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       # taz.de -- Hörspiel „Die Enden der Parabel“: Ausuferndes Glück
       
       > Monumental und überzeugend wagen sich SWR und Deutschlandfunk an die
       > Hörspieladaption eines Kultbuchs von Thomas Pynchons.
       
   IMG Bild: Die V2-Rakete, einstige Wunderwaffe der Nazis
       
       Ungewohnt still liegt der Stadtraum abends zwischen den Hauswänden. In
       manchen Augenblicken bekommt er dann ein merkwürdiges Eigenleben. Wenn
       nämlich die Betrachterin lange am Fenster steht und in die Straßen lauscht.
       
       Eine unbestimmte Spannung scheint dann zu schwingen zwischen den vereinzelt
       aufheulenden Sirenen, dem Rauschen des Ahornbaums und dem seltenen Klacken
       von Schritten auf dem Asphalt: Als wollten die akustischen Leerstellen
       durch bestimmte Partikel angereichert werden. Das ist wohl die
       Phantomwahrnehmung von jemandem im Ausnahmezustand.
       
       Es ist ein merkwürdiger Zufall, dass der SWR in diese prickelnde Stille
       hinein ein lange geplantes, atemberaubend ehrgeiziges, mit dem DLF
       koprodduziertes Hörspielprojekt präsentiert, das vor dem Hintergrund der
       aktuellen Lage zu einem grandiosen Coup wird. An zwei aufeinanderfolgenden
       Abenden, insgesamt vierzehn Stunden lang und ohne Unterbrechungen durch die
       Nachrichten, hebelt ein öffentlich-rechtlicher Sender seine Zuschreibung
       als Informationsmedium aus.
       
       Gibt dem Radio die „Romantische Nacht“ zurück und damit genau den
       Zeit-Raum, in dem schon die frühen Protagonisten des Mediums das produktive
       Zusammenspiel zwischen Technik, Welt, Politik und Menschsein vermuteten.
       Ineinander verzahnt, so schrieben sie, förderten Hörkunst und Traum eine
       fantastische Wahrheit zutage, erzeugt durch die schöpferische Kraft von
       Stimmen und Geräuschen, von gestalteter Stille und Musik.
       
       ## Mehr Flow als eine Handlung
       
       Die Hörspieladaption von Thomas Pynchons Kultbuch „Gravity’s Rainbow“ („Die
       Enden der Parabel“) aus dem Jahr 1973 wird nun die leeren Straßen
       durchströmen. Das passt. Denn der über 1.000seitige Roman ist seinerseits
       eine amorphe, fließende Mischung aus Nacht und Träumen, aus surrealer
       Vision und präzise erdachter, nur scheinbar irrationaler Erfindung. Hier
       treffen politische Groteske, schräge Historiendeutung, Technikkritik und
       Grand Macabre auf ein zutiefst ethisches Eintreten für das unbeirrbare
       Erforschen von komplexen Zusammenhängen, für die Sichtbarmachung von
       absurden Vorgängen, der Vergessenen und Unterprivilegierten, dem ganzen
       „Müll“, wie Tony Tanner es treffend benannte.
       
       Pynchon entspinnt einen Organismus von Begebenheiten, die unmöglich als
       „Handlung“ nacherzählt werden können. Das Buch „spielt“ gegen Ende und kurz
       nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa. In vier Kapiteln mit absichtsvoll
       mysteriösen Titeln wie „Jenseits der Null“ und „Une Perm’ au Casino Hermann
       Goering“ vernetzt es eine Unzahl von Leitmotiven – die deutsche V2-Rakete,
       Spiritismus, zeitgenössisches Expertenwissen über Mathematik, Chemie,
       Ballistik, Musik- und Filmtheorie, Comics etc.
       
       Die Kapitel sind gegliedert in eine variierenden Anzahl von Episoden. Das
       ist auch schon alles an formaler Konzession. Der Rest ist ein Flow aus
       aberwitzigen Szenen und rasanten Ortswechseln, durch die über 400 Figuren
       mit so sprechenden Namen wie Tyrone Slothrop, Pirate Prentice, Katje
       Borgesius oder Jessica Swanlake morphen. Wer möchte, kann die Anspielungen
       anhand von Steven Weisenburgers grandiosem Buch „A Gravity’s Rainbow
       Companion“ entschlüsseln. Notwendig ist das nicht unbedingt, da dieser
       hochkomplexe Kosmos, von der Buchseite ins Radio transportiert, absolut und
       unmittelbar verständlich wird: Als eine Art Echtzeit-Crashtest zum Lesen
       einer unüberschaubar gewordenen Welt.
       
       ## Akustisches Surfen
       
       Der öffentlichkeitsscheue Thomas Pynchon wurde 1937 geboren, er studierte
       Ingenieurswesen und Physik, dann Anglistik, arbeitete zwei Jahre bei Boeing
       und verschwand nach seinem erfolgreichen Erstlingsroman „V“ 1963 von der
       Bildfläche. Keine Statements, keine Interviews. Nur zwei Fotos. Pynchon
       gilt als „Postmoderner“. Einer von denen, die sich vom Konzept des
       allwissenden Autors abwandten und die LeserIn zur produktiven
       MitgestalterIn des literarischen Kunstwerks promovierten. Leben wird aus
       seinem Stoff heraus erzählt, wie etwa Beckett es tat, dessen Maxime, es sei
       „unmöglich, im Elementaren Ordnung zu schaffen“, in Pynchons Werk auf
       Schritt und Tritt nachhallt.
       
       Dramaturg Manfred Hess steckte während seiner 10 Jahre dauernden Bemühung
       um die Stoffrechte eine Absage nach der anderen ein. Dann war es plötzlich
       so weit und Klaus Buhlert konnte mit Bearbeitung, Regie und Komposition
       loslegen. Er ist ein mehrfach ausgezeichneter Veteran der
       Literaturadaption. Und so gelang es ihm, der Übertragung von Elfriede
       Jelinek und Thomas Piltz die kongeniale Übersetzung des Romans ins
       Akustische zur Seite zu stellen. So dass ab der ersten Sendeminute deutlich
       wird, dass dieses literarisches Monument vielleicht erst in seinem
       Hörspielauftritt so richtig bei sich ist.
       
       Buhlert inszeniert souverän sparsam. Er dirigiert sein großes Ensemble von
       Bibiana Beglau über Martin Engler bis Lars Rudolph zurückhaltend und legt
       ihre Stimmen in wechselnde Raumtiefen. Die plastischen Spielszenen setzt er
       sparsam ein und verzichtet auf laute Gimmicks, die durchaus möglich wären.
       So gelingt ihm die wunderbare Gratwanderung, unsere Mitgestaltung
       anzufeuern und gleichzeitig Pynchons Bilder zu erhalten. Und wir surfen
       beglückt auf der Welle des kalkuliert ausufernden Erzählens.
       
       ## Keine unnötigen Unterbrechungen
       
       Es spricht nicht nur von der Fürsorge des Dramaturgen für seine HörerInnen,
       wenn die vier Teile statt durch Nachrichten durch Werkstattgespräche
       strukturiert sind – Literaturkritiker Denis Scheck, Militärhistoriker Sven
       Lüken, Amerikanist Heinz Ickstadt und Hanjo Berressem bekommen das Wort.
       
       Die Auswahl der GesprächspartnerInnen verweist auch auf den immensen
       Wirklichkeitsgehalt von Pynchons Roman. Und so bringt ein großartiges
       Radio-Event die „public air“ zum Schwingen. Anlässlich des Endes des
       Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren ist diese Hörspiel-Programmierung ein
       wunderbares Beispiel von kultureller Arbeit jenseits der „shared agendas“,
       die üblicherweise gleiche Themen gleich erzählt.
       
       17 Apr 2020
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Gaby Hartel
       
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