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       # taz.de -- Hundertjahrfeier der chinesischen KP: Die Partei hat immer recht
       
       > Chinas KP ist in ihren Phrasen erstarrt. Ein Besuch in der Kaderschmiede
       > der Kommunisten in Jinggangshan, wo einst Mao den Volksaufstand plante.
       
       Nur die loyalsten unter Chinas Parteikadern pilgern in die „Wiege der
       Revolution“, um sich in der Lehre von Generalsekretär Xi Jinping
       unterrichten zu lassen. Ke Hua, ein zierlicher Mann mit roter Krawatte und
       weit geschnittenen Hosenbeinen, empfängt vor dem riesigen Eingangstor der
       Führungsakademie in Jinggangshan. „Parteigeschichte zu lernen ist ein Muss
       für jedes Kind in China. Wenn wir sie nicht ausreichend studieren, dann
       endet das im Desaster“, sagt Ke sichtlich stolz.
       
       Hier, in dem subtropischen Bergregenwald der Provinz Jiangxi, wo sich einst
       Mao Tse-tung mit seinen roten Truppen zurückgezogen hat, um den
       kommunistischen Volksaufstand zu planen, werden nun mehr als 70 Jahre
       später Parteikader ideologisch auf Spur gebracht.
       
       Am 1. Juli feiert die Kommunistische Partei Chinas (KP) ihr hundertjähriges
       Gründungsjubiläum. Gegründet wurde die Partei allerdings am 23. Juli 1921
       aus dem Untergrund heraus. Das offizielle Datum der Parteigründung wurde
       erst sehr viel später von Mao willkürlich festgelegt. Die heutige KP achtet
       strikt darauf, dass weiterhin „eine korrekte Sicht auf die
       Parteigeschichte“ vorherrscht, wie Xi es nannte.Die einst lose organisierte
       Truppe ist längst auf 92 Millionen Mitglieder angewachsen. Sie ist nicht
       nur die größte Partei weltweit, sondern in ihrem Machterhalt wohl auch die
       erfolgreichste.
       
       Unter [1][Xi Jinping], dem mächtigsten chinesischen Führer seit Landesvater
       Mao, hat die Partei nach einer kurzen Phase der Öffnung wieder die
       Kontrolle über sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens erlangt. Zeit
       also für eine Bestandsaufnahme, um einerseits hinter die Propaganda-Fassade
       zu blicken – und ebenso auf die inszenierte Oberfläche der KP.
       
       ## Die Partei der Phrasendrescher
       
       Der Staatsrat in Peking hat zur Pressereise nach Jinggangshan geladen, um
       ausländischen Journalisten ihre Sicht der Dinge darzulegen. Doch wie sich
       bereits nach wenigen Terminen zeigen wird, sind Nuancen und intellektuelle
       Selbstreflexion im China der Gegenwart längst unmöglich geworden. Die
       perfekt choreografierte Inszenierung, gepaart mit einer zutiefst
       verinnerlichten Selbstzensur, wirkt wie eine unsichtbare Mauer, an der jede
       kritische Frage abperlt.
       
       Wer es dennoch probiert, gerät in einen Mahlstrom von Orwell’scher
       Absurdität: Bis zur letzten Silbe lesen Lokalpolitiker während der
       Pressekonferenzen vollkommen inhaltsbefreite Phrasenhülsen vom Manuskript
       ab. „Wir sollten unsere roten Gene an die nächste Generation weitergeben!“
       lautet etwa ein solcher Satz oder: „Hier können Sie den revolutionären
       Geist von Jinggangshan erleben.“ Auf eingeworfene Fragen gehen sie nicht
       einmal im Ansatz ein. An einem ehrlichen Austausch ist der Parteiapparat
       längst nicht mehr interessiert. Ausländische Journalisten dürfen in diesem
       Zirkus lediglich beobachten, staunen und lernen.
       
       Etwa von den ausgewählten Parteikadern, die in die Akademie nach
       Jinggangshan geschickt werden, um in dem glatt gefliesten Gebäudekomplex
       mit seinen Dutzenden Vortragszimmern, Bibliotheksarchiven und der
       angeschlossenen Gartenanlage für die weitere politische Laufbahn
       vorbereitet zu werden. Was sich wie ein staatlich verordneter
       Betriebsausflug anhört, ist in Wirklichkeit der Versuch der chinesischen
       Regierung, die ideologischen Zügel anzuziehen.
       
       In einem der Studierzimmer beginnt ein Parteihistoriker mit heiserer
       Raucherstimme seinen vor Pathos triefenden Vortrag: Man solle dem Ruf Xi
       Jinpings folgen, die „roten Gene“ der Gründerväter weiterzutragen. Während
       auf einem riesigen LED-Display Zitate von Xi erscheinen, hört das Publikum
       scheinbar regungslos zu. Die meisten in ihnen sind Männer im gehobenen
       Alter, viele haben Thermoskannen mit grünem Tee auf ihren Schreibtisch
       gestellt.
       
       Darunter auch der 55-jährige Li Guobiao. Er trägt das Parteiabzeichen auf
       der Brust und jene blaue Funktionsjacke, in die auch Xi Jinping bei
       öffentlichen Auftritten gekleidet ist. Li wurde von seiner Firma nach
       Jinggangshan entsandt, einem staatlichen Kohlebetrieb aus der westlichen
       Shanxi-Provinz. Ob ihm Mao oder Xi wichtiger sei? „Das übergeordnete
       Prinzip der Partei ist Marxismus – ganz gleich ob unter [2][Mao Tse-tung],
       Deng Xiaoping oder nun Xi Jinping“, sagt er. Solch ausweichende Antworten
       werden wir in den kommenden Tagen noch viele hören.
       
       ## Auf dem Weg zu Nordkorea light?
       
       Die Volksrepublik China wirkt in jenen Momenten weit entfernt von den
       gläsernen Bürotürmen Schanghais, den innovativen Start-ups in Peking oder
       den Selfmade-Millionären Shenzhens. Während das Land wirtschaftlich weiter
       auf der Überholspur bleibt, wandelt es sich unter Xi Jinping politisch
       zunehmend zu einer Art „Nordkorea light“.
       
       Der 67-Jährige hat ein paranoides Gesellschaftsklima erschaffen, das in
       Grundzügen an die kollektive Psychose während der Kulturrevolution
       erinnert. Die Kommunistische Partei zu kritisieren, ja nur einzelne
       Regierungsmaßnahmen in Zweifel zu stellen, ist mittlerweile „regelrecht
       gefährlich geworden“, wie ein europäischer Botschafter kürzlich unter
       Hinweis auf seine Anonymität sagte.
       
       Gerne möchte man wissen, was jene zunehmend ideologische Partei der
       chinesischen Jugend noch zu bieten hat. Doch über offizielle
       Interviewanfragen aufrichtige Antworten zu erhalten ist praktisch
       unmöglich geworden.
       
       In privaten Zusammenkünften, wenn die gesellschaftlichen Konventionen wie
       Masken fallen, lassen sich jedoch immer wieder kritische Töne vernehmen.
       „Auch auf uns wirkt die Propaganda seltsam“, meint etwa die Journalistin
       eines Staatsmediums: „Das ist erst seit einigen Jahren so extrem geworden.“
       Eine Übersetzerin in ihren Dreißigern sagt: „Ein Land kann man nicht nur
       mit Ideologie führen.“ Auch wenn sie keinen Namen nennt, wird mehr als
       deutlich, gegen wen sich ihre Kritik richtet. Dann fügt sie noch schnell
       an: „Ich glaube, ich sollte jetzt besser aufhören zu reden.“
       
       Doch gleichzeitig genießt Xi Jinping unter vielen Chinesen eine durchaus
       hohe Beliebtheit, und das aus gutem Grund. Der Autokrat hat mit seinem
       Antikorruptionskampf dekadenten Parteikadern einem Riegel vorgeschoben und
       die Armutsbekämpfung zur Priorität ausgerufen. Auch die Bürokratie ist
       unter Xi ungemein effizienter geworden, die urbanen Städte grüner, die Luft
       sauberer und der Verkehr geordneter.
       
       Doch Chinas mächtiger Führer wird gleichzeitig von einer tiefen Kontrollwut
       angetrieben. Eine seiner essenziellen Lehren geht auf die Sowjetunion
       zurück, die laut Xi nicht wegen zu starker Repression untergegangen ist,
       sondern im Gegenteil aufgrund zu lascher Kontrolle. Dasselbe Schicksal
       möchte der Parteichef mit aller Macht verhindern.
       
       Im April hat die Partei beispielsweise eine Telefon-Hotline eingerichtet,
       damit aufmerksame Bürger „historische Nihilisten“ bei den Behörden melden
       können. Jeder, der also in Äußerungen vom offiziellen Parteinarrativ
       abweicht, muss längst mit Repressalien rechnen.
       
       Und wie massiv die Geschichtsschreibung nach ideologischen
       Wunschvorstellungen zurechtgemeißelt wird, wird für jeden offensichtlich,
       der in Schulbüchern blättert, die Onlinesuchmaschinen durchforstet oder die
       offiziellen Parteitexte liest. Die blutige Niederschlagung der Pekinger
       Studentenbewegung am [3][Tiananmenplatz] 1989 ist ohnehin vollständig aus
       dem öffentlichen Diskurs gelöscht.
       
       Doch auch die Kulturrevolution wird mittlerweile zur harmlosen
       Übergangsperiode designiert. Und dass Mao Tse-tung mit seiner
       fehlgeleiteten Wirtschaftspolitik die vielleicht schlimmste
       menschengemachte Hungersnot des 20. Jahrhunderts ausgelöst hat, wird im
       offiziellen Geschichtsbuch mit keinem Wort mehr erwähnt. Stattdessen heißt
       es: „Viele seiner richtigen Ideen zum Aufbau des Sozialismus wurden nicht
       gründlich umgesetzt, was zu internen Turbulenzen führte“.
       
       ## Die Urzelle der KP: Ein Backsteingebäude
       
       Ebenfalls wenig dürfte ins nationalistische Geschichtsbild passen, dass das
       erste Treffen der KP ausgerechnet im französischen Kolonialviertel
       Schanghais abgehalten wurde. Fast schon versteckt liegt das einstöckige
       Backsteingebäude, nur ein paar chinesische Touristen lassen sich an diesem
       sonnigen Frühlingsvormittag mit ihren Smartphones dort fotografieren.
       
       Der Zutritt zu dem Museum ist derzeit untersagt: Offiziell werden
       Renovierungsarbeiten durchgeführt, doch ganz offensichtlich möchte die
       Staatsführung wenig Aufmerksamkeit auf jenen Ort lenken, der in direkter
       Nachbarschaft von Juwelieren, Luxusdesignern und geparkten Lamborghinis
       liegt. Es ist ein überaus ironischer Wink des Schicksals: Der erste
       Parteikongress der KP ist einhundert Jahre später im Epizentrum des
       chinesischen Turbokapitalismus gelandet.
       
       Stattdessen lässt der Staatsapparat ganze Reisebusse ins
       [4][Revolutionsmuseum nach Jinggangshan] karren. Mit roten Kappen, roten
       Halstüchern und roten Flaggen strömen sie auf den postmodernistischen
       Neubau zu, der sich an einen dicht bewaldeten Berghang schmiegt.
       
       Auf 10.000 Quadratmetern werden hier Relikte der kommunistischen Garden
       präsentiert: zerlumptes Gewand, primitive Flinten und aus Bambusschilf
       geschnitzte Messer. In den aufwendig choreografierten Videosequenzen und
       nachgestellten Bühnenbildern wird der Heldenmythos der kommunistischen
       Partei zelebriert. Die Tour-Guides, gekleidet in olivgrüne
       Soldatenuniformen, erzählen Märtyrergeschichten von Kadern, die den Sieg
       der kommunistischen Revolution mit ihrem eigenen Blut auf die Straßen der
       Dörfer schrieben. Parteigeschichte erinnert in jenen Momenten vor allem an
       einen spirituellen Gottesdienst.
       
       Auch die 65-jährige Li ist mit ihrer Jugendfreundin aus ihrer Heimatstadt
       Urumqi angereist, um einmal „die Geburt der Roten Armee zu erfahren“.
       Gemeinsam unternehmen die zwei Rentnerinnen einen „patriotischen“ Roadtrip
       durchs Land, der sie bis auf die tropische Insel Hainan führen soll.
       „Bislang wussten wir über Jinggangshan nur aus den Geschichtsbüchern. Es
       war ein Schock für uns zu sehen, unter welch harschen Umständen unsere
       Vorfahren gelebt haben“, sagt die Han-Chinesin, die nur ihren Nachnamen
       nennen will. Welche Lehre sie aus dem alten Revolutionsgeist zieht? „Wir
       Chinesen müssen uns vereinigen. Nur so können wir unsere Ziele erreichen“,
       sagt sie.
       
       1 Jul 2021
       
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   DIR Fabian Kretschmer
       
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