URI: 
       # taz.de -- Holodomor, die Hungersnot in Kasachstan: Der Irrsinn des Hungers
       
       > Die Hungersnot von 1932/1933 in Kasachstan hinterließ ein Trauma. In der
       > Region sind sich die Menschen einig, ob man sie „Genozid“ nennen soll.
       
   IMG Bild: Gedenken an die Hungerkatastrophe der Jahre 1932-33, den Holodomor, am 26. November 2022 in Kyjiw
       
       Was kann schlimmer sein als Hunger? Stellen Sie sich vor, dass Ihre ganze
       Familie von zwei Kühen und zehn Hühnern ernährt wird. Dank dieser Tiere
       haben Sie Fleisch, Milch und Eier: Frühstück, Mittagessen und Abendbrot.
       Und jetzt stellen Sie sich vor, dass man Ihnen das alles einfach wegnimmt.
       Was bedeutet: kein Frühstück mehr, kein Mittagessen und auch kein
       Abendbrot.
       
       Der 31. Mai ist in Kasachstan Tag der politischen Massenrepressionen der
       Jahre 1932/1933 und der schrecklichen Hungersnot, während der,
       unterschiedlichen Angaben zufolge, allein hier zwischen einer und zwei
       Millionen Menschen umkamen. Aber unter den Repressionen litten nicht nur
       die Menschen in Kasachstan, sondern auch in anderen Republiken des
       ehemaligen sowjetischen Blocks, in dem infolge der sowjetischen
       Regierungspolitik die Menschen verhungerten – oder ihren gesamten Besitz
       verkauften, um auf der Suche nach Nahrung überhaupt fortgehen zu können.
       
       Auch meine Urgroßmutter ist damals gegangen, die Mutter meines Großvaters
       mütterlicherseits. Mit ihrer Familie hat sie die Stadt Semei im Osten
       Kasachstans verlassen und ist nach Jessik im Süden des Landes gezogen. In
       Semei wütete der Hunger, die Menschen aßen einander auf. Also gingen sie –
       zu Fuß. 1.350 Kilometer durch Steppen und Flüsse. Sie dachten, im Süden
       würde es Getreide geben und Brot. Ihr Brot haben sie dort gefunden. Ihre
       Nachkommen leben dort bis heute.
       
       Meine Großmutter väterlicherseits wurde durch den schrecklichen Hunger von
       ihrer Familie getrennt. Um zu überleben, gab man sie zu reichen Tataren.
       Dort wurde sie großherzig aufgenommen, man gab ihr zu essen und zog sie
       auf. Die Nachkommen beider Familien stehen bis heute in freundschaftlichem
       Kontakt. In jeder kasachischen Familie gibt es vermutlich solche oder
       ähnliche Geschichten. Der Holodomor bzw. der Ascharschylyk, wie die
       Hungersnot in Kasachstan genannt wird, ist das psychologische Trauma des
       ganzen Volkes, für das bislang niemand die Verantwortung übernommen hat.
       Bis heute versuchen viele Menschen, ihren Schmerz künstlerisch zu
       verarbeiten.
       
       ## Geschichte mündlich von Generation zu Generation erzählt
       
       Für mich ist es schwer, [1][die Geschichte meiner eigenen Familie zu
       rekonstruieren]. Wie sie überhaupt überlebt haben auf ihrem Weg durch
       Flüsse und Steppen, woran sie dabei dachten, wovon sie träumten. Alle diese
       Menschen leben nicht mehr, geblieben sind nur ein paar rudimentäre
       Erinnerungen. Aber es gibt auch Familien, die diese Geschichten detailliert
       mündlich von Generation zu Generation weitergegeben haben.
       
       Die Geschichte einer solchen Familie hat 2017 die Journalistin Gulnar
       Tankajewa erzählt. In der Familie starben nacheinander drei Kinder an
       Hunger, das jüngste wurde nur drei Jahre alt. Die Mutter war so geschwächt,
       dass sie sich nicht einmal mehr an ihre eigenen Gefühle erinnern konnte.
       
       „Das ist der Irrsinn. Der Irrsinn des Hungers. Er hat meine Oma, die Mutter
       meiner Mutter, und ihre Schwestern dazu gebracht, das Kind der Nachbarn zu
       essen. Ein kleines Mädchen. Sie haben sie gestohlen. Meine Mama erzählt,
       sie sei davon aufgewacht, dass man ihr mit einem Löffel heiße Brühe
       einflößte … Ihre Mutter, meine Oma, verlor kurz vor ihrem Tod den Verstand.
       Jedes Kleinkind nannte sie … Vielleicht sage ich besser nicht, wie dieses
       Mädchen hieß. Allerdings rief meine Oma jedes Mädchen in unserer Familie
       bei diesem Namen. Mich übrigens auch“, sagt eine der Protagonistinnen des
       Artikels, eine Künstlerin namens Alia.
       
       Die Leute fragen oft: Wem soll man jetzt die Schuld an all dem geben? Die
       damaligen politischen Machthaber gibt es schon längst nicht mehr,
       Verstorbene holt man nicht zurück. Und wir sind nicht allein mit unserem
       Leid. Durch diese organisierten Hungersnöte starben Menschen in der
       Ukraine, in Kasachstan, im Kaukasus, in der russischen Schwarzerde-Region,
       im Wolgagebiet, in Sibirien und auch in den Teilen Russlands, wo diejenigen
       lebten, die die Beschlagnahmung von Vieh und Getreide befohlen hatten.
       
       Das Vieh nahm man manchmal aus Boshaftigkeit mit. Die beschlagnahmten
       Rinder wurden sofort getötet, weil man so viele Tiere gar nicht auf einmal
       hätte versorgen können. Viele Menschen aber waren auch von der Politik der
       Enteignungen, von Beschlagnahmung des Eigentums und von Vertreibungen
       betroffen. Auch einige meiner Verwandten wurden ihres Eigentums beraubt und
       nach Sibirien deportiert.
       
       ## Die Genozid-Frage ist in diesen Ländern längst geklärt
       
       Diskussionen, ob man diese Ereignisse Genozid nennen könne und solle,
       reißen nicht ab. In den betroffenen Ländern ist man sich in dieser Frage
       längst einig. [2][Viele möchten, dass der Holodomor als Genozid bezeichnet
       wird]. Viele Opfer? Eindeutig ja. Millionen tragischer Geschichten? Gibt
       es. Schmerz durch ein Gefühl der Ungerechtigkeit: vorhanden. Eine Form von
       Anerkennung der riesigen Narbe, die in den Ländern des ehemaligen
       Sowjetblocks hinterlassen wurde? Fehlanzeige.
       
       Manche Menschen sagen auch, ein Genozid sei die bewusste Ausrottung einer
       bestimmten Nation, während im Holodomor die Machthaber einfach alle
       niedermähten. Deshalb schlagen sie einen anderen Begriff vor, der im
       Russischen noch nicht weit verbreitet ist. Ich selbst habe ihn erst vor
       Kurzem zum ersten Mal gehört: „Soziozid“, die soziale Vernichtung einer
       gesellschaftlichen Schicht oder Klasse. Wie dem auch sei, eins ist klar:
       Für unsere Gesellschaft ist es wichtig, dass die Verbrechen der
       sowjetischen Machthaber an der Bevölkerung der Länder der Ex-Sowjetunion
       durch die internationale Gemeinschaft anerkannt werden.
       
       Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey]
       
       15 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Gebietsansprueche-Russlands-in-Kasachstan/!5914427
   DIR [2] /Holodomor-in-der-Sowjetunion/!5895422
   DIR [3] /Gaby-Coldewey/!a23976/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Khadisha Akaeva
       
       ## TAGS
       
   DIR Osteuropa – ein Gedankenaustausch
   DIR Osteuropa
   DIR Holodomor
   DIR Kasachstan
   DIR taz Panter Stiftung
   DIR Holodomor
   DIR Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
   DIR NS-Forschung
   DIR Holodomor
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Streit um ukrainisches Holodomor-Museum: Erst Stalin, dann Putin
       
       Ein Museum soll an den Genozid an den Ukrainern unter Stalin erinnern.
       Vielen erscheint er als Blaupause für das heutige Vorgehen Russlands.
       
   DIR Georgische Autorin über Sowjetunion: „Eine patriarchale, gewalttätige Zeit“
       
       Russland werde unter Putin seine Geschichte nie aufarbeiten können, sagt
       die aus Georgien stammende Theaterregisseurin und Autorin Nino
       Haratischwili.
       
   DIR NS-Verbrechen in der Ukraine: Auf der Spur der Täter
       
       Viele Deutsche wollen wissen, welche Verbrechen Familienangehörige während
       des NS in der Ukraine begangen haben. Ein Historiker hilft dabei.
       
   DIR Holodomor-Debatte im Bundestag: Hungerkatastrophe als Völkermord
       
       Ampel und Union billigen Antrag, der den Holodomor in der Ukraine 1932 als
       Völkermord bezeichnet. Viele ziehen Verbindung zu Putin.