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       # taz.de -- Humanitäre Katastrophe im Gazastreifen: „Es geht hier nicht um Konkurrenz“
       
       > In einem offenen Brief fordert unter anderem die Hilfsorganisation Medico
       > International die Schließung der Gaza Humanitarian Foundation. Warum?
       
   IMG Bild: Mit einem Karton der Gaza Humanitarian Foundation unter dem Arm: Menschen nahe dem Hilfszentrum in Zentralgaza
       
       Jerusalem taz | Eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen, die in Gaza
       tätig sind, erheben in einem [1][offenen Brief] schwere Vorwürfe gegen die
       von Israel unterstützte Hilfsstiftung Gaza Humanitarian Foundation (GHF)
       und fordern die Schließung derer Verteilstellen. Wer sich an deren
       Operationen beteilige, riskiere, gegen das internationale Recht zu
       verstoßen, so die NGOs. An der Forderung gab es auch Kritik. Die taz hat
       mit Riad Othman, Nahostreferent der unterzeichnenden NGO Medico
       International, gesprochen.
       
       taz: Herr Othman, Sie sprechen in dem Brief von einer „Militarisierung der
       Hilfe“. Was meinen Sie konkret damit? 
       
       Riad Othman: Die Gaza Humanitarian Foundation arbeitet mit der israelischen
       Armee und privaten US-Sicherheitsfirmen zusammen. Sie führt ihre
       Operationen unter Aufsicht des israelischen Militärs durch. Es handelt sich
       also nicht um einen neutralen, humanitären Akteur, sondern um eine
       intransparente Stiftung, die in enger Kooperation mit einer der
       Konfliktparteien an wenigen Standorten „Hilfe“ bereitstellt.
       
       taz: Überwachte oder begleitete das israelische Militär nicht auch
       Hilfslieferungen von anderen Hilfsorganisationen? 
       
       Othman: Nein, sie wurden nicht vom Militär begleitet. Es gab das sogenannte
       deconflicting, was in Kriegsgebieten üblich ist. Das heißt, dass mit der
       Armee koordiniert werden muss, auf welchen Routen Hilfskonvois sicher
       passieren können. Das ist etwas anderes, als zum Beispiel die biometrischen
       Daten von Hilfesuchenden aufzunehmen, wie die GHF es ankündigte.
       
       taz: Das schreiben Sie auch in Ihrem Brief. [2][Aber die Gaza Humanitarian
       Foundation sagt, dass sie es gerade nicht tut.] Dass sie keine Biometrie
       und keine Augenscanner am Eingang der Verteilstellen einsetzt. 
       
       Othman: Es war aber intendiert, dass sie sie einsetzen. Auf den Videos habe
       ich das auch tatsächlich nicht gesehen. Dabei wird aber aus den Aufnahmen
       klar, dass die Prinzipien der humanitären Hilfe dabei völlig missachtet
       werden. Es ist im Grunde ein Rennen wie in dem Film „The Hunger Games“, wo
       die Stärksten und Schnellsten vielleicht etwas von der Hilfe bekommen.
       Üblich wäre, dass man [3][nach Bedürftigkeit] verteilt, in einem möglichst
       würdevollen Rahmen. Und das ist hier ganz klar nicht der Fall.
       
       taz: In dem Brief beklagen Sie ebenso, dass auf dem Weg zu diesen
       Verteilstellen [4][viele Menschen durch Schüsse getötet] werden. Laut
       Augenzeugenberichten kommen die Schüsse oft von der israelischen Armee.
       Kann die GHF dafür etwas? 
       
       Othman: Die GHF hat sich darauf eingelassen, unter der Kontrolle der Armee
       an vier Verteilungspunkten in Gaza Hilfe auszugeben. Die Menschen werden
       dabei gezwungen, einen Weg zurückzulegen, der lebensgefährlich sein kann.
       Das übliche Prozedere wäre, dass die Hilfe zu den Menschen gebracht wird,
       so wie es war, als man unter dem früheren System 400 Verteilstellen hatte.
       Was wir jetzt sehen, ist die potenzielle Komplizenschaft darin, dass
       Menschen sich zwangsweise fortbewegen müssen im Gazastreifen.
       
       taz: Sie erwähnen in dem Schreiben [5][das Völkerrecht. Doch dieses regelt
       bewaffnete Konflikte zwischen Staaten.] 
       
       Othman: Die Genfer Konvention (ein Abkommen des humanitären Völkerrechts;
       Anm. d. Red.) regelt auch Konflikte zwischen staatlichen und
       nicht-staatlichen Akteuren. Das Römische Statut und die
       Völkermordkonvention gelten ebenfalls für den Kontext in Gaza. Wenn einer
       Organisation oder einer Stiftung nachgewiesen wird, dass sie mit der
       israelischen Armee kooperiert haben, dann ist es natürlich eine mögliche
       Beihilfe. Das haben am Ende Gerichte zu entscheiden, nicht wir, das ist
       klar. Aber der Anfangsverdacht liegt ja nahe. 
       
       taz: Wie lauten Ihre Vorwürfe konkret? 
       
       Othman: Dass Personen und Unternehmen, die sich an diesen Operationen
       beteiligen, Beihilfe zu Kriegsverbrechen leisten. Eine Instrumentalisierung
       von humanitärer Hilfe für politische oder militärische Zwecke. Dass sie am
       Aushungern als Kriegsmittel beteiligt sind – und de facto an der
       Verweigerung von humanitärer Hilfe. Und zwar, indem sie dem israelischen
       Staat ermöglichen, den Anschein zu wahren, dass es humanitäre Hilfe in Gaza
       gebe. Humanitäre Hilfe nach internationalen Standards gibt es derzeit
       nicht.
       
       taz: Diese Zentren liefern jedoch etwas Hilfe. Sie aufzusuchen, ist
       gefährlich. Und sicherlich kommt auch darüber zu wenig im Gazastreifen an –
       aber immer noch etwas. Ist es unter den aktuellen Umständen nicht
       unverantwortlich, eine Schließung zu fordern? 
       
       Othman: Nein, ich finde es unverantwortlich, dass man Israels Regierung
       erlaubt, solche Rechtsbrüche zu begehen. Denn das müsste ja nicht der Fall
       sein. Das geschieht durch die passive, in Teilen auch aktive Unterstützung
       von Staaten wie den USA, wie der Bundesrepublik Deutschland. Es sind
       Rechtsbrüche, die man der israelischen Regierung durchgehen lässt. Das ist
       unverantwortlich.
       
       taz: Die anderen Hilfsorganisationen können kaum arbeiten, seitdem das neue
       Hilfssystem im Einsatz ist. Könnte man aus Ihrer Kritik auch ableiten, dass
       so Konkurrenten außer Gefecht gesetzt werden sollen? 
       
       Othman: Wer so etwas behauptet, müsste nachweisen, dass die GHF mit
       denselben Geldern operiert, die zuvor anderen Organisationen zugutekamen.
       Es geht hier nicht um Konkurrenz. Medico International hat wegen der Gaza
       Humanitarian Foundation keinen Cent weniger Geld. Uns betrifft das
       finanziell gar nicht. Was uns sehr wohl betrifft, ist die Blockade durch
       die israelische Regierung und im Prinzip diese Nebelkerze, dass dort
       humanitäre Hilfe über diese Stiftung geleistet wird.
       
       taz: Was möchten Sie am Ende mit dem Brief erreichen? Geht es dabei nur um
       die Schließung der GHF-Zentren? 
       
       Othman: Wir wollen erreichen, dass das etablierte, seit Monaten von Israel
       blockierte Hilfssystem wieder instandgesetzt wird. Dass der humanitäre
       Zugang nach Gaza ungehindert und im entsprechenden Umfang zugelassen wird.
       Dass humanitäre Hilfe bedarfsgerecht und nach den vereinbarten
       internationalen Standards zugelassen wird. Und das tut die GHF nicht, das
       tut auch die israelische Armee nicht.
       
       taz: Denken Sie, der Brief wird etwas erreichen? 
       
       Othman: Die Blockade hat es auch gegeben, als noch internationale
       Organisationen operiert haben. Der humanitäre Zugang nach Gaza muss
       geöffnet werden, unabhängig davon, ob die Gaza Humanitarian Foundation
       weiterarbeitet. Uns geht es in dem Brief um zwei zentrale Punkte:
       humanitäre Hilfe nach internationalen Standards gemäß dem Bedarf der
       palästinensischen Bevölkerung durchzusetzen und vor der möglichen
       Beteiligung an schweren Verbrechen zu warnen. Es ist eine politische
       Entscheidung unserer Regierung, Israel durchgehen zu lassen, Gaza die Hilfe
       zu verweigern und alleine im Zusammenhang mit den Verteilungen der GHF
       mehrere Hundert Menschen zu erschießen. Und es ist ein politisches
       Versagen.
       
       1 Jul 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://ccrjustice.org/sites/default/files/attach/2025/06/GHF-Letter-Sign-on_ww.pdf
   DIR [2] /Umstrittenes-Hilfswerk-in-Gaza/!6092687
   DIR [3] /Krise-im-Gazastreifen-/!6090925
   DIR [4] /Verteilungszentren-in-Gaza/!6088611
   DIR [5] /Israel-Iran-Krieg/!6094306
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Serena Bilanceri
       
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