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       # taz.de -- Hunderttausende dürfen nicht wählen: Keiner fragt sie!
       
       > Ausschließlich deutsche Staatsbürger*innen sind wahlberechtigt. Über
       > ein Fünftel der erwachsenen Berliner*innen kann deshalb nicht
       > abstimmen.
       
   IMG Bild: Alltagsszene in Neukölln, auch hier leben viele, die am Sonntag nicht wählen dürfen
       
       Berlin taz | Über ein Fünftel der erwachsenen Berliner*innen darf bei
       den bevorstehenden Wahlen eines neuen Landesparlaments nicht mit abstimmen.
       Von den Ende 2020 genau 3.162.489 mindestens 18 Jahre alten
       Einwohner*innen der Hauptstadt sind 691.796 keine deutschen
       Staatsbürger*innen. [1][Der RBB gibt die Prozentzahl] derjenigen, die nicht
       wählen dürfen, sogar mit 34,5 Prozent, an – und rechnet dabei Kinder unter
       18 Jahren sowie Menschen, denen etwa als Straftäter das Wahlrecht entzogen
       wurde, dazu.
       
       Wahlberechtigt sind bei den Abgeordnetenhauswahlen ebenso wie bei denen zum
       Bundestag ausschließlich deutsche Staatsbürger*innen. Bei Kommunalwahlen,
       in Berlin die Bezirkswahlen, dürfen immerhin EU-Ausländer*innen mitwählen,
       sofern sie seit mindestens drei Monaten am Wahlort ihren Hauptwohnsitz
       haben. Viele oft erheblich länger in Berlin lebenden Ausländer*innen
       aus Nicht-EU-Staaten sind dagegen von sämtlichen Wahlen ausgeschlossen,
       ebenso auch von der Teilnahme an Bürgerentscheiden wie dem Volksentscheid
       „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, über den bei der diesjährigen Wahl mit
       abgestimmt wird.
       
       Je nach Wahlkreis heißt das für manche der Kandidat*innen: Sie bestreiten
       ihren Wahlkampf in Kiezen, wo fast jede*r zweite Volljährige nicht
       mitwählen darf.
       
       Vom Soldiner Kiez bis zum Gesundbrunnen im Wedding etwa lächelt Melis Yeter
       von zahlreichen rot-weißen Wahlplakaten. Die 27-Jährige kämpft hier ihren
       ersten Wahlkampf, für die SPD. Ihren Wahlkreis – Wahlkreis 6 im Bezirk
       Mitte – hat Yeter von Ralf Wieland übernommen. Der gestandene
       Sozialdemokrat und langjährige Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses
       hatte hier 2016 mit 25 Prozent der Erststimmen das Direktmandat erlangt.
       
       ## Ein Rechenbeispiel
       
       Aber was bedeutet dieser Stimmenanteil hier konkret? Etwa 44 Prozent der
       erwachsenen Bewohner*innen dieses Wahlkreises dürfen als
       Ausländer*innen bei der Wahl des Abgeordnetenhauses nicht mitwählen.
       Wahlberechtigt sind also etwa 56 Prozent der Volljährigen, 27.576 Menschen.
       Davon haben aber nur 52,6 Prozent tatsächlich an der Wahl teilgenommen:
       14.504 Personen. Von jenen wiederum hat ein Viertel seine Erststimme Ralf
       Wieland gegeben: Das sind 3.636.Wähler*innen. Wielands 25 Prozent bilden
       damit die Entscheidung von knapp 7,5 Prozent der erwachsenen
       Einwohner*innen des Wahlkreises ab.
       
       Wielands Nachfolgerin Melis Yeter, gebürtige Weddingerin und Tochter aus
       der Türkei eingewanderter Eltern, ist bewusst, wie viele Menschen in ihrem
       Wahlkreis gar nicht wählen dürfen. Täglich begegneten ihr Menschen, die
       sagten: „Ich würde Sie ja gerne wählen, aber ich darf nicht!“, erzählt sie.
       
       In manchen Kiezen ihres Wahlkreises liegt die Zahl der nicht
       Wahlberechtigten bei über 60 Prozent. Solche Zahlen gibt es nicht nur im
       Wedding: Ähnliche Gebiete gibt es etwa in Spandau, Reinickendorf und
       Neukölln. Aber auch in Lichtenberg liegt in einigen Wahlbezirken der Anteil
       der Einwohner*innen mit ausländischer Staatsbürgerschaft, die über
       Bundes- und Landtag nicht mitentscheiden dürfen, bei über 60 Prozent.
       
       ## Ein „Herzensanliegen“
       
       Apropos Chancengleichheit: „Soziale Ungleichheit abschaffen!“, das sei für
       sie der Kern sozialdemokratischer Politik, sagt Melis Yeter. Ein „Wahlrecht
       für alle – zunächst auf Kommunalebene“ sei ihr deshalb ein
       “Herzensanliegen“.
       
       Im Wahlprogramm ihrer Partei ist die Forderung nach einem kommunalen
       Wahlrecht auch für Nicht-EU-Bürger*innen enthalten – ein Ziel, das die SPD
       erstmals bereits in den 1980er Jahren formulierte. Zu seiner Umsetzung
       müsste allerdings das Grundgesetz geändert werden, das das Wahlrecht an die
       deutsche Staatsbürgerschaft koppelt. Dafür bedarf es einer
       Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Bundestags und der Stimmen des
       Bundesrats – auf Landesebene ist das Ziel also nicht realisierbar.
       
       „Wer mir den Flyer zurückgeben will, weil sie oder er nicht wählen darf,
       dem sage ich: Behalten Sie ihn bitte trotzdem. Ich will auch Sie vertreten
       und für Sie da sein. Wenn Sie ein Anliegen haben, dann schreiben Sie mir
       oder rufen mich an“, sagt Melis Yeter. Denn sie wolle auch die Probleme der
       Nicht-Wähler*innen anhören, auch sie politisch repräsentieren. Und sie so
       ermutigen, „zu partizipieren“: „Denn Politik betrifft uns alle!“
       
       19 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.rbb24.de/content/rbb/r24/politik/wahl/abgeordnetenhaus/agh-2021/beitraege/wahlberechtigte-abgeordnetenhaus-berlin-wahlrecht.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alke Wierth
       
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