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       # taz.de -- Homeoffice während Corona: Daheim im Corporate Center
       
       > Zu Hause arbeiten galt einst als Privileg. In Zeiten des Voronavirus wird
       > es Standard. Und zum Vorboten eines Strukturwandels.
       
   IMG Bild: Homeoffice betrifft auch die anderen Home-Bewohner
       
       Homeoffice und Work-Life-Balance gehören zu den beliebten Versprechen, mit
       denen Unternehmen beim Anwerben gesuchter Leute punkten. Wer die
       Festanstellung dann bekommt, ist in der Regel überrascht, wie sehr
       Versprechen und Berufsalltag auseinanderklaffen.
       
       Jetzt, in Zeiten des Virus, scheint sich dies zu ändern. Von zu Hause zu
       arbeiten gilt plötzlich als in hohem Maß vernünftig. Was die
       Abteilungsleiter bisher gerne als Privileg verteilten, wird nun zunehmend
       ein demokratisches Gut. Wie lange? Vielleicht nur so lange, bis ein
       Impfstoff dem Virus ein Ende macht.
       
       Das Homeoffice wurde den Angestellten von Großunternehmen schon in den 90er
       Jahren angeboten. Vor allem, wenn sie als sogenannte Außendienstler
       unterwegs waren, zum Beispiel als Kundendiensttechniker oder als sogenannte
       Key-Account-Manager.
       
       Einfachste Fragen waren unbeantwortet: Beteiligt sich die Firma an den
       Telefonkosten? Übernimmt sie ihren Anteil am ISDN-Anschluss? Zahlt sie die
       Miete für die Garage, wohin die Ersatzteile über Nacht geliefert werden?
       Ist die Fahrt zum ersten Kunden schon Arbeitszeit? Wer dies zum Thema
       machte und Bezahlung verlangte, galt schnell als kleinkariert. Gut, wenn es
       in solchen Fällen Betriebsräte gab, die den Angestellten zur Seite standen
       und Betriebsvereinbarungen abschlossen.
       
       ## Das nie eingelöste Versprechen
       
       In den nuller Jahren war Homeoffice das große, für viele nie eingelöste
       Versprechen. Zu Hause durfte arbeiten, wessen Nase dem Chef
       prämierungswürdig schien. Für die große Herde galt command and control, am
       besten im Großraumbüro. Wer je in solchen Räumen gearbeitet hat –
       beispielsweise in einem Callcenter –, weiß, wie nervenaufreibend
       Großraumatmosphäre ist.
       
       Der patzige Kunde am Telefon, die telefonierende Kollegin in der
       Nachbarparzelle, die elektronische Anzeige an der Stirnseite des Büros, die
       anzeigt, wie viel Kundschaft noch in der Leitung hängt und abgearbeitet
       werden will. Einzelbüros waren aus ökonomischen und politischen Gründen
       verpönt: kosten zu viel und bieten zu wenig Überwachung. Personalleitungen
       leiden ja an einer professionellen Deformation, sie halten den Angestellten
       an sich für einen faulen Hund. Desksharing kam damals in Mode. Man kam
       morgens, nahm sich im Eingangsbereich seinen Bürotrolley und schaute, wo
       gerade ein Schreibtisch frei war und sich der Laptop aufklappen ließ.
       
       Das wollen die heutigen Angestellten so, lautete die Generalthese der
       Personaler. Das wollte das für die Finanzen zuständige Management so, war
       die Wahrheit. Denn mit Desksharing lässt sich Büroraum und damit Geld
       einsparen. Die Angestellten haben mit der Sache bis heute ihren Frieden
       nicht gemacht. Morgens sind die gleichen Schreibtische mit den gleichen
       Leuten besetzt, und wer zu spät kommt, den bestraft das Büroleben.
       
       Das Homeoffice ist beides, Chance und Risiko. Die Phrase hat ausnahmsweise
       einmal ihre Berechtigung. Chance, weil sich außerhalb vom Bürostress
       wirklich effektiver arbeiten lässt: Kein Vorgesetzter mit neuen Ideen
       platzt herein; kein Kollege zieht ins endlose Gespräch, für das die Zeit
       aber fehlt; keine Kantine schließt um 13.30 Uhr, sodass man leider Kekse
       knabbern muss; vor allem entfällt die An- und Abfahrt ins Büro mit den
       obligatorischen Staus.
       
       ## Massive Gefahr häuslicher Überstunden
       
       Das Homeoffice ist Risiko, weil Angestellte in der Regel mit keinem
       gesunden Arbeitnehmerbewusstsein ausgestattet sind. Sie halten das Arbeiten
       von zu Hause für eine Vergünstigung, die sie sich mit Mehrarbeit verdienen
       müssen. Sie unterliegen massiv der Gefahr, mehr als die geforderten acht
       Stunden am Bildschirm ranzu(g)klotzen.
       
       Zum Risiko gehören vor allem die Mitbewohner des Office, [1][in erster
       Linie die Kinder]. Ein Unternehmensberater, der ein Unternehmen bei der
       Einführung des Homeoffice beriet, hatte auch für die Beschäftigten einen
       Rat: „Schließen Sie Verträge mit ihrem Kind ab, wann Arbeitszeit und wann
       Spielzeit ist.“ Was tun, wenn der Sohn, damals gerade zwo, partout nicht
       vertragstreu sein will?
       
       Das Virus hat den Büroalltag momentan mächtig verändert. Nicht nur [2][die
       weltweiten Lieferketten sind gebrochen], auch die alten Bürogesetzestafeln.
       Was gestern nicht sein konnte, ist heute geradezu gefordert. Die Quote der
       Homeoffice-Berechtigten gilt nicht mehr. Ein wenig Anarchie liegt in der
       Luft. Es gibt plötzlich Wichtigeres, als die Umsatzziffer nach oben zu
       treiben. Die Kurve der Infizierten flach zu halten, ist das Gebot der
       Stunde.
       
       In den Unternehmen, die dem Autor dieser Zeilen zugänglich sind (es sind
       Großunternehmen), ist gegenwärtig ein Strukturumbruch im Gange, den das
       Virus wohl verschärfen wird. Die klassische Arbeiterklasse wird langsam
       abgewickelt, das Backoffice abgespeckt, die gesuchten Spezialist*innen für
       künstliche Intelligenz, autonomes Fahren, die neuen Antriebstechniken und
       Industrie-4.0-Lösungen werden geradezu umschmeichelt. Die Gehälter der
       dringend Gesuchten fangen bei 100.000 Euro im Jahr an; keine schlechte
       Hausnummer für Leute, die noch zwei Monate vorher Studenten waren.
       
       ## Für Fließbandarbeiter unmöglich
       
       Die in Abwicklung begriffene Arbeiterschaft bekommt dagegen ihr
       Monatsgehalt und ihre Wochenarbeitszeit gekürzt. Die Betriebsräte
       versuchen, Verträge auszuhandeln, die anstehende Kündigungen möglichst
       lange ausschließen. Homeoffice ist für in Fertigungs- und
       Vorfertigungsbereichen Arbeitende von der Sache her unmöglich: Aus einer
       auf räumliches Nebeneinander verwiesenen Arbeitsteilung kann keiner
       aussteigen. Neidisch schaut man hier auf die angeblich privilegierten
       Angestellten.
       
       Die machen gegenwärtig ihre eigene böse Erfahrung. Im Backoffice schlägt
       der Algorithmus zu. Die Büros, neudeutsch Corporate Center, schlank zu
       machen ist angesagt. Alle Großen befolgen es: BASF, Bayer, Daimler,
       Deutsche Bank, Lufthansa, SAP, Siemens. Seit Mitte letzten Jahres häufen
       sich die Meldungen über Personalabbau in Tausendergröße.
       
       Die den Produktionsbereichen geläufige Erfahrung müssen die Angestellten in
       den administrativen Bereichen nun ebenfalls machen: Jede standardisierte,
       repetitive Tätigkeit lässt sich automatisieren. Der Algorithmus prüft, ob
       alle Bewerbungsunterlagen vorhanden sind, ob ein Zahlendreher eine
       Überweisung blockiert, ob der Kunde zu Recht eine Reklamation geltend
       macht. Die klassischen Angestelltenabteilungen sind betroffen, Controlling,
       Personalverwaltung, Finanzbuchhaltung. Das Virus wirkt wie eine
       Beschleunigung dieser Entwicklung, das Homeoffice wie eine Zwischenstation,
       bis der administrative Vorgang endgültig automatisiert werden kann.
       
       Die gewöhnlichen Angestellten wiederum beneiden die hoch Qualifizierten:
       Bekommen die auf ihren schicken Büroetagen nicht alles in den Hintern
       geschoben? Man fühlt sich dort wahrlich wie in einer anderen Welt. Die alte
       Teeküche hat sich zu einem Bistro gewandelt mit Barhocker, Hochtisch, Latte
       macchiato, Espresso und Earl Grey zur kostenlosen Auswahl. Die
       Rückzugsbereiche in den Vorräumen mit ihren roten Couchgarnituren und den
       hohen Rücken- und Seitenwänden sollen in intimer Atmosphäre berufsbezogene
       Kommunikation stimulieren.
       
       ## Yoga und Empowerment
       
       Hier auf diesen Etagen wird kein Beschäftigter vom Chef gehindert, sich
       wegen Corona in die noch intimeren eigenen vier Wände zurückzuziehen. Es
       gibt auch gar keine Chefs mehr, nur noch Scrum-Master, die für Empowerment
       und Agilität sorgen sollen. Ein kostenloses Fitnesscenter gehört zum
       Bürokomplex, Yogakurse für Schwangere werden angeboten, der Friseurbesuch
       in der Mittagspause ist kein Problem.
       
       Die Klassengesellschaft der abhängig Beschäftigten ist in sich noch mal
       gegliedert, und die „Gesellschaften des Zorns“ haben in den Betrieben ihren
       Unterbau. Es gärt hier mächtig unter der Decke. Wahrscheinlich ist an dem
       zu Tode gerittenen Theorem von Basis und Überbau doch etwas dran.
       
       Die AfD, der „gärige Haufen“ (Gauland), möchte gerne als Heldin der
       Arbeiterklasse wahrgenommen werden. Die Institutionen der
       Betriebsverfassung haben ordentlich zu tun, die Bande von den Betriebstoren
       fernzuhalten und zugleich die viel beschworene Transformation halbwegs
       zivil über die Bühne zu bringen. Die Geschäftsführer in ihrer Weisheit
       sehen wiederum nicht, wie ihre Politik der würdelosen Verabschiedung der
       Arbeiterschicht dazu taugt, diese den Rechten in die Arme zu treiben.
       
       Ob das Virus die feinen Unterschiede unter den Beschäftigten aufhebt und
       uns in der Sorge um unsere Gesundheit alle gleichmacht? Man hat seine
       Zweifel. Was in der individualisierten betrieblichen Welt eingeübt wird,
       der spitze Ellbogen, ist jetzt im Supermarkt Einkaufspraxis geworden: Wenn
       jeder an sich denkt, ist an alle gedacht, heißt das Prinzip.
       
       25 Mar 2020
       
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