon hat der Streit Israel bereits jetzt in eine der schwersten
       Krisen seiner Geschichte gestürzt: Aus Protest [5][kündigten in den letzten
       Monaten tausende Reservisten der Armee an, nicht mehr zum Dienst erscheinen
       zu wollen], sollte die Reform durchgesetzt werden. Der Kurs der
       israelischen Währung Schekel schwächelt seit Monaten und Oppositionsführer
       Jair Lapid warnte, die Reform gefährde die Sicherheit des Landes.
       
       Die Anhörung ist aber mit Sicherheit der Auftakt zu einem turbulenten
       Herbst. In zwei weiteren Fällen liegen dem Gericht Petitionen vor: Gegen
       ein Gesetz von Ende März dieses Jahres, das es massiv erschwert, einen
       amtierenden Ministerpräsidenten aus seinem Amt zu entfernen, sowie im
       Streit um die Besetzung zahlreicher Richterposten, die Justizminister Jariv
       Levin seit langem hinauszögert.
       
       Wenn das Parlament in Jerusalem Mitte Oktober aus der Sitzungspause
       zurückkehrt, könnte die Regierung zudem versuchen, auch die übrigen Teile
       seiner geplanten Justizreform weiter voranzutreiben.
       
       10 Sep 2023
       
       ## LINKS
       
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   DIR [4] https://www.usa4israelidemocracy.org/resource/translation-of-a-response-by-the-attorney-general-to-the-supreme-court
   DIR [5] /Proteste-gegen-Justizreform-in-Israel/!5946392
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Felix Wellisch
       
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