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       # taz.de -- ICE soll „Anne Frank“ heißen: Geht es noch geschmackloser?
       
       > Die Bahn will einen ICE „Anne Frank“ nennen. Sie vermarktet das Mädchen,
       > mit dessen Deportation die Reichsbahn gutes Geld verdiente.
       
   IMG Bild: Möchte die Bundeswehr vielleicht ihren Übungsplatz in Bergen nach Anne Frank benennen?
       
       Die Lokomotiven und Triebwagen der Deutschen Bahn tragen Nummern. Das ist
       für die Verwaltung und technische Instandsetzung praktisch, aber für den
       Kunden ziemlich unpersönlich.
       
       Die Bahn gibt ihren Flaggschiffen – den ICE-Triebzügen – deshalb gerne
       Namen. Das waren bisher Städtebezeichnungen. Ob es einen messbaren
       PR-Effekt gibt, wenn man mit „Cottbus“ von Köln nach Bielefeld reist, mag
       dahingestellt sein; Cottbus gefällt es vermutlich. Nun aber sind die
       Bahn-Werber auf die Idee verfallen, der neuesten ICE-Generation vom Typ 4,
       die die Baureihennummer 412 trägt, die Namen von Persönlichkeiten der
       Geschichte zu verleihen. Kann man machen.
       
       Bei der Namenswahl sollten die Reisenden mit einbezogen werden. Deshalb bat
       die Bahn in großflächigen Anzeigen das Publikum um Vorschläge. 19.000 davon
       trafen ein, denn Preise gab es auch zu gewinnen. Kundenbindung, Sie
       verstehen, auch wenn die letzte Entscheidung selbstverständlich beim
       Unternehmen lag.
       
       Und [1][das Ergebnis dieser letzten Entscheidung lautet nun]: Die Deutsche
       Bahn, ein Unternehmen im 100-prozentigen Besitz des deutschen Staates, will
       einem dieser schönen weißen Züge den Namen [2][„Anne Frank“] geben. Und das
       kann man nun wirklich gar nicht machen.
       
       ## Die Reichsbahn gab der SS Rabatt
       
       Anne Frank war ein Opfer des Rechtsvorgängers der Deutschen Bahn. Die
       Reichsbahn besorgte zunächst am 3. September 1944 ihre Deportation von
       Amsterdam, wo ihr Versteck aufgeflogen war, nach Auschwitz. An Bord waren
       1.019 Passagiere. Am 28. Oktober 1944 wurde sie zusammen mit 1.308 weiteren
       Frauen von Auschwitz in das KZ Bergen-Belsen verschleppt. Dabei war die
       Bahn sehr großzügig – gegenüber SS-Chef Heinrich Himmler. Für
       Massentransporte mit über 400 Teilnehmern berechnete sie der SS nur den
       halben Regeltarif. So kostete Anne Franks doppelte Verschleppung nur zwei
       Reichspfennige pro Kilometer.
       
       Es ist also so, dass sich die Bahn mit dem Namen eines im Alter von 15
       Jahren ermordeten jüdischen Mädchens schmücken möchte. Eines Mädchens, das
       ihr Vorgänger umzubringen half. Und nicht nur das: Werbung wird bekanntlich
       gemacht, um den Verkauf eines Produkts zu erhöhen. Um demzufolge mehr Geld
       verdienen zu können. Die Bahn möchte also mit Anne Frank Geld verdienen.
       Vielleicht war der Massentarif 1944 doch zu niedrig?
       
       Nein, antisemitisch ist das Verhalten der Bahn gewiss nicht zu nennen. Aber
       es zeugt von einer Geschmacklosigkeit, die sich nur mit Mühe unterbieten
       lässt. Versuchen wir es trotzdem: Möchte die Bundeswehr vielleicht ihren
       Übungsplatz in Bergen nach Anne Frank benennen? Das könnte der Truppe in
       der Öffentlichkeit doch eine viel wärmere, menschlichere Ausstrahlung
       bringen. Wie wäre es, wenn der Konzern Evonik-Degussa einer ihrer
       Chemikalien den Namen „Anne Frank“ verpassen würde? Blausäure wäre
       natürlich unpassend.
       
       ## Massenmord als Geschäftsmodell
       
       Oder könnte man nicht ernsthaft darüber nachdenken, ob die Firma Diehl
       Defense in ihre Großkalibermunition den Gruß „Dieses Geschoss wird Ihnen
       von Anne Frank präsentiert“ eingravieren lässt? Das wäre doch bestimmt eine
       Werbung, die ordentlich einschlägt.
       
       Die Entgleisung der Bahn bei der Namensgebung eines ICE-Zugs ist ein
       Zeichen für die wachsende Kommerzialisierung der Schoah. Bekanntlich lässt
       sich mit allem Geld verdienen, was auf eine gewisse Nachfrage stößt.
       
       Noch gibt es keine rostigen Stacheldrahtreste mit Echtheitszertifikat aus
       der KZ-Verwaltung zu erwerben. Aber dafür immerhin: Anne-Frank-Amulette für
       8 Euro 17 Cent, ein Anhänger in Herzform mit dem Bild des ermordeten
       Mädchens für 98 US-Cent oder ein Roman mit Sexszenen Anne Franks für 9,99
       britische Pfund. So wird der Massenmord zum Geschäftsmodell.
       
       Übrigens hat die Bahn ihre Wahl nach erster scharfer Kritik verteidigt.
       Anne Frank stehe für Toleranz und für ein friedliches Miteinander
       verschiedener Kulturen, und das sei „in Zeiten wie diesen wichtiger denn
       je“, heißt es da.
       
       Wenn es noch eines Beweises bedurfte, wie man mit einer richtigen
       Begründung alles falsch machen kann: Hier ist er.
       
       31 Oct 2017
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://inside.bahn.de/ice4-zugtaufe/
   DIR [2] /75-Jahre-Tagebuch-der-Anne-Frank/!5416125
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Klaus Hillenbrand
       
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